Wie fühlt sich eigentlich ein Land an, in dem seit 30 Jahren ein Diktator regiert, der jede Opposition unterdrückt, aber irgendwie doch nur ein Platzhalter ist bis zu dem Tag, an dem der benachbarte Diktator beschließt, das Land seinem Imperium einzuverleiben? Klingt fiktiv? Ist es aber nicht. Nicht ohne Grund wurde Alhierd Bacharevičs Roman „Europas Hunde“ in Belarus als „extremistisch” verboten, nachdem das Buch dort 2017 noch erscheinen konnte.

Und nicht ohne Grund lebt Alhierd Bacharevič im Exil. In jenem Europa, das in seinem Roman eine nicht unwesentliche Rolle als Gegenwelt spielt zu einem Belarus, das sich nach einem Krieg um das Jahr 2025 geradezu abgeschottet hat gegen die Welt da im Westen. Geradezu wieder zu Wildnis geworden ist wie in den beiden Romanteilen „Gänse. Menschen. Schwäne“ und „Der Neandertaler Wald“, zu einer Wildnis wie in alten russischen Märchen mit Wäldern voller Pandas, Suchtrupps und einer alten, heilkundigen Frau in einer Hütte am See, der Babka, die eines Tages entführt wird auf eine seltsame griechische Insel, wo ein komischer Kauz namens Maksim ein Mini-Belarus erschaffen will.

Doch die einzelnen Teile des Romans sind nur lose miteinander verknüpft. Jedes Mal scheint man einen völlig anderen Blick auf dieses Land hinterm Eisernen Vorhang zu bekommen, das sich in der letzten Geschichte, „Die Spur“ regelrecht aufgelöst hat und zu einem gesichtslosen Teil des russischen Imperiums geworden ist. Als hätte es eine eigene belarussische Kultur und Sprache nicht gegeben.

Wenn Bücher und Sprachen verschwinden

Es ist auch ein Roman um das Verlieren von Sprache und Identität. Ein Problem, das gerade Autoren haben. Denn für wen schreiben sie eigentlich, wenn die Sprache verloren geht, in der sie schreiben? Ein Motiv, das gerade den letzten Teil des Romans, „Die Spur“, dominiert, in der Skima, der die Identität eines in einem Berliner Billighotel Verstorbenen klären soll, nach Hamburg, Prag und Paris fährt, um dort in alten Buchläden, die praktisch nur noch von Leuten besucht werden, die selber Bücher schreiben, die Spuren des Namenlosen zu finden.

Doch irgendwie hat außer ein paar Verrückten um 2050 kein Mensch mehr Interesse an Büchern. Es ist eine sonderbare Welt, die Bacharevič zeichnet, irgendwie die logische Fortsetzung einer Gegenwart, die einfach stur auf falschen Gleisen weitergefahren ist. Andererseits so fremd, dass man sich darin nicht wiederfinden mag. Was auch daran liegt, dass Bacharevič das Europa der nahen Zukunft eben auch mit den Augen eines Autors aus Belarus betrachtet. Eines Autors, der selbst erlebt hat, wie seltsam die Welt wird, wenn eine Diktatur das Land formt und verformt und mit Kontrolle und Misstrauen überzieht. So, wie es der Erzähler in „Dreißig Grad im Schatten“ erlebt.

Darin soll er eigentlich nur eine Plastiktüte, deren Inhalt er nicht kennt, irgendwo in Minsk an ihm unbekannte Leute übergeben. Doch der Tag ist heiß, in seiner Phantasie spinnt er die ganze Zeit die Geschichte von Nils Holgersson und den Wildgänsen weiter, während ihm die Tüte mehrmals abhanden kommt und am Ende das Kontrollpersonal am Eingang der U-Bahn nur darauf wartet, dass er ihm in die Hände gerät.

Unter den Augen der Wächter

Es ist die unscheinbare Seite der Diktatur, die nicht ständig mit Panzern durch die Straßen fahren muss. Aber jederzeit kann, wer den Uniformierten nur verdächtig erscheint, aus der Menge geholt und durchleuchtet werden. Da schleicht sich das schlechte Gewissen ganz von allein in die Köpfe der Menschen. Der Mensch wird zum Wurmfortsatz der „imperialen Idee“. Er lebt in einer Welt, in der auch das unangepasste Verhalten sofort die Aufmerksamkeit der „Organe“ auf sich zieht.

So wie im Einstiegsteil dieses aus Romanen gebauten Romans, in dem der Erfinder einer Kunstsprache namens Balbuta zum Verhör auf die Polizei bestellt wird und dann auf Tonband im Grunde alles preis gibt, was eben noch sein Leben ausgemacht hat. Da dürfte sich manch älterer DDR-Bürger an die verbreitete Vorsicht vor den Menschen in Uniform erinnern. Und an das permanente Gefühl der Schuld, denn dazu genügten simple Abweichungen von der Norm, um sich – wie in Kafkas Geschichten – unverhofft Verdächtigung und Disziplinierung ausgesetzt zu sehen.

Kafka kommt übrigens auch drin vor. Es gibt dieses verblüffende Zusammentreffen von Motiven, wenn man völlig verschiedene Bücher nacheinander liest, auch wenn 2017 überhaupt kein Kafka-Jahr war. Aber Teresius Skima aus der Geschichte „Die Spur“ wird bei seinem Prag-Besuch auch auf den Neuen Jüdischen Friedhof geführt, wo Kafka begraben ist. Prag kommt gar nicht so zufällig vor in Bacharevičs Roman, genauso wenig wie Paris mit den Bouquinisten und der legendären Buchhandlung „Shakespeare and Company“.

Hier verrät ein Autor seine Wahlverwandtschaften. Und gerade die bücherlose Welt, durch die er seinen Skima reisen lässt, liest sich wie eine Klage um den Verlust der Welten, der mit dem Verlust der Bücher einher geht. Nicht auszudenken, dass dann in wenigen Jahrzehnten nur noch ein paar durchgeknallte Dichter ihre Texte schreiben und vor einem sensationsgeilen Publikum wie Exoten auftreten.

Wenn ein Land verschwindet

Und was passiert dann eigentlich mit den Menschen, die nicht mehr lesen? Die auch das Doppelbödige und Geheimnisvolle von Geschichten nicht mehr kennen, die beim Lesen im Kopf ihr Eigenleben entfalten? Denn Skima passiert ja genau das, als er beginnt, dem Leben des namenlosen Toten nachzureisen. Während der uralten Babka Benigna ihre Geschichte regelrecht passiert, aufgezwungen wird, weil Maksim und seine seltsamen Kumpel glauben, dass Geld sie zu allem berechtigt – auch zur Verfügung über andere Menschen.
Und keine Geschichte endet so schön klassisch, wie man das erwartet, sondern so wie bei Kafka: unerwartet oder völlig frappierend, weil sich die Helden vor den Augen der Leser auflösen, als wären sie gar nicht da gewesen.

Nur für die Hunde braucht man sehr viel Geduld. Denn deren Gebell taucht erst fast zum Schluss auf. Vielleicht als Halluzination. Vielleicht als Wirkung einer Pille. Wobei man das Bild auch auf die Bellos aus Russland beziehen kann und die geradezu mythische Lage des Landes, um das sich ja alle Teile des Romans drehen. Eines Landes, das – genauso wie die benachbarte Ukraine – um seine eigene Geschichte, Kultur und Sprache weiß. Sie aber vergisst, während der übermächtige Nachbar sich das Land einfach einverleibt und dessen Identität ausradiert.

Eine Gefahr, die 2017 natürlich längst in der Luft lag. Und die auch die Proteste gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen von 2020 befeuerte. Doch Diktatoren wissen schon vor der Wahl, wie viele Prozente sie kriegen. Und mit der Tötung einer wichtigen Oppositionellen im Buch nimmt Alhierd Bacharevič im Grunde auch die massiven Verfolgungen der belarussischen Opposition ab 2020 vorweg. Genauso wie mit dem kleinen Grüppchen Widerständiger im litauischen Exil oder der seltsamen Müllinsel, auf der Maksim sein neues Belarus errichten will.

Der Junge auf der Wildgans

Und so zufällig geistert ja auch die Geschichte von Nils Holgerson nicht durch das Buch. Denn wer aus dem überwachen Staat und seiner Bevormundung nicht fliehen kann, der träumt vom Flug mit den Gänsen und einem neuen Leben irgendwo da hinten in dem anderen Land, das in der Propaganda des eigenen Staates gar nicht mehr existiert.

Man gerät in mythische Welten, wenn Länder wieder hinter Wäldern und Mauern verschwinden. Genauso mythisch wie die Kunstsprache Balbuta, zu der es im Buch nicht nur ein kleines Wörterbuch gibt, sondern auch gleich noch mehrere Passagen, die der Leser sich selbst übersetzen kann, wenn er die Puste hat.

Wobei selbst die Puste von Thomas Weiler bewundernswert ist, der auch schon Alhierd Bacharevičs großen Autorenkollege Viktor Martinowitsch ins Deutsche übersetzt hat. Dessen grandioser Roman „Mova“ wird übrigens auch kurz zitiert.

„Europas Hunde“ ist inzwischen der 38. Band in der Sonar-Reihe von Voland & Quist, mit der die auffälligsten Autorinnen und Autoren aus dem großen osteuropäischen Literaturraum für deutschsprachige Leser erschlossen werden. Jedes einzelne Buch eine Entdeckung mit einer teils sehr vertrauten Welt – und jener Vieldeutigkeit, die entsteht, wenn Vergangenheit und Gegenwart, Erstarrung und Hoffnung aufeinander prallen. Und gerade Belarus war bis vor kurzem für viele (West-)Europäer genauso terra incognita wie die Ukraine. Was einiges von dem erklärt, was in den verwilderten deutschen Debatten rund die Übergriffgigkeit des Russischen Imperiums zu vernehmen ist.

Man sollte wirklich lieber die Autorinnen und Autoren aus diesen Ländern lesen, um überhaupt erst einmal ein Gefühl dafür zu bekommen, wie auch in diesen Ländern der Wille zu einem freien und selbstbestimmten Leben überdauert, während Männer in Uniform und mit der Macht ihrer Ämter versuchen, das Land in den Wäldern der Autokratie festzuhalten.

Alhierd Bacharevič „Europas Hunde“, Voland & Quist, Berlin und Dresden 2024, 36 Euro

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