Die Geschichte sitzt uns in den Knochen. Nichts verschwindet einfach so, auch nicht die Traumata unserer Großeltern und Eltern. Davon erzählen die Bücher von Cornelia Lotter, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, all jene Geschichten zu erzählen, die wir verdrängt haben, vergessen wollten. Oder die einige Leute vergessen machen wollen. Dabei kann jede Familie solche Geschichten erzählen. Oder auch eine Frau wie Veronika, die das Entscheidende über ihre Familie nie gewusst hat.
Und damit ist sie nicht allein. Auch wenn sie allein ist. Sie lebt noch immer als Single. Ist Jobcenter-Mitarbeiterin, aber ganz offensichtlich nicht glücklich mit ihrem Leben. Im Jahr 2022 nimmt sie wieder an den Leipziger Montagsdemonstrationen teil, die nichts mehr mit denen von 1989 zu tun haben. Jetzt geht es gegen die Corona-Politik der Bundesregierung, gegen Flüchtlinge und für oder gegen Putin. Immer dichter folgen die Demos aufeinander. Eigentlich hat Veronika selbst längst die Übersicht verloren, erlebt Anfeindungen und begegnet bei einer dieser Demos dem Fotografen Bernd.
Diesmal hat sich Cornelia Lotter eine sehr verzwickte Heldin ausgesucht, das betont sie im Nachwort selbst. Aber natürlich gibt es diese Menschen trotzdem – auch in Leipzig -, die sich im eigenen Leben nicht wirklich zu Hause fühlen und ihren Groll auf „die da oben“ auf die Straßen tragen. Oder auf Arbeit pflegen, weil alles, was sie erleben, ihre Vorurteile zu bestätigen scheint.
Aber nicht nur Bernd läuft ihr über den Weg, der in ihr wieder etwas sieht, was sie von sich selbst nicht mehr gedacht hätte: einen interessanten, des Fotografierens würdigen Menschen.
In ihrem alten Elternhaus, das sie froh war, verkauft zu haben, wird auch noch ein kleiner Lederkoffer voller Briefe gefunden. Und die Briefe führen sie zurück in jene Zeit, die sie natürlich nicht selbst erlebt hat. Und über welche die Frauen in ihrer Familie immer schwiegen. So wie sie in vielen Familien schwiegen, nicht nur in Ostdeutschland. Denn vieles war zu schrecklich, vieles war als Thema auch tabu, passte nicht zur Staatsdoktrin in West wie Ost.
Das unausgesprochene Grauen
Aber der Zweite Weltkrieg, die stattgefundenen Verbrechen, die Vertreibungen, Bombardierungen und Vergewaltigungen haben sich tief in die Seele der Überlebenden eingegraben. Auch in Veronikas, die erst zaudert, die alten Briefe zu lesen, die von ihrer Urgroßmutter stammen, die nach der Flucht aus Ostpreußen im Lager Oksbøl in Dänemark gelandet ist.
Wie so viele Menschen aus Ost- und Westpreußen, die erst im letzten Moment vor den heranrückenden sowjetischen Truppen fliehen durften. In Oksbøl erinnert heute ein Museum an dieses Lager und die Schicksale der Menschen, die damals die Folgen eines irrsinnigen Krieges und der Vertreibungen zu ertragen hatten.
Und auch Veronikas Großmutter und ihre Großtante erlebten die Schrecken der Flucht, auch wenn ihnen das Lager in Dänemark erspart blieb und sie im heutigen Ostdeutschland eine neue Bleibe fanden. Wie Millionen andere auch. Doch Veronikas Großmutter erlebte zusätzlich als junge Frau auch die Vergewaltigungen durch die Soldaten mit, die lange Zeit gerade in Ostdeutschland regelrecht zum Tabu gemacht wurden. Denn den „großen Bruder“ durfte man nicht kritisieren.
Tausende Frauen nahmen sich damals das Leben. Aber wie gingen jene Frauen damit um, die dann Kinder bekamen von diesen fremden Vergewaltigern?
Dass das nicht nur die Ehelosigkeit ihrer Großmutter bestimmte, sondern auch die Distanz zu den eigenen Gefühlen, die Veronika auch bei ihrer Mutter erlebte, wird ihr erst langsam klar, als sie – mit Bernds Hilfe – die Briefe entziffert und merkt, wie sehr die scheinbar vergangenen Fluchtgeschichten selbst ihr eigenes Leben noch bestimmen. Und als Jobcenter-Mitarbeiterin hat sie ja seit Jahren schon selbst mit Geflüchteten zu tun.
Doch das hatte bei ihr bislang eher Distanz ausgelöst. Denn Empathie für die Menschen, die da insbesondere seit 2015 nach Deutschland kamen, konnte sie bislang nicht aufbringen. Im Gegenteil: Sie hatte das Gerede von den Menschen, die sich hier auf Kosten der Deutschen alimentieren ließen, tief verinnerlicht. Doch je mehr sie erfährt über die Fluchtgeschichte ihrer Familie und das Leid der Frauen, umso mehr zerbröselt ihre Haltung.
Denn man sieht die Menschen um sich ja immer durch die Brille der eigenen Vorurteile. Wenn man Schmarotzer sehen will, sieht man nur Schmarotzer, schaut regelrecht nach jedem Zeichen, das die eigenen Vorurteile bestätigt.
Wenn man aber in den Geflüchteten Menschen zu sehen beginnt, die ganz ähnliche Grausamkeiten erlebt haben wie die eigenen Großmütter und Urgroßmütter, dann lässt sich diese Mauer nicht mehr aufrechterhalten. Dann sieht man genauso die Frauen, die Bitterstes erlebt haben: Krieg und Bürgerkrieg, Vertreibung, Hunger, Entbehrung …
Die Grautöne des Lebens
Und das Jahr 2022 machte das Ganze erst richtig aktuell, als ein russischer Autokrat die Ukraine überfallen ließ und Millionen Frauen und Kinder auch nach Deutschland flohen. Die also fast dasselbe Grauen erlebten wie die Frauen und Kinder im eisigen Winter 1945.
Cornelia Lotter lässt ihre Heldin aber nicht einfach plötzlich anders agieren. Sie mag die Grautöne, schreibt sie. Denn die Menschen bestehen nun einmal nicht aus dem viel beschworenen Schwarz oder Weiß, mit denen in schlechten Romanen und Filmen die klaren Charaktere gegeneinander in Stellung gebracht werden. Wir stecken allesamt voller Ungewissheiten, Unsicherheiten, Unstimmigkeiten.
Oft auch deshalb, weil wir wenig oder gar nichts über unsere eigene Vorgeschichte wissen. Und wenn wir es dann erfahren und die Eltern und Großeltern vielleicht doch einmal darüber reden, können wir es nicht wirklich einordnen, auch wenn es uns hilft, manches klarer zu sehen.
Oder, aus einer Textpassage von Cornelia Lotter zitiert: „Es ergab alles einen Sinn. Es ging hier überhaupt nicht um sie. Sie hatte keine Schuld daran, dass ihre Familie so beschädigt gewesen war in ihren psychischen Möglichkeiten. Der Krieg und seine schrecklichen Folgen wirkten bei ihnen noch in der übernächsten Generation fort.“
Der Verlust der alten Heimat ist dabei nur ein Aspekt. Auch wenn das für die Geflüchteten eben doch bedeutete, dass sie an ihrem Ankunftsort im heutigen Ostdeutschland nie wirklich heimisch wurden und mit Wehmut an ihre alte Heimat dachten. Was auch immer damit korrespondierte, dass auch damals Flüchtlinge nicht mit offenen Armen empfangen wurden.
Es macht natürlich etwas aus, wenn Menschen dann jahre- und jahrzehntelang zu spüren bekommen, dass sie nicht dazugehören.
Auch Veronika merkt, wie vielschichtig das Thema ist. Erst recht, nachdem sie mit Bernd das Dokumentationszentrum „Flucht – Vertreibung – Versöhnung“ in Berlin besucht hat, ein Ort, der genauso wie das Fluchtmuseum in Oksbøl nicht nur die eine Fluchtbewegung thematisiert, sondern die immer neuen Vertreibungen und Fluchtbewegungen der jüngeren Vergangenheit, die für die jeweils Betroffenen immer traumatische Erlebnisse waren und sind.
Wenn für Nähe kein Raum da ist
Und ihre Traumata nehmen die geflüchteten Menschen natürlich mit in die neue Heimat, die sich meist sperrt dagegen, diesen Neuankömmlingen Heimat sein zu wollen. Damit machen ja heute bösartige Parteien wieder richtig Politik und man sieht, dass von Empathie und Verständnis dort keine Rede sein kann.
Von einem Wissen um die eigene Gerschichte auch nicht, sonst würde man nicht in einem grausamen autoritären Staatsverständnis wieder das Heil suchen. Als wenn Grausamkeit jemals irgendetwas in dieser Welt gelöst hätte.
Und auch wenn Veronika sich schwertut, das Gelesene zu verdauen und auch zu sehen, warum das bis in ihr eigenes Leben hinei Folgen hatte, spürt man beim Mitlesen, wie sich ihre Haltung verändert. Auch zu sich selbst. Denn dass ihre Einsamkeit auch mit dem Verschließen von Gefühlen und einer verinnerlichten Vermauerung zu tun hat, das ahnt sie. Und gerade Bernds vorsichtiges Herantasten lässt ihr den Raum, ihre eigene Verletzlichkeit ein Stück weit einzugestehen.
Und auf einmal scheint so Manches in unserer so bindungsunfähigen Gegenwart zumindest den Ansatz einer Erklärung zu finden. Denn wenn Menschen sich ihrer selbst nicht sicher sein dürfen, weil sie die Ängste ihrer Mütter und Großmütter verinnerlicht haben, dann ist natürlich auch keine Basis da für Vertrauen und Nähe. Vielleicht ist das jetzt ein wenig zu viel hineininterpretiert in die Geschichte.
Immerhin liegen da auch noch 40 Jahre DDR mit all ihrer Vormundschaftlichkeit auf dem Weg, die ja ihrerseits ihre Gründe hat und ihre Wunden schlug. Und dass längst nicht alle Aspekte der Nachkriegszeit im öffentlichen Bewusstsein sind, macht Cornelia Lotter am Beispiel der 800.000 Frauen und Mädchen deutlich, die 1945 als „Geltungskriegsgefangene“ in die Sowjetunion verschleppt wurden.
Fatale Vergesslichkeiten
In einem Folgeband – den wir an dieser Stelle noch besprechen werden – hat die Autorin auch Interviews, Fotos und Dokumente zu diesem Thema gesammelt, das Veronika und Bernd in diesem Roman beschäftigt. Wie es mit den beiden ausgeht, erzählt sie natürlich nicht.
Es ist wie im Leben: Wie es weitergeht, weiß man vorher nie. Das Leben ist nicht so rational, wie es einige Politiker gern hinstellen, die so gern an Asylgesetzen und den Beihilfen für Arbeitslose herumdoktern, weil sie glauben, man könnte Menschen kontrollieren, dirigieren und disziplinieren. Ein fatales Denken, das auch den Mitarbeiter/-innen in Jobcentern oft mentale Probleme bereitet und sie in tiefe menschliche Konflikte verwickelt.
Auch das gehört zu diesem Roman, der eben auch davon erzählt, dass die Aufgabe, menschlich zu bleiben, nicht nur in Kriegszeiten steht. Und eben auch davon, wie weit die Verletzungen reichen, die enthemmte Krieger in den Schutz- und Wehrlosen anrichten, die ihnen ausgeliefert sind.
Ein Roman, der sich nahtlos einreiht in die Buchreihe, mit der Cornelia Lotter gegen das Vergessen anschreibt. Denn wenn wir vergessen, was Grausamkeit in der Geschichte angerichtet hat, werden wir blind dafür, wie sie unsere Gesellschaft deformiert hat und wie sie in unserer Welt immer noch wütet, befeuert von Männern, die nicht mit der Wimper zucken, wenn sie Millionen Menschen ins Verderben schicken, während sie eine gefühllose und blutige Vergangenheit glorifizieren.
Und es leiden eben nicht nur die Männer – wie in diesem Buch der zu Kriegsbeginn noch jubelnde Erwin -, sondern auch Frauen und Kinder. Und am Ende auch die Kinder und Enkel, die nicht ahnen, woher ihre Erfahrungen von Gefühllosigkeit und Ausgegrenztsein stammen und welche tiefe Wurzeln diese haben.
Cornelia Lotter„Die falsche Heimat“ tolino Media, Münche 2024, 13,99 Euro.
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