Zum Glück schreiben auch Leipziger Forscherinnen und Forscher nicht nur Aufsätze für wissenschaftliche Magazine, die dann nur von der Fachwelt wahrgenommen werden. Es gibt viel zu viele Forschungsthemen, die auch die nicht-akademische Öffentlichkeit dringendst interessieren. Und wenn es Ereignisse aus der römischen Geschichte aus den Jahren 133 und 121 vor unserer Zeitrechnung sind. Die Leipziger Historikerin Charlotte Schubert hat sich diese Vorfälle einmal sehr genau angeschaut.
Charlotte Schubert ist Professorin im Ruhestand für Alte Geschichte an der Universität Leipzig. Da hat man endlich mal Zeit, sich richtig hineinzuknien in ein Thema wie den legendären Tod der beiden Gracchen, von dem Schüler in sächsischen Schulen in der Regel niemals hören. Nicht nur, weil es die Römische Geschichte meist nur in einer Light-Version gibt, in der das spätere Kaisertum die größte Rolle spielt, während für die Römische Republik meist kaum ein paar Nebensätze übrig sind.
Und wenn im Geschichtsunterricht mal von der Geburt der Demokratie die Rede ist, dann fast nur von der Athener Demokratie. Oder von der Attischen Demokratie, wie sie Wikipedia nennt.
Wie legal kann Gewalt sein?
Dass Rom seit 509/508 v.Chr. eine Republik war, wird meist nur beiläufig erwähnt. Vielleicht noch im Zusammenhang mit den Krisen, die das Römische Reich erschütterten und 44 v. Chr. in der Ernennung Cäsars zum Diktator auf Lebenszeit ihren Gipfel erreichten. Und schon die römischen Historiker – von Plutarch bis Cicero – versuchten den Auslöser in der römischen Geschichte dingfest zu machen, als das jahrhundertelang funktionierende Machtgleichgewicht ins Wanken geriet und die Repubik in das Zeitalter der Bürgerkriege abglitt.
Und die meisten Historiker landen dann bei den beiden Gracchen – Tiberius und Gaius Gracchus, beides Brüder, beide zum Ende ihres Volkstribunats gewaltsam zu Tode gekommen. Tiberius 133 v.Chr. noch im Amt als Tribun durch eine gewalttätige Gruppe von Senatoren, sein jüngerer Bruder Gaius dann 121 schon nach Beendigung seines Tribunats durch einen oberflächlich legalen Bevollmächtigungsakt des Senats, der aber bis zum Ende der Republik nie wirklich als legitimes Mittel der Verteidigung der Staatsgewalt verstanden wurde.
Ein weiter Raum der Diskussion, in den Charlotte Schubert hier einsteigt, die aus den oft genug widersprüchlichen und parteiischen Erzählungen der römischen Historiker das herausfiltert, was wirklich passiert ist und was die beiden Gracchen wohl tatsächlich wollten, die nach ihrem Tod eine langanhaltende Popularität erlebten genauso wie ihre Mutter Cornelia.
Denn ganz offensichtlich wollten sie mehr als nur die immer wieder als Stein des Anstoßes zitierten Bodenreformen, die immer wieder als Ursache der kommenden Konflikte angeführt wurden.
Doch dann wären diese Reformen mit Sicherheit wieder rückgängig gemacht worden und nicht heute noch sogar archäologisch nachweisbar. Doch genau das ist nicht geschehen, wie Charlotte Schubert zeigen kann. Ein Großteil gerade der Reformen von Gaius blieb auch nach seinem Tod in Kraft. Das kann also nicht der Auslöser der Bürgerkriege gewesen sein.
Wenn Eliten sich wehren
Doch Schubert zeichnet eben nicht nur die Konflikte um die beiden Bodenreformen nach, sondern versucht auch, das Verhältnis der beiden Gracchen und ihrer Unterstützer zu den Mitgliedern des römischen Senats auszuleuchten. Ein Verhältnis, das sich in beiden Fälle zum Ende ihrer Amtszeit als Volkstribun zuspitzte und im Vorwurf gipfelte, sie wollten eine Diktatur errichten. Was sich so aber nicht nachweisen lässt.
Mit Charlotte Schubert lernt man, um das alles zu verstehen, das damalige Machtgefüge der Römischen Republik genauer kennen, das seit Jahrhunderten funktionierte, das aber eben auch der Elite der reichen römischen Familien, die quasi das Geburtsrecht auf eine Mitgliedschaft im Senat hatten, die Macht sicherte. Dieses Gleichgewicht brachten die Gracchus-Brüder in Gefahr, als sie damit begannen, das Tribunat dazu zu benutzen, die bestehenden Verhältnisse zu verändern.
Und das aus heutiger Perspektive sogar sehr logisch und nachvollziehbar. Sie wollten die Römische Republik reformieren. Aber damit lösten sie die heftigen Konflikte mit der alten Elite aus, die sich keineswegs nur so elegant wehrte wie Cicero in seine Reden.
Gewalttätige Auseinandersetzungen gehörten auch vorher schon zum politischen Alltag in Rom. Aber die Tötung missliebiger Gegner und ihrer Anhänger in diesem Ausmaß waren neu. Und je detailreicher Charlotte Schubert die Vorgänge schildert, umso vertrauter wird einem das, was da vor über 2.000 Jahren in Rom geschah.
Geschichte kann so lehrreich sein, wenn man sie genauer betrachtet. Denn was sichtbar wird in den Reaktionen auf die Reformversuche der beiden Gracchen, ist ein Phänomen, das wir seit dem „Sturm auf das Kapitol“ von 2021 auch aus unserer Gegenwart kennen – und ratlos betrachten, weil sich die Geister, die hier eine radikalisierte Partei entfesselt hat, scheinbar nicht mehr einfangen lassen und noch mehr entfessselte Gewalt droht. Wie damals in Rom.
Bestechung und Intrigen
„Doch was wir wissen, ist, dass Härte, Brutalität und hemmungslose Selbstbereicherung derart zunahmen, dass das institutionelle Gerüst der Republik und die sie tragenden Verhaltensmuster völlig destabilisiert wurden“, schreibt Schubert.
„Insbesondere Ciceros intensive Auseinandersetzung mit den Gracchen zeigt, wie hilflos das Konfliktmanagement im 1. Jahrhundert vor Chr. geworden war. In diesem Lichte scheint der Untergang der Republik, der sich in der Diktatur Cäsars und der augusteischen Monarchie manifestierte, nicht paradox und nicht alternativlos, sondern das Ergebnis einer anfällig gewordenen, weil nur zaghaft und zögerlich zu Reformen bereiten Elite.“
Das ist es, was einem so vertraut vorkommt.
Bis hin zur Elite, die ihre Macht mit allen Mitteln zu verteidigen versucht und diese Gewaltbereitschaft ausgerechnet ihren zur Reform bereiten Gegnern unterstellt. Damit lässt sich Stimmung machen und gleichzeitig ablenken von Korruption und Bereicherung, Bestechungen und Intrigen, wie sie Gaius Gracchus in einer seiner Reden anprangerte.
Indirekt wiedergegeben von Charlotte Schubert: „Sie schwiegen und agierten im Hintergrund. Sie arbeiteten mit Bestechungen und Intrigen und sie betrogen alle – das Volk, indem sie nicht offenlegten, worum es ihnen in Wahrheit gehe und was sie wollten, ihre Kollegen, indem sie sie durch die Bestechungen und Intrigen ausmanövrierten.“
Es ist wie ein Blick ins Räderwerk der Politik, das auch über 2.000 Jahre später noch ganz ähnlich funktioniert, welche eben – da man mit Geld alles kaufen kann – auch jede Menge Leute in den politischen Ringkampf spült, die ihr Eigeninteresse über das Gemeinwohl stellen, die Gesetze vorantreiben, die nur den Reichen und Wohlhabenden nutzen, dem Volk aber als allgemeines Interesse und Volkswohl verkauft werden.
Wütende Standesgenossen
Und genauso vertraut ist einem die massive Argumentation gegen die wirklich notwendigen Reformen, welche die Republik gerechter machen sollen. Denn hier ist der Knackpunkt, warum die beiden Gracchen sich die entfesselte Wut ihrer „Kollegen“ im Senat zuzogen, wie auch Charlotte Schubert feststellt: „Mit dem Ziel, politisches Handeln am Gemeinwohl zu orientieren, haben Tiberius und Gaius Gracchus eine völlig neue Ausrichtung der römischen Politik initiieren wollen.
Das tragische Ende beider – der eine brutal erschlagen von einem senatorischen Mob, der andere auf der Flucht von bewaffneten konsularischen Schergen zum Selbstmord getrieben – zeigt, welch hilflose Wut und Aggressivität ihre Politik unter ihren Standesgenossen hervorgerufen hat.“
Es waren nicht die Gracchen, die die Gewalt auf den Platz gerufen hatten und damit die Kette von Bürgerkriegen auslösten, die am Ende in die Diktatur Cäsars mündete und das Vertrauen der Römer in ihre Republik restlos untergrub, sondern die gewalttätige Reaktion der im Senat versammelten Elite, die ihre Macht und ihren Reichtum verteidigte. Und das mit der brutalstmöglichen Variante: indem sie ihre Gegner umbrachte und das Problem damit aus der Welt zu schaffen glaubte.
Nur zeigt Charlotte Schubert eben auch, dass die Probleme ganz und gar nicht verschwanden, sondern sich weiter verschärften.
Und man erkennt sogar Argumentationsmuster wieder, die einem heute auf politischen Kanälen immer wieder begegnen. Denn wenn es um die Verteufelung von Reformen und sozialstaatlicher Maßnahmen geht, ist den Rednern auch nicht das schrägste Argument zu billig, um damit Stimmung zu machen.
„Der gegen ihn (Gaius Gracchus, d. Red.) erhobene Vorwurf, das Volk faul und müßig zu machen, lässt das trügerische Bild von der Einführung einer Art von – modern gesprochen – ‚Wohlfahrtsstaat‘ aufscheinen“, schreibt Schubert. Auch wenn damals von einem Wohlfahrtsstaat wirklich noch nicht gesprochen werden konnte, nur von vernünftigeren Gesetzten, die vor allem gegen Begünstigung und Korruption gerichtet waren und „klare Verantwortlichkeiten und die Möglichkeit der Kontrolle“ schaffen sollten.
„Der beste Beleg dafür, dass diese Maßnahmen des Gaius tragfähig waren, ergibt sich aus der Tatsache, dass diese Gesetze nach seiner gewaltsamen Beseitigung nicht aufgehoben wurden.“
Macht und Gier
Man lernt eben auch ein Stück römischer Justizgeschichte kennen und wohnt quasi der Geburt von Gesetzen bei, die das Römische Recht noch über Jahrhunderte prägen sollten. Gesetze, die dann oft genug auch zum Vorbild für spätere europäische Gesetzeswerke wurden.
Und man wohnt auch einem Lernprozess bei, wie kluge Politiker wie die beiden Gracchen und ihre stoischen Berater den Staat auf vernünftige Prämissen aufbauen wollten, um den zutiefst menschlichen Eigenschaften von Gier und Unersättlichkeit ein Regelwerk entgegenzusetzen, das zumindest die wildesten Gelüste der Mächtigen zähmt.
Und man kann dabei nicht anders, als an die Gegenwart zu denken und ganz ähnliche Kämpfe und Konflikte auf dem politischen Parkett zu entdecken, genauso verbrämt und getarnt und aufgeladen mit Aggressionen gegen alle, die auch nur wagen, der menschlichen Gier eine Grenze zu setzen.
Aber beiläufig taucht man mit Charlotte Schubert eben auch in ein Kapitel der römischenRepublikgeschichte ein, in dem sich zwar auch schon Feldherren herumtreiben, die unterworfene Städte mit brutaler Gewalt dem Erdboden gleichmachten (die berühmteste ist Karthago), in dem aber auch das Bewusstsein über den Wert einer halbwegs funktionierenden Res Publica noch lebendig war und eben keineswegs vorgezeichnet war, dass die Republik in Jahrzehnten der Krisen und Bürgerkriege untergehen würde.
Charlotte Schubert< „Der Tod der Tribune“ C. H. Beck, München 2024, 32 Euro.
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