Es sind nicht nur Kriminalromane, die bei vielen Leserinnen und Lesern so beliebt sind, weil sie einen tiefen Einblick in die finsteren Seiten unserer Gesellschaft ermöglichen. Ganz genau so funktionieren auch Bücher, die wahre Verbrechen schildern. Landläufig als „true crime“ bezeichnet. Dafür blättern die Autoren schon mal in alten Gerichts- und Polizeiakten und zeigen so auch, wie die Polizei damals arbeitete und wie sie den Tätern auf die Spur kam.
2021 hat sich der Leipziger Autor Frank Kreisler schon einmal dem Genre „true crime“ gewidmet und in „Wand an Wand mit einer Leiche“ wahre Verbrechen, die in Leipzig geschahen, geschildert. In seinem neue „true crime“-Band hat er jetzt zehn Fälle aus Sachsen zusammengestellt. Und zwar quer durch den Gemüsegarten – von 1906 bis in die 1970er Jahre, also quer durch die Gesellschaftsordnungen. Was sich in den unterschiedlichen Fällen auch spiegelt.
Denn was dem Unternehmer in „Zähmung eines Unternehmers“ passiert, konnte so nur in der DDR passieren, als privates Unternehmertum sowieso schon als halb kriminell galt und der Staat nur auf die Gelegenheit wartete, ein Unternehmen zu enteignen und dessen Chef hinter schwedische Gardinen zu bringen. Da war völlig egal, ob da einer mit einer Menge Findungsreichtum überhaupt erst den Laden – in diesem Fall ein Transportunternehmen – wieder in Gang gebracht hat. Dummerweise mit lauter Methoden, die leider laut Strafgesetzbuch höchst strafwürdig waren.
Zerrüttete Familien
Aber zumindest geht es in dieser Geschichte nicht um Mord und Totschlag, wie etwa gleich in der Titelgeschichte „Lügen, bis das Fallbeil fällt“, die in den 1930er Jahren in Leipzig handelt und in der tatsächlich ein Unternehmer abhandenkommt und sogar jahrelang nicht vermisst wird, wie das bedauerlicherweise in vielen Familien geschieht. Meist nämlich dann, wenn eine rigorose Person dafür sorgt, dass die Familienbande zerrütten und sich die Angehörigen lieber auf große Distanz in Sicherheit bringen, um nicht ständig Neid und Niedertracht erleben zu müssen.
Die alten Märchen von der „bösen Schwiegermutter“ sind ja nicht wirklich unrealistisch, auch wenn es – wie in diesem Fall – gar nicht die Schwiegermutter ist, die ihre teuflischen Ränke schmiedet.
Und auch in „Der verwandte Mörder“ ist eine zerrüttete Familienkonstellation der Hintergrund für eine Mordsgeschichte in Geithain. Man sollte vielleicht doch besser aufpassen, in welche Familie man hineingerät. Wobei an Kreislers Geschichten auffällt, dass man es in fast allen Fällen mit ziemlich unbedarften Persönlichkeiten zu tun hat, die – wie in „Mordtheater in rauen Zeiten“, das in Burgstädt spielt – gleich fünf Mordanschläge verpatzen.
Natürlich werden die meisten Mörderinnen und Mörder aus lauter Dilettantismus zu Tätern. Mal ist es die Gier nach dem Geld der Anderen, die sie völlig blind macht. Mal ist es die Überrumpelung, während man eigentlich – wie in „Polizistenmord im Schneckengrün“ – ganz andere Pläne hat. Die in diesem Fall auch nicht von der Staatsmacht gewünscht sind.
Hier kommt auch die Frage des Verhängnisses ins Spiel: Hätte der Tod des Polizisten verhindert werden können, wenn ein „aufmerksamer Bürger“ lieber nicht so anzeigefreudig gewesen wäre? Eine Frage, die natürlich eine weitere impliziert, nämlich die nach den Toten, die zwangsläufig in Kauf genommen werden, wenn ein Staat menschenverachtende Gesetze erlässt und das Misstrauen im Lande schürt? Ein Misstrauen, über das Kreisler im Nachspann natürlich schreibt.
Ihm ist sehr wohl bewusst, dass Staatsmächte nicht ganz unschuldig sind, wenn bei den Bürgern Argwohn und Misstrauen einziehen. Das mag aus Sicht der Machthaber nützlich sein. Doch es unterminiert eigentlich den Frieden einer Gesellschaft. Und es verwandelte in diesem Fall die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in eine von Feindbildern durchwaberte Zeit.
Überforderte und Außenseiter
Wobei Kreisler seine Mischung so angelegt hat, dass nicht jede Geschichte wieder eine Begegnung mit der zuweilen sehr graustichigen ostdeutschen Geschichte wird. Manchmal geht es auch einfach um einen Kleinkriminellen wie in „Bizarre Verführungen“, der nach einer völlig missglückten Kindheit und Schulzeit regelrecht auf die berüchtigte „schiefe Bahn“ geriet und vor allem als Dieb immer wieder aktenkundig wurde. Und zwar als ein Dieb, der augenscheinlich nichts aus seinen vielen Misserfolgen lernte und dann auch noch seinem eigenen Fetischismus nicht widerstehen konnte.
Und so richtig geistig bei der Sache war wohl auch der alte Mann nicht, der in „Danach war alles gut“ seine schwer behinderte Frau zu Tode brachte. Aber das eben auch aus Überforderung. Es musste nicht erst der Pflegenotstand der Gegenwart ausbrechen, um Angehörige mit Pflegefällen in moralische und seelische Zwickmühlen zu treiben und ihnen eine Last aufzuladen, die sie nicht tragen konnten und können.
Was einen natürlich auf Gedanken bringt, denn ganz offensichtlich versagen Regierungen immer wieder an dieser ganz simplen Sorge um diejenigen, die eigentlich Hilfe benötigen, sich diese Hilfe aber nicht leisten könen.
Das ist so eine Begleiterscheinung von „true crime“, dass man eigentlich selbst durch die nüchterne Fallberichterstattung in den alten Akten auf die Probleme der jeweiligen Gesellschaft gestoßen wird. Manchmal Probleme, die direkt aus Krieg, Nachkrieg und wirtschaftlichem Niedergang entspringen und Menschen auch dazu zwingen, sich (unrechtmäßige) Wege auszudenken, irgendwie an das Überlebensnotwendige zu kommen.
Manchmal sind es aber auch einfach die Probleme des Ignoriertwerdens, mit denen dann gerade Menschen nicht zurechtkommen, die nicht gerade die hellsten Leuchten sind und keinen anderen Ausweg sehen.
Dilettantische Taten
So wie der Kellnerlehrling in „Das seltsame Motiv des Brandstifters“, einem Fall, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Oschatz ereignete. Und ein wenig kann man mit Frank Kreisler auch in die Gedankengänge des Täters eintauchen und merkt: Auch hier geht es um die stillschweigenden Erwartungen von Erwachsenen, die gar nicht merken, dass ihre Normvorstellungen für junge Menschen bedrückend und nicht auszuhalten sein könnten.
Was für manchen Täter trotzdem keine Entschuldigung ist – etwa für den Schlosser in „Die harten Schläge der Gefängnisuhr“, der tatsächlich glaubte, mit seiner Tat davonzukommen. Nur haben hier die Kriminalbeamten ganz offensichtlich mit der Gefängnisuhr in der Untersuchungshaftanstalt eine echte Verbündete, die es mit ihrer Sturheit schafft, den Täter für das Geständnis weichzuklopfen.
Und auch wenn das alles Kriminalfälle aus der Vergangenheit sind, machen sie dennoch deutlich, dass das Kriminelle nie wirklich aus er Welt war. Man glaubt das immer nur, wenn die Zeiten mal nicht ganz so trübe sind. Aber spätestens die Polizeimeldungen des Tages erinnern einen daran, dass es auch heute noch all die überforderten, getriebenen und rücksichtslosen Gestalten gibt, die keine Skrupel kennen, sich mit Gewalt zu beschaffen, was sie haben wollen.
Oder die ihre Mitmenschen beseitigen wollen, weil sie überzeugt sind, so all ihre aufgehäuften Probleme lösen zu können. Und das dann in der Regel ohne die so gern beschworene Perfektion der Mörder, die in Kriminalfilmen für gewöhnlich agieren. Die meisten Verbrechen, das wird eigentlich ziemlich deutlich, werden von Dilettanten begangen. Und vorwiegend ohne wirklich nützliche Gedanken über die Folgen.
Ein paar wenige Fotos aus den Polizeiakten ergänzen das Buch. Die meisten Namen hat Kreisler – auch zum Schutz der Nachkommen – geändert. Nur die Schauplätze der Verbrechen konnte er schlecht ändern. Einige existieren noch heute. Andere sind verschwunden. Neun der zehn erzählten Fälle werden in diesem Buch überhaupt zum ersten Mal publiziert.
Und wer in seinem Leben keine Mordgedanken mit sich herumträgt, darf durchaus – wieder einmal – erschrocken sein über die Kaltblütigkeit einiger Menschen, die ohne zu zögern über Leichen gehen, um ihre eigenen Eitelkeiten zu befriedigen. Na gut. Vielleicht ist man auch dann nicht überrascht. Nur dass man sich zutiefst befremdet fühlt von solchen Mitmenschen, denen man nicht am Tag und erst recht nicht in der Nacht begegnen möchte.
Was sich leider manchmal nicht vermeiden lässt …
Sodass zumindest eines schon mal sicher ist: Auch das wird nicht der letzte „true crime“-Band aus Sachsen sein.
Frank Kreisler „Lügen, bis das Fallbeil fällt“ Mitteldeutscher Verlag, Halle 2024, 16 Euro.
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