Es gibt Lebensgeschichten, die gehen einfach nicht gut aus. Auch, weil schon der Beginn nicht gut war. Erzählt werden meist nur die Gewinnergeschichten. Die auch das Märchen verstärken, das tief in der Seele unserer Gesellschaft steckt, dass es im Leben nur ums Gewinnen geht. Eine Story, die besonders gern im Sportgenre erzählt wird. Und vielleicht hätte Elke Zander eine ganz Große im deutschen Sport werden können, wären da nicht ein übergriffiger Trainer gewesen und Eltern, die dem Kind nur unter Bedingungen Anerkennung zollten.

Da ist man auf einmal mittendrin in der deutschen Leistungsgesellschaft, die in unserem Bildungssystem genauso steckt wie in den Köpfen vieler Eltern. Auch wenn es hier zurückgeht in die 1970er Jahre. Das ist – scheinbar – lange her. Da war Elke Zander aus Castrop-Rauxel Teenager, konnte richtig gut laufen und fand durch ihre Anstrengungen im Leichtathletik-Verein endlich das, was ihr ihre Eltern vorher nicht geben konnten: Anerkennung.

Da dürften sich nicht nur die heute Älteren zurückerinnern, wie das bei ihnen war. Und wie eine Nachkriegsgeneration, die über ihre Gefühle nicht sprechen konnte, ihre Kinder unter Leistungsdruck setzte. Und Anerkennung tatsächlich von Leistungen abhängig machte.

Aber was richtet dieses Leistungsdenken eigentlich an in uns, wenn wir es verinnerlichen? Wenn wir dann tatsächlich versuchen, es unseren Eltern und Lehrern und Trainern und Vorgesetzten (und Lebenspartnern) immerzu recht zu machen, alles geben, uns richtig hereinknien?

Ein Tag im Jahr 2014

Dass das keine Beziehungsgrundlage ist, weiß jeder. Und wer es noch nicht weiß, lernt es durch die harten Lektionen des Lebens. Denn Anerkennung, die es nur für Siege und besondere Leistungen gibt, sind oberflächlich. Sie sind keine Basis für Verständnis und Vertrauen. Und so wird dem Kind die Sicherheit entzogen, dass es einfach so, wie es ist, liebenswert ist.

Das Ergebnis ist nicht in jedem Fall ein Schicksal, wie es die 1960 geborene Elke Zander erlebt hat, deren Geschichte der freischaffende Musiker und Autor Bernd Bobert aufgeschrieben hat. Immerhin.

In der Regel verschwinden solche Geschichten einfach mit ihren Heldinnen, bleiben unerzählt und unerinnert. Aber an einem Tag im Jahr 2014 konnte Bobert nicht einfach an der Frau vorbeigehen, die vor einem Einkaufsmarkt in Dresden um Almosen bat. So wie andere Menschen, an denen wir meistens einfach vorbeigehen, manchmal ein paar Euro in ihren Becher fallen lassend. Aber nicht sonderlich interessiert an ihren Schicksalen.

Wie kommt man da hin, dass man eines Tages ohne Wohnung und Einkommen vor dem Einkaufsmarkt sitzt und auf das Wohlwollen anderer Menschen angewiesen ist?

Vorgezeichnet war das eigentlich nicht. Denn auch wenn sie die Liebe ihrer Eltern – insbesondere ihrer Mutter – nie erlangen konnte, hatte Elke Zander eigentlich ein selbstbestimmtes Leben vor sich, als sie sich zur Apothekenhelferin ausbilden ließ und den schönen Ben heiratete, der sie zuvor als Sprint-Star fasziniert hatte.

Raus aus dem Elternhaus, wo sie eigentlich nur die ewig kritische Mutter und den alkoholabhängigen Vater aushalten musste. Eigentlich ist man dann frei, kann alles selbst gestalten.

Die Geister der Kindheit

Aber die Geschichte, die Elke Zander dann Bernd Bobert erzählt, hat in den paar Wochen vor ihrem Tod, erzählt im Grunde davon, wie schwer es fällt, den Geistern der eigenen Kindheit zu entkommen, wenn man nicht um sie weiß. Oder nicht wissen will, was sie anrichten. Denn der Schrei nach Liebe führt viele Menschen – nicht nur junge Frauen – in verhängnisvolle Partnerschaften, die nicht gut gehen können.

Und Elkes Partnerschaften gehen alle nicht gut aus. Schon die erste ist ein Leidensweg mit einem Gefährten, der selbst süchtig ist, aber auch unausgeglichen und gewalttätig. Und schnell stellt sich heraus, dass die junge Frau mit so einem Partner nicht umgehen kann und lange, viel zu lange braucht, um sich aus dieser Umklammerung zu lösen. Doch da hat sie längst die Bekanntschaft mit Drogen gemacht, die sie fortan im Leben begleiten.

Und die wohl auch das Verhältnis zur Sachbearbeiterin im Jugendamt bestimmen, die ganz offensichtlich alles dafür tut, Elkes Tochter Mia aus dieser Umgebung herauszubekommen und sie Elkes Mutter in Obhut zu geben.

Vielleicht war es auch anders. Man weiß es nicht. Denn natürlich hat Elke ihre Lebensgeschichte nur aus ihrer Perspektive erzählt. Und gerade die letzten – sehr verstörenden – Seiten machen sichtbar, dass ihre Drogenabhängigkeit auch ihre Erinnerungen beeinflusst. Zusätzlich, muss man sagen. Denn auch Menschen, die sich nicht auf Drogen einlassen, haben ihre verfestigten Vorstellungen von dem, was ihnen passiert ist.

Wir interpretieren alle unsere Vergangenheit, suchen nur zu oft Schuldige oder simple Erklärungen, auch dann, wenn wir wissen – und Elke weiß es an viele Stellen –, dass wir uns eigentlich aus toxischen Beziehungen viel früher und radikaler hätten befreien müssen.

Nur: Wo lernt man das? Und wer gibt einem die Kraft dazu, wenn alle Freundinnen und Freunde aus demselben Umfeld kommen? Wenn die Rettung dann doch wieder nur eine Falle ist, in der man mit denselben Problemen konfrontiert ist?

Flucht nach Spanien

Auch wenn es Elke Zander mit 31 Jahren endlich geschafft zu haben scheint. Da hat sie ihr Abi nachgeholt und ein Psychologiestudium in Dresden begonnen. Könnte das ihre Rettung sein? Doch irgendetwas bringt sie auch hier dazu, auszubrechen, den anstrengenden Weg in eine Laufbahn aufzugeben, auf der sie es mit einem augenscheinlich wieder nur gleichgültigen Umgang mit psychisch kranken Menschen zu tun bekommen hätte.

Diesmal ist ihre Tochter Mia mit dabei, als beide in einem eigentlich schrottreifen Auto Richtung Spanien fahren, um ihr Leben in Dresden völlig hinter sich zu lassen.

Man ahnt es schon: Es gelingt nicht wirklich. Die Drogen werden wieder Teil ihres Lebens. Und mit den Drogen die Verstrickung in ein mehr oder weniger kriminelles Milieu, wo Elke wieder Männergestalten begegnet, denen man nicht am helllichten Tage begegnen möchte. Und wieder fällt es ihr schwer, Grenzen zu ziehen, sich zu schützen. Längst hat sie mit psychischen Problemen zu kämpfen, die sich auch immer stärker in ihrer Erzählung niederschlagen. Hier gilt ganz offen Goethe Verzweiflungs-Schrei aus dem „Zauberlehrling“: „Die Geister, die ich rief …“

Was nicht nur auf Menschen zutrifft, die von Drogen geplagt sind. Das gilt auch für so viele andere, die immer wieder dieselben angelernten Muster aus der Kindheit nachvollziehen und selbst dann, wenn sie merken, wie toxisch die Beziehungen sind, die sie eingegangen sind, nicht den Mut finden, einen Schlussstrich zu ziehen.

Vielleicht ist es das eigentlich Bedrückende an dieser Geschichte, dass man aus Elkes Erzählungen diese alten, nie wirklich überwundenen Beziehungsmuster herauslesen kann. Und dass das Muster sind, die man in vielen Milieus so oder so ähnlich wiederfinden kann: Frauen, die sich unter der Aggressivität ihrer Männer wegducken, die sich missbrauchen lassen, die sich aber auch immer wieder von diesen Lebowski-Typen beeindrucken lassen, wohl wissend, dass ihnen diese Typen nicht guttun.

Auch, weil die Lebowskis dieser Welt ihre eigene Überforderung meist nur durch Aggressivität und Gewalt verschleiern. Den starken Kerl darstellen, obwohl man vom Leben völlig überfordert ist.

Die Menschen am Straßenrand

Es schimmert durch die ganze Geschichte, die Elke Zander Bernd Bobert in vielen langen Gesprächsabenden erzählt haben muss. Und die am Ende offen bleibt, denn als Bobert im Hochsommer 2014 wieder als Straßenmusiker auf Tour geht, lässt er Elke in seiner Wohnung allein zurück. Wo er sie nach seiner Rückkehr nicht mehr lebend vorfindet.

So ist dieses Buch auch eine Art Nachruf, aber auch ein würdiges Andenken, das einem Menschen eine Geschichte gibt, der für gewöhnlich sang- und klanglos aus dieser Welt verschwunden wäre. Denn natürlich interessiert sich fast niemand für die Lebensgeschichten der Menschen am Straßenrand. Und hätte Bobert nicht den Impuls gehabt, sich neben die Frau am Wegrand zu setzen, hätte auch niemand von dieser Geschichte erfahren.

Und natürlich ist es keine abseitige Geschichte, denn sie erzählt auch davon, wie schnell ein scheinbar sicheres Leben in dieser Welt ins Rutschen geraten kann. Wie wenig genügt, dass man „draußen“ ist, aussortiert von Jobmarkt und Wohnungsmarkt, angewiesen auf Almosen.

„Da unser Projekt durch Elkes Tod vorzeitig beendet wurde, habe ich bestmöglich versucht, die mir vorliegenden Erzählungen zu einem anschaulichen Gesamtwerk zu verarbeiten“, schreibt Bobert im Vorwort.

Elkes Leben bleibt deswegen auch Fragment, nicht zu Ende erzählt. Es gibt keine glückliche Rettung und kein Happy End. Aber auch das erinnert ja daran, dass es das in sehr vielen Leben nicht gibt. Dass es immer auch viele Menschen gibt, die die Verliererkarte gezogen haben und so auch von anderen behandelt werden. Obwohl es einfach die Aufmerksamkeit braucht, die Bobert sich abgerungen hat, um auch diesen Lebensgeschichten zuzuhören.

Und zu merken, dass Manche sich viel mehr abstrampeln müssen als Andere. Und dann trotzdem daran scheitern, dass sie die Gespenster ihrer Vergangenheit nie wirklich loswerden.

Und natürlich mit einem Anspruch auf Gerechtigkeit auf diese Welt schauen, der nur selten eingelöst wird. Was möglicherweise die eigentliche Tragik unserer Gesellschaft ist: Dass sie ihre Versprechen für viele Menschen einfach nicht einlöst, weil sie zutiefst infiziert ist vom Gewinner-Denken. Und für Verlierer eigentlich nichts übrig hat.

Bernd Bobert „Lauf doch selber für Olympia“ I.CH. Verlag, Leipzig 2023, 17,40 Euro.

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