Hier eine Talkshow, dort ein Kommentar – lauter Experten versuchen ja nun seit zwei Jahren zu erklären, warum Wladimir Putin einen derart sinnlosen und brutalen Krieg gegen die Ukraine führt. Doch mit Logik und Ratio kommt man dem nicht bei. Aber mit ein bisschen Kenntnis der russischen Geschichte – einer Geschichte voller Gewalt, Armut und Rechtlosigkeit. Ein Vorbild ist dieses Land wirklich nicht, kann Julian Hans aus seiner Zeit als Moskau-Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ erzählen.

Doch er tut es nicht, um einmal mehr das Agieren von Wladimir Putin und seiner Gefolgsleute zu erklären oder gar Motive in den Verlautbarungen aus dem Kreml zu finden, die den Überfall auf die Ukraine irgendwie erklären könnten. Stattdessen erzählt er von sechs Kriminalfällen, die er in seiner Zeit als Korrespondent miterlebt hat und die einen tiefen Einblick in die Lebenswelt der Russinnen und Russen geben.

Einen beklemmenden Einblick, der vor allem davon erzählt, wie schutzlos und ausgeliefert sich die Menschen in Russland fühlen. Und das hat nicht nur damit zu tun, dass der kurze russische Frühling der Demokratie unter Jelzin und Putin wieder beerdigt wurde und der Staat zur Beute einer kleinen, rücksichtslosen Clique wurde, die vor allem eins verinnerlicht hat: Dass man mit Gewalt alles erreichen kann. Und dass man, wenn man an der Macht bleiben will, zügellose Gewalt anwenden muss.

So funktionieren Diktaturen und Autokratien.

Wer es nicht glaubt, kann gleich mit der ersten Geschichte über das südrussische Städtchen Kutschowskaja erfahren, wie das, was sich im Großen abspielt, auch im Kleinen passiert – wie eine Bande skrupelloser Schläger mit blanker Gewalt und Erpressung eine ganze Stadt in ihre Hand bekommt und mit brutalem Terror alles an sich rafft, was sie will.

Und wie Polizei und Justiz einknicken oder sich gleich selbst kaufen lassen, und damit der Zapok-Bande allen Freiraum geben, ihr Unwesen zu treiben – bis dahin, dass die Kriminellen, die die Stadt übernommen haben, sich auch gleich die Mädchen von der Straße, aus den Schulen und Studentinnenwohnheimen holen, um sie zu vergewaltigen nach Lust und Laune.

Männer-Bünde

Und wer sich wehrt oder gar die höheren Instanzen um Hilfe bittet, erlebt, dass er gar keine Hilfe bekommt. Im Gegenteil: Die Verbindungen der kriminellen Bande reichen bis in die höheren Dienststellen. Und wer sich wehrt, muss damit rechnen, dass er selbst von der Polizei geholt und gefoltert wird, wie es der Institutsdirektorin Galina Kroschka erging, die ihre Schülerinnen schützen wollte.

In einem Staat, in dem Polizei und Justiz die Bürger nicht schützen, zieht die Angst ein. Das sollten die Deutschen eigentlich aus der eigenen Geschichte wissen. „Diese Erfahrungen der Schutzlosigkeit und des Ausgeliefertseins seien ein Grund dafür, dass die meisten Menschen in Russland sich nicht wehren, ist die Moskauer Psychologin Ljudmilla Petranowskaja überzeugt“, schreibt Hans.

Was auch eine der Erklärungen dafür ist, warum sich die Russen diesen Krierg gefallen lassen: „Dieser Albtraum – gemeint sind der Krieg und die Mobilmachung – geschehe vor dem Hintergrund, dass sich die Menschen einem Leviathan ausgeliefert fühlen …“

So wie sich die Mädchen Krestina, Angelina und Maria ihrem brutalen Vater ausgeliefert fühlen, der in der dritten Geschichte eine Rolle spielt. Jahrelang hat er die Kinder gequält und missbraucht und wie Sklavinnen behandelt. Doch eines Tages wehrten sie sich und brachten den Tyrannen ihrer Familie um. Wie die unfassbaren Vorfälle in Kuschtschowskaja, wo die Ermordung einer ganzen Familie für landesweite Aufregung sorgten (ohne dass sich hinterher wirklich etwas änderte), sorgte auch dieser Fall für landesweite Diskussionen.

Denn da über Politik im Russland Putins nicht gesprochen werden kann, ohne dass man riskiert, für die nebensächlichste Äußerung (etwa über Armee und Krieg) für Jahre ins Straflager geschickt zu werden, sind es solche Fälle der sinnlosen Gewalt, anhand derer die Menschen in Russland über die grundlegenden Fragen von Recht und Gerechtigkeit, Gewalt und Moral diskutieren.

Denn sie wissen, dass sich das, was ihr Land in Geiselhaft hält, auch in ihrem Alltag spiegelt. In korrupten Netzwerken, die das Land ausplündern. Aber auch in brutalen Männern, die ihre Familien tyrannisieren.

Machos in der Opferrolle

Und auf einmal wird deutlich, dass die Diskussion über solche „kleinen“ Fälle tatsächlich auch Diskussionen über die Vergewaltigung Russlands sind. „Es ist ein beliebtes Argumentationsmuster notorischer Aggressoren: Wenn ich dir etwas antue, dann ist das deine Schuld. Du hast mich so weit gebracht! Umso erstaunlicher, dass sie mit dieser Finte Erfolg haben“, schreibt Hans.

Und entdeckt dieselben Argumentationsmuster, mit denen der Vater die Mädchen einschüchterte und ihnen Schuld einredete, auch in Putins Argumentation zu seiner sogenannten „Spezialoperation“.

Denn wenn man es genauer betrachtet, ist auch der Überfall, auf die Ukraine eine ganz bewusste und geplante Vergewaltigung. Und in der Propaganda des Kreml ist die Ukraine Schuld. Natürlich. Wie konnte sie es wagen, 2014 mit den Maidan-Protesten einen ungeliebten Tyrannen davonzujagen? Natürlich nur, weil die Ukraine von Westen verführt wurde. Natürlich.

Der Westen ist in der Putinschen Propaganda an so ziemlich allem schuld. Auch an der Zerstörung der propagierten „russischen Werte“, die in einigen Beziehungen verblüffend den „Werten“ ähneln, die in Deutschland die Rechtspopulisten propagieren.

Und da wird es spannend, weil damit auch ein Männerbild dechiffriert wird – das letztlich gewalttätig und feige zugleich ist. „Es ist charakteristisch für autoritäre Regime, dass sie zwar harte Strafen verhängen, aber keine echte Verantwortung kennen“, schreibt Hans in einem Kapitel, in dem er erzählt, wie Denis Karagodin – gegen alle Widerstände – die Mörder seines Urgroßvaters in den Akten des russischen Geheimdienstes ausfindig macht. Denn aufgearbeitet hat Russland die Verbrechen des Stalin-Regimes bis heute nicht.

Man kennt zwar – vor allem durch die beharrliche Arbeit von „Memorial“ – die Namen der Opfer. Aber die Täter, die den staatlichen Terror umsetzen, blieben unter Verschluss. Und so blieb auch die zwiespältige Geschichte so ziemlich aller russischen Familien unter Verschluss, denn die blutige Stalin-Zeit hat sich in alle Familien eingeschrieben. In manchen Familien sind sowohl die Täter zu finden als auch die Opfer.

Denn der stalinsche Terror kannte nur eine Systematik: So viele Menschen umbringen, wie man braucht, um das ganze Volk restlos einzuschüchtern.

Das Märchen von der russischen Seele

Und das wirkt fort. Bis heute. Wenn sich Mörder nicht verantworten müssen, sondern auch noch belohnt und dekoriert werden, dann zerfrisst das jedes Vertrauen in das, was man irgendwie Staat nennen kann. Und dasselbe Vorgehen legt Putins Machtapparat auch nicht erst seit Kriegsbeginn an den Tag. Wer diesen Krieg auch nur beim Namen nennt, riskiert jahrelange Haft in den Lagern.

Die Urteile sind hoch und rücksichtslos. Ein falsches Wort wird mit völlig willkürlichen Strafmaßen belegt, während die eigentlichen Mörder, Gewalttäter und Diebe geschont werden, denn sie gehören in der Regel zum Netzwerk der Macht, stecken mit Richtern, Staatsanwälten und Polizisten unter einer Decke. Oder haben sie durch Erpressung in der Hand.

Und so räumt Hans dann auch mit dem Märchen von der „russischen Seele“ auf, die auch in Deutschland so gern besungen wird. Als wären die Russen von Natur aus genetisch zu einer besonderen Art Romantik fähig. Doch wer immer das besungen hat, hat den Blick verschlossen vor den Bedingungen eines auf Willkür und Gewalt gegründeten Landes, in dem die Einzelnen wissen, dass sie schutzlos sind.

Wer in einer Autokratie lebt, braucht eine Menge Mut, um offen zu sagen, was er denkt. Das sollte allen, die noch die DDR erlebt haben, durchaus zu denken geben.

Deswegen äußern sich regelmäßig in Umfragen 80 Prozent der Russen so, dass sie sich nicht im Mindesten für Politik interessieren. Der wer sich in einem autokratisch regierten Land für Politik interessiert, steht schon mit einem Fuß im Gefängnis. Da hält man sich besser raus und die Klappe.

Aber was Julian Hans so gar nicht versteht, ist die deutsche Bewunderung für diese „geheimnisvolle russische Seele“. „Aber niemand liebt es (das Selbstbild der Russen, d. Red.) so sehr wie die Deutschen: Schwermütig, tiefgründig, mit dem Verstand nicht zu begreifen ist die ‚russische Seele‘ eine perfekte Projektionsfläche für rationalitätsfeindliche, antimoderne und kulturpessimistische Ressentiments und zugleich eine willkommene Entschuldigung für Appeasementpolitik oder heimliche Autokratenliebe.“

Dass diese Denkweise auch eine gewisse Portion Rassismus enthält, gehört wohl dazu.

Überall feindliche Agenten

Wobei Julian Hans mit den Geschichten zur Künstlerin Katrin Nenaschewa (die in der „Republik Donezk“ entführt und gefoltert wurde) und zu Anna Riwina, die mit dem Portal Nasiliu.net Aufklärung und Opferberatung für Opfer familiärer Gewalt aufgebaut hat, auch zeigt, dass die Russinnen und Russen sowieso nicht (mehr) in diese von Propaganda verbreiteten Bilder passen.

Für Hans ist es keine Überraschung, dass Putins Regierung jede gesellschaftliche Initiative – egal, ob Umweltschutz oder Vegangenheitsaufarbeitung – mittlerweile zu feindlicher Einmischung und ausländischem Agententum erklärt hat.

Denn wer in einem Land, in dem so offensichtlich Gewalt und Willkür regieren, Menschenrechte einfordert, demokratische Grundrechte und den Schutz des Einzelnen, der stellt das regierende System an der entscheidenden Stelle infrage. Der überlässt es nicht mehr den Herren im Kreml, für einen zu denken und Entscheidungen zu treffen, der beugt sich nicht mehr ängstlich, wenn ihm Gewalt angetan wird oder ihn ein Einsatzbefehl in einen sinnlosen Krieg schickt. Der stellt – ganz knapp gesagt – den Tyrannen infrage. Und mit ihm sein egoistisches Agieren.

So wie in der dritten Geschichte der Tyrann der Familie infrage gestellt wurde.

Und auch deshalb hat die Putin-Regierung das Gesetz gegen Gewalt in der Familie wieder zahnlos gemacht, wohl wissend, dass die Tyrannen in den Familien genau das fortsetzen, was eine kleine, rücksichtslose Clique mit dem ganzen Land macht. Und natürlich stellt sich Hans auch die Frage, ob wir vielleicht einmal ein anderes Russland erleben, das die alten Teufelskreise von Gewalt und Tyrannei verlässt.

Hoffnungszeichen sieht er durchaus. Aber er weiß auch: „Das Beispiel der Staniza Kuschtschowskaja zeigt aber auch, dass eine Gesellschaft in einem Teufelskreis der Gewalt gefangen bleiben kann.“

Gewalt als letzter Ausweg

Und das eben vor allem, wenn der Einzelne keinen Schutz erfährt durch Polizei und Justiz und die Banditen selbst den Zugriff auf das Machtmonopol haben. Und gleichzeitig Gewalt und Brutalität öffentlich gefeiert wird – man denke nur an die Rolle des „Wagner“-Chefs Prigoschin, der in diesem Tümpel der Rücksichtslosigkeit ganz kurz eine Rolle spielte, die Putin durchaus gefährlich werden konnte. Weshalb er dann auch eines ziemlich absehbaren Todes starb.

Denn in einer Gesellschaft, in der nur noch Gewalt gefeiert wird, sind es am Ende die Räuber und Piraten, die auf einmal im Rampenlicht stehen und den Zaren im Kreml gefährden. Selbst wenn es – wie in der zweiten Geschichte im Buch – nur eine Handvoll sibirischer Jugendlicher sind, die von der Polizeiwillkür die Nase voll haben und dann selbst zur Gewalt greifen.

Es ist ein Einblick in die russische Gesellschaft, wie ihn bislang nur wenige Bücher geboten haben, weil sich auch die Russland-Kenner meist nur mit der Regierungspolitik im Kreml beschäftigen, aber nicht damit, wie diese das ganze Land durchwuchert und demoralisiert. Und am Ende diejenigen, die sich noch getraut haben zu widersprechen, außer Landes treibt, wenn sie nicht für Jahre im russischen Gulag verschwinden wollen.

Ein Buch, das einen Blick hinter die porösen Kulissen erlaubt. In eine Welt, die mit dem Leben in einer Demokratie nichts mehr zu tun hat, außer die staatlich manipulierten Scheinwahlen. Und dennoch wissen die Menschen durchaus noch, was Anstand und Gerechtigkeit sind. Auch wenn beides in ihrem Alltag nicht offen lebbar ist.

Julian Hans„Kinder der Gewalt“ C.H. Beck, München 2024, 18 Euro.

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