Dieses Buch ist ein Projekt. Es hat ein Weilchen gedauert, bis aus der Idee von Ulrike Loos auch ein richtiges Projekt wurde, in dem die Schule am Rabet eine ganz zentrale Rolle spielt, eine jene Leipziger Schulen mit hohem Anteil an Kindern mit migrantischen Wurzeln. Aber wenn es um die tatsächlichen Dinge des Lebens geht, ticken Kinder aus aller Welt ganz ähnlich. Man muss es nur sehen wollen.
Und mit diesem Buch kann man es sehen, denn es lebt von den Bildern der Kinder aus der Schule am Rabet, die das, was Ulrike Loos in Verse gefasst hat, in Bilder umgesetzt haben. Ein nicht unbedingt selbstverständlicher Vorgang.
Denn viele Kinder haben aus bekannten Gründen mit der deutschen Sprache und ihren Feinheiten zu ringen. Und Sprache lernt man nun einmal am besten, indem man sie anwendet. Immer wieder. Und am besten auch gleich noch mit den Händen. Denn so kann man sie auch ergreifen und begreifen.
Und in die eigene Vorstellungswelt übersetzen. Denn so funktioniert Sprache ja: als Bild, nicht als Abstraktum. Und deswegen hat das Projekt an der Schule am Rabet auch funktioniert. Die Kinder beschäftigten sich mit den kindgerechten Gedichten von Ulrike Loos, die auch allesamt nur Themen direkt aus der Erlebniswelt der Kinder thematisieren, und setzten sie mit Buntstift und Tusche in Bilder um.
Die Welt ist voller Farbe
Und Bilder haben alle Kinder im Kopf. Märchenbilder, Tierbilder, Wetterbilder, Bilder von Familie und vom eigenen Kinderzimmer mit Blumen, Bett und Spielzeug. Und auch Bilder von sich selbst. Wenn auch durch die kindliche Brille gesehen. In der Grundschule ist der Druck ja noch nicht so groß, irgendwelchen Bildern von „Schönheit“ genügen zu müssen.
Da ist man in der Regel noch unzersplittert Kind und der unerschütterlichen Überzeugung, dass einen alle anderen genauso sehen, wie man sich selbst im Spiegel sieht.
Und so ist es natürlich noch eine ungebrochene Welt, die einem in den Bildern in diesem Buch begegnet. Jene Bilderwelt, mit der die kleinen Menschlein beginnen, ihrer Welterfahrung Form und Farbe zu geben, unbekümmert darum, ob die Farbe aus dem Buntstift nun genau trifft, was man sieht. Blau ist blau, Gelb ist gelb. Und die Sonne ist gelb und Kirschen grinsen. Regen besteht aus ordentlichen Regentropfen. Und das Springen in Pfützen und Matsch bekommt ein sattes, platschiges Geräusch.
Darin begegnen sich Gedichte und Zeichnungen: Sie nehmen die Welt noch ohne doppelten Boden. Wenn es auch manchmal schwierig ist, eine Kohlmeise wie eine Kohlmeise aussehen zu lassen und einen Hasen wie einen Hasen. Man merkt schon, dass Eltern und Lehrerinnen mit den Kindern noch nicht angefangen haben, wirklich herauszugehen in die Natur und die Dinge so zu malen, wie man sie sieht.
Das lernt man erst später. Oder besser: Manche lernen das später. Viele malen ihr Leben lang wie die Kindergartenkinder.
Obwohl die meisten Leute so eine Ahnung haben, dass man, wenn man die Welt immer nur mit naiven Augen sieht, die Welt nicht richtig sieht. Und deshalb auch nicht richtig spricht über die Welt, wie sie ist. Man bleibt naiv. Mit diesem Buch ist man mittendrin in der Diskussion um den Zustand unserer Schulen im Allgemeinen und der Grundschulen im Besonderen: Wird dort die Wirklichkeit eigentlich so vermittelt, dass die Kinder damit umzugehen lernen? Also kindgerecht und aufschlussreich?
Was siehst du?
So wie es in diesen Projektstunden mit den Gedichten von Ulrike Loos passiert ist, wo sich die spielerische Mehrdeutigkeit der Gedichte über das Zeichnen und Malen erschließt. Noch nicht mit dem Zeigefinger: Das musst du aber sehen!
Nein. Wir müssen gar nicht alles sehen. Aber wir können lernen, viel zu sehen. Und vielem ein Bild zu geben. Dem Schokowicht, der den leckeren Kuchen gemaust hat, der kleinen Hexe, die richtig Spaß hat, einen Hexentrunk zu brauen, dem Hündchen Jolka und dem Wald, der voller Töne ist – die wir aber nur hören, wenn wir mal selber still sind.
Für viele Kinder, die nicht in die deutsche Sprache hineingeboren wurden, war das ganz bestimmt eine Herausforderung. Und ein Abenteuer, das Gehörte in Bilder umzusetzen. Fröhliche Bilder, auch wenn manchmal ein schimpfender Papa drin vorkommt, Sehnsucht nach Hause, wo immer es auch ist, oder der Kampf um die Möhren auf dem Teller, die man nicht so mag.
Oder doch? Gedichte können auch eine Überredung sein. Gerade das Gedicht „Gemüse essen“ zeigt ja, wie das passiert im Kopf, wie man einfach dadurch, dass man die Dinge anders erzählt (zum Beispiel mit einem mümmelnden Hasen), auch die eigene Sicht auf die Dinge ändert.
Mit anderen Augen
Auch so etwas, was zum Großwerden gehört: Zu lernen, wie man eingefahrene Schleifen, Vorurteile und falsche Sichtweisen auflösen kann, indem man einfach mal anders auf die Dinge schaut, sich in jemand anderes verwandelt – einen Hasen, den Hund Jolka oder den Monat April, der seinen Schabernack treibt.
Und siehe da: Auf einmal wird das dann auch ein Buch für Erwachsene, die immer alles so ernst nehmen und aus ihrer trüben Laune nicht herauskommen. Und selbst so ein bisschen Regen oder Schnee für eine Zumutung halten. Statt die Dinge mal wieder mit Kinderaugen zu sehen. Dann könnte man ja wieder ein bisschen Spaß dabei haben. Und an den Kindern mit ihrer unbändigen Art, alle Gefühle zu zeigen, sowieso.
Und wenn dann auch noch ein paar neue Wörter hängen bleiben, die man in der Schule normalerweise nicht lernt – noch besser. Wobei die im Titel auftauchende Pferdinande dabei gar nicht die größte Rolle spielt. Eher so schöne Worte wie Kopf-Nuss, Handvoll, Hochgenuss, Pappkarton oder Burgfräulein.
Worte, die selbst schon Bilder sind. Man muss sich nur hinsetzen, mit Tuschkasten und Papier. Los geht’s … Oder Ulrike Loos zitiert: „Jedes Kind ist ein Künstler …“
Stimmt.
Nur die meisten vergessen das, wenn sie groß und grummelig werden.
Ulrike Loos „Fünfzig Verse für Pferdinande“ Edition Hamouda, Leipzig 2024, 14 Euro.
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