Ist es ein Kurzroman? Oder nur das Fragment eines Romans, der einer hätte werden können, wenn Joseph Conrad oder Ford Madox Ford oder beide die Kraft gefunden hätten, aus dem Stoff tatsächlich ein großes Ding zu machen? Oder ist es am Ende das Psychogramm eines auf beklemmende Art modernen Menschen, der seine innere Leere auskippt in Briefen an eine Frau, die er vielleicht liebt. Wahrscheinlich aber eher nicht. Ein literarisches Fundstück.
Aufgetrieben hat es wieder Michael Klein, der im Morio Verlag schon eine Reihe von Büchern klassischer Autoren herausgebracht hat, die man für gewöhnlich in ihren Werkausgaben nicht findet. In der Regel sind es kleine literarische Leckerbissen, die die berühmten Autoren auch mal von einer anderen Seite zeigen.
In diesem Fall tatsächlich gleich zwei, die im literarischen Kosmos für gewöhnlich jeweils ein Eigenleben führen. Nur die Hardcore-Leser wissen, dass beide auch mehrere Romane gemeinsam schrieben und publizierten.
Aber „Die Natur eines Verbrechens“ nimmt selbst da eine Ausnahmestellung ein, auch wenn die Geschichte sogar gleich viermal veröffentlicht wurde, 1924 gleich in zwei Ausgaben, die auch die Vorworte von Conrad und Ford enthielten, in denen beide erklärten, wie sie eigentlich zu dieser Geschichte gekommen sind.
Schreiben im Duett
Was Michael Klein, der alles übersetzt hat, seinen Leserinnen natürlich auch nicht vorenthält. Denn darin deutet sich ja das durchaus nicht spannungsarme Verhältnis der beiden weltberühmten Autoren zueinander an. Auch ihre Koketterie und ihr Versuch, der Öffentlichkeit nicht das Bild eines zerrütteten Verhältnisses zu geben. Immerhin erschien die Geschichte in der Neuausgabe kurz von Conrads Tod im Jahr 1924. Was es für Spurensucher wie Klein natürlich noch spannender macht, herauszufinden, wie die beiden Berühmten tatsächlich miteinander klarkamen und zusammenarbeiteten.
Das schildert er in diesem Buch ausführlich und kann dafür natürlich auch auf diverse Selbstauskünfte von Ford Madox Ford zurückgreifen, dem Jüngeren der beiden, der zwar schon einiges veröffentlicht hatte, als er den längst berühmten Joseph Conrad kennenlernte.
Aber die Qualitäten in Fords Werk entdeckte die literarische Welt erst später. Wobei in der Begegnung der beiden auch etwas zündete, was auch bei Autoren-Duos, die es ja in der Weltliteratur durchaus gibt, recht selten ist. Und „Die Natur eines Verbrechens“ zeigt, wie das zusammenfloss.
Wobei die Geschichte, die so fragmentarisch erscheint, über mehrere Jahre entstanden sein muss und den beiden beim Schreiben einen ganz professionellen Spaß gemacht haben muss, wenn sie sich gegenseitig die neu entstandenen Teile vorgelesen haben. Dass es trotzdem keine Spaß-Geschichte ist, sondern für beide einen sehr ernsten Hintergrund hatte, erfährt man in dem sehr umfangreichen Teil mit den Dokumenten zu diesem Schriftstück.
Denn beide hatten in ihrer Familiengeschichte einen solchen Betrugsfall, in dem ein Treuhänder das ihm anvertraute Hab und Gut veruntreute bzw. an sich riss. Für Conrad war das eine alte Familiengeschichte aus Polen. Ford Madox Ford, der zur Zeit der Entstehung der Geschichte noch Ford Hermann Hueffer hieß, hatte aus einer ähnlichen Geschichte, die in Griechenland geschah, schon eine erste Skizze gemacht.
Der Kampf um die „English Review“
Aber 1909, als „Die Natur eine Verbrechens“ erstmals in der von Ford gegründeten „English Review“ erschien, kam noch dessen aufreibender Kampf um das Überleben dieses anspruchsvollen Literaturmagazins hinzu. Das Magazin ist bis heute legendär – aber wie das mit solchen anspruchsvollen Projekten so ist: Es finden sich nicht genug Abonnenten, um es tatsächlich auf finanziell sichere Füße zu stellen.
Der Kampf ums Überleben wird zum Albtraum des Herausgebers – und bringt ihn zwangsläufig in jene Denkschleifen, in denen er sich nur noch als Hochstapler und Betrüger fühlt, weil geliehenes Geld verbrannt wurde und die Schulden immer drückender werden.
Da kann man sich natürlich fragen, ob Ford/Hueffer dabei tatsächlich an Selbstmord dachte wie der Briefeschreiber in „Die Natur eines Verbrechens“. Denn was Ford mit der „English Review“ machte, war ja nicht ansatzweise kriminell. Was aber der Briefeschreiber getan hat und was er nun seiner Adressatin in Rom schreibt, war es auf jeden Fall, denn er hat das Erbe einer reichen Familie, das ihm anvertraut war, verspielt, verzockt, für eigene Genüsse ausgegeben.
Wenn der junge Burden 25 Jahre alt wird und heiratet, steht ihm das ganze Erbe seiner Eltern zu. Und der Tag steht kurz bevor. Burden hat schon angekündigt, seine Anwälte die geschäftlichen Unterlagen einsehen zu lassen. Womit der Betrug dann aufgeflogen wäre.
Für den Briefeschreiber der Moment, einen ganzen Packen von Selbsterklärungen an die ferne Frau zu schreiben und ihr seine Verfehlungen zu beichten. Und seinen bevorstehenden Tod anzukündigen, denn er will sich weder ins Gefängnis stecken lassen, noch ins Ausland fliehen. Dabei geht es ihm nicht einmal um seinen Ruf. Denn er ist ein Spieler und verachtet die Anständigkeit und Vertrauensseligkeit seiner Mitmenschen.
Herzlich willkommen in der Gegenwart.
Die Glorifizierung der Hochstapler
Der Typus ist nicht ausgestorben. Im Gegenteil: Er lacht sich eins ins Fäustchen, weil es noch viel leichter geworden ist, sich auf betrügerische Art fadenscheinigen Reichtum anzuhäufen.
Klein würdigt in seinem Nachwort „Lebenslügen und das Schimmern möglicher Diamanten im Kohlestaub“ das „emotionale Hin und Her“, mit dem sich der Briefeschreiber in seinen Briefen versucht herauszureden, mal Schuld eingesteht, dann wieder über den naiven Edward Burden lästert und dann sogar darüber philosophiert, wie er doch eigentlich der cleverere Ehemann für dessen Verlobte Miss Averies wäre.
Auch das kommt einem bekannt vor: Diese Verachtung für anständige Menschen, die voller Skrupel sind, sich einfach das Eigentum fremder Menschen anzueignen, alle Tricks anzuwenden, um sich die größten Stücke vom Kuchen zu nehmen und diese Fähigkeit zur Skrupellosigkeit dann als Leistungsträgerschaft behaupten. Unsere ganze Gesellschaft ist davon durchdrungen.
Nur lassen die Briefe, die Ford und Conrad hier gemeinsam entstehen ließen, auch die Leere in der Welt dieses Betrügers sichtbar werden. Denn Liebesbriefe an die ferne Geliebte sind das ganz bestimmt nicht. Dazu sind dies Briefe zu eitel und zu egoistisch, changieren zwischen Arroganz, Selbstbemitleidung und Anmaßung. Was sie ganz bestimmt nicht zeigen, ist echte Vertrautheit mit der Adressatin.
Als wäre das ganze Verliebtsein nur Einbildung und Pose. Die angesprochene Person eigentlich nur eine Fiktion im Kopf eines Mannes, der zu wirklich ernsthaften Gefühlen nicht fähig ist. Was auch mit seinem Macher-Wahn zu tun hat. Wovon ja eine Menge Männer nicht frei sind.
Man trifft diese Typen ja immer wieder. Breitbeinig stehen sie da und erklären allen anderen, wie naiv und dumm sie sind. Nur sie sind echte Macher-Genies, die große Projekte – wie Eisenbahnen – auf die Reihe kriegen. Ach ja, sorry: Heute kriegen sie ja nicht einmal mehr Eisenbahnen auf die Reihe. In ihren Businessanzügen sind sie tatsächlich gefühlskalt und leer.
Alles ist nur Show und Spiel für sie. Das ist das beklemmend Gegenwärtige an dieser Geschichte, in der zumindest Ford auch den Keim für einen ganz anders strukturierten Hochstapler-Roman sah (das sind die „Diamanten im Kohlestaub“). Denn wenn es Miss Averies nur ein bisschen ernster meinte und die Unterlagen tatsächlich gründlich prüfen ließe, dann wäre das eigentliche Drama perfekt. Dan müsste der Betrüger Farbe bekennen und sich – wie angekündigt – umbringen.
Und die Heirat des jungen Burden würde in einer großen Tragödie enden, wenn klar wird, dass das gesamte Erbe verspielt und veruntreut wurde. Und im England dieser Zeit wäre das nicht für den Betrüger peinlich, sondern für den Erben, der auf einmal nackt und bestohlen da steht und Miss Averies gar nicht versorgen kann.
Glanz, Elend, Tragik, Lächerlichkeit
Im Finden von guten Stoffen war Ford richtig gut. Und einige Stoffe hat er ohne Federlesens an Conrad weitergereicht, damit der in seiner Not wieder einen verkaufsträchtigen Titel schreiben konnte.
So betrachtet, ist „Die Natur eines Verbrechens“ auch die mögliche Keimzelle eines Romans über einen eiskalten Hochstapler, der die Leere in seinem Leben mit Verachtung gefüllt hat.
„Und gerade dies gehört zum Gelungenen dieses Kurzromans, in dem wir keine klare, eindeutige Realität erzählt bekommen, sondern ein schillerndes Changieren, in dem aus einer Innenperspektive eine Realität wechselhaft beleuchtet wird“, schreibt Klein. „Glanz, Elend, Tragik, Lächerlichkeit – alle die Möglichkeiten des Menschseins liegen in diesem Protagonisten.“
Aber was ist nur Pose? Was ist echt? Oder gibt es in der Welt des Blenders gar nichts Echtes mehr, weil alles nur Spiel ist und er zu echter Nähe gar nicht fähig ist?
Was ja erstaunliche Weiterungen mit sich bringt, wenn man tatsächlich versucht, diesen Typus Mann zu verstehen, der ja in gewisser Weise der klassische homo oeconomicus ist, wie er sich heute überall zeigt: immer auf seinen Vorteil bedacht, überzeugt davon, dass Übervorteilung und Raffgier echte Tugenden sind und Vertrauenswürdigkeit bestenfalls ein schönes Wort fürs Marketing.
Natürlich erfährt man nicht, was die Adressatin mit diesen Briefen angefangen hat. In Kapitel VIII jedenfalls hatten Ford und Conrad von der Story irgendwie die Nase voll und schafften sich die ganze Personage mit einem Federstrich vom Hals. Die Prüfung der Bücher wird abgesagt, die Burdens gehen erst mal auf Hochzeitsreise und der Betrüger bekommt die Chance, alles wiedergutzumachen.
Was ja bekanntlich im Leben nicht geschieht. Das Gefühl ist also doch irgendwie berechtigt, dass einem hier die eigentliche Tragödie vorenthalten wird. Aber auch das ist ja nicht neu. Die Betrüger erhalten ja in der Regel alles Verständnis der Welt. Während die von ihnen Betrogenen die ganze Häme einer Gesellschaft abbekommen, die überzeugt ist, dass echte Gefühle für Mitmenschen Verschwendung und Überfluss sind, die man sich nicht leisten kann.
Das Selbstmitleid des Betrügers
Natürlich ist das auch ein Aspekt dieser Geschichte, die viele ihrer Facetten erst erschließt, wenn man den reichen Dokumententeil zu diesem Buch liest. Ein Aspekt, der auch direkt mit dem Befinden der ganz normalen Leute zu tu hat, die die Gefühle des Hochstaplers ja genauso kennen. In einer Welt des gnadenvoll ausgereichten Geldes darf sich selbst der kleinste Antragsteller immerfort als Betrüger und Veruntreuer fühlen, wenn er auch nur einen Euro nicht korrekt belegen kann.
Ford Madox Ford dürfte das Gefühl nur zu gut gekannt haben. Vielleicht war er auch deshalb bereit, an der Stelle lieber nicht weiterzumachen und den eitlen Briefeschreiber in seiner Tretmühle weiterleben zu lassen. Auch wenn der im letzten Satz wieder die ganze Verantwortung auf die Adressatin abwälzen will: „Nun also, mir bleibt eine Gnadenfrist – und der endgültige Urteilsspruch liegt in Deinen Händen.“
So mag man die Kerle: Nie stehen sie wirklich zu dem, was sie tun. Und dann wollen sie auch noch verstanden und begnadigt werden.
Wirklich geschmeichelt dürfte sich eine Frau nicht gerade fühlen, wenn sie so ein Briefkonvolut bekommt. Denn das Schlimme ist: Nirgendwo kommt die Adressatin selbst irgendwie vor. Aber es stimmt schon: Das Urteil liegt in den Händen derer, die das lesen. Also in unseren. Und das dürfte nicht schwerfallen, wenn der Bursche die Adressatin auch noch zu erpressen versucht, indem er sie vor der Wahl stellt, „mein zu sein“, oder er würde weitermachen, mit dem Burden-Geld zu spielen.
Das klingt nicht nach einem ehrlichen Angebot.
Aber das Buch ist eben gerade deshalb eine Einladung, über die Verzwicktheit dieser Geschichte nachzudenken. Und so nebenbei einen Blick zu tun in die gemeinsame Arbeit zweier Autoren, die heute schon zu den Klassikern der Moderne gehörten.
Joseph Conrad, Ford Madox Ford „Die Natur eines Verbrechens“ Morio Verlag, Heidelberg 2024, 28 Euro.
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