Lesen die Leute keine dicken Bücher mehr? Sollte man sie nicht mit kleineren Formaten abholen? Das könnte für viele Leser, die sich von dicken Wälzern abgeschreckt fühlen, ein Einstieg sein in ein Lesevergnügen, das sich bewältigen lässt. Und so legte nun auch der im märkische Letschin beheimatete Verlag Sol et Chant eine eigene Miniaturen-Reihe auf, in der es fortan „Große Literatur im kleinen Format“ geben soll. Band 2 in dieser Reihe ist „Die Heringslinde“.
Geschrieben von Daniela Herzberg, die Leserinnen und Leser schon von ihrer kleinen Dackelgeschichte „A wie Alles“ her kennen. Die Autorin lebt in Hamburg und auch in Schleswig-Holstein. Und dort handelt auch ihre Erzählung, und zwar ganz oben, in einem Dorf bei Kappeln, das bis 2006 auch Garnisonsstadt war, bis der hier gelegene Marinestützpunkt Olpenitz geschlossen wurde.
Für deutsche Kleinstädte sind solche Militärstützpunkte oft ein wichtiger Wirtschaftszweig. Wie sehr das Gewerbe in der Stadt von den Soldaten lebt, merkt man meist erst, wenn diese verschwunden sind.
Aber das spielt in Herzbergs Geschichte nur ganz am Rande eine Rolle, obwohl es natürlich eine Rolle spielt. Denn vom Funktionieren der Stadt hängen dann auch wieder die Dörfer und Gewerbetreibenden ringsum ab. Auch sie spüren es, wenn die Nachfrage zurückgeht. Dann beginnt das Unbehagen zu nagen und die Stimmung zu kippen. Und dann passiert oft genug das, was man beim Lesen eigentlich eher in einem Nest irgendwo in Ostdeutschland verorten würde.
Ein Trugschluss
Aber das ist einer der Trugschlüsse unserer Gegenwart, dass das etwas mit Himmelsrichtungen zu tun hat. Denn dasselbe Phänomen erleben längst auch Dörfer in den west-, süd- und norddeutschen Provinzen. Davon erzählen ja unter anderem auch die teilweise völlig entgleisenden Bauerndemos des Winters. Und in ihrer Erzählung schildert Daniela Herzberg, wie das passiert.
Zwar noch ohne Bauerndemo. Aber es genügt Weniges, um aus einem labilen Gleichgewicht in so einem Dorf binnen weniger Tage eine aufgeheizte Stimmung entstehen zu lassen, in der sich der Erzähler Simon auf einmal in der Rolle des gejagten Wildes wiederfindet.
Nicht ganz unschuldig an der Situation, denn dass er im Dorf eigentlich ein Fremdkörper geblieben ist und einfach den richtigen Zeitpunkt verpasst hat, diesen verkrusteten Flecken Erde zu verlassen, wird ziemlich schnell klar. Und dass er sich für seinen im Funzellicht geschriebenen Brief dann auch noch den falschen Adressaten ausgesucht hat, wird auch ziemlich schnell deutlich.
Es ist auch eine verkorkste Familiengeschichte. Von Liebesgeschichte möchte man gar nicht reden, denn irgendwie scheint dieser Simon auch nie auf die Idee gekommen zu sein, seine Jugendliebe Margit, die seinen besten Kumpel geheiratet hat, einfach loszulassen, seine Koffer zu packen und anderswo nach einer Frau fürs Leben zu suchen.
Man darf den Kopf schütteln über diesen Burschen, der jetzt, da er darauf rechnen kann, dass ihn seine alten Dorfkumpel lynchen werden, anfängt, sich zu erklären. Von rechtfertigen kann keine Rede sein.
Willkommen im deutschen Dorf, könnte man sagen.
Das Dorf rechtfertigt sich nicht. Das Dorf jammert, beschwert sich und hat immer recht. Aber es ergründet nicht die Tiefen seiner Seele. Das ist eine städtische Angelegenheit. Auf so eine Idee kommen nur Leute, die täglich vielen anderen, wirklich fremden Menschen begegnen und erleben, dass es solche Stereotype wie „Wir sind das Volk“ gar nicht gibt. Gar nicht geben kann.
Das „Volk“ ist eine Dorferfindung, wo man sich in labilen Nachbarschaften einrichtet und sichere Deckung hinter Tabus und Selbstgerechtigkeit sucht. Man schwatzt zwar über alles und glaubt alles über alle zu wissen – die Kontrolle übereinander scheint vollkommen. Aber über das Wichtigste, was Menschen wirklich aufwühlt, redet man nicht. Gefühle versteckt man hinter einer bärbeißigen Miene.
Wer sieht denn hier Nazis?
Wobei es Simon den Anderen immer leicht gemacht hat, ihn als Schwächling zu betrachten, als einen, mit dem man alles machen kann: Er steht nicht zu seinen eigenen Gedanken und Gefühlen. Und da genügt ein einziger Moment, da er auf seiner Trompete (er ist ja eigentlich auch unersetzliches Mitglied der Dorfkapelle) statt eines flotten Jagdliedes ein nettes Volksliedchen bläst. Und das auch noch an dem Tag, da ein angereistes buntes Völkchen aus der nahen Großstadt auf der Dorfstraße gegen die Nazis im Dorf demonstriert.
Die es natürlich nicht gibt.
In keinem Dorf gibt es Nazis. Nur „unsere Jungs“, egal, wie kurz die ihre Haare tragen und wie grimmig ihre Kumpels dreinblicken, die anreisen, wenn es gegen die „falschen Vorwürfe“ aus der Großstadt geht, wo man ja eh keine Ahnung hat. Wie es wirklich ist, in einem Dorf zu leben, weiß man ja nur hier.
Es ist eine ziemlich beklemmende Atmosphäre, in die man mit Herzbergs Geschichte hineinkommt, Stück für Stück, denn Simon kommt natürlich ewig nicht zum Punkt und auf die eigentlich wichtigen Ereignisse, die dazu geführt haben, dass er sich nun im Stall versteckt. Er hat’s also auch jetzt noch nicht wirklich verstanden, dass die ganze wilde Empörung eben auch damit zu tun hat, dass er sich viel zu lange irgendwie angepasst hat, sich weggeduckt und geschwiegen hat. Statt gegenzuhalten.
Denn so betrachtet ist das auch eine Geschichte über unser ganzes Land, das voller grollender Dorfbewohner ist, die über die Gründe ihres Grolls nie wirklich nachdenken. Denn schuld sind immer nur die Anderen. Die Großstädter, die von nichts eine Ahnung haben. Und wenn mal keine Ausländer da sind, dann eben verdruckste Typen wie Simon, die im entscheidenden Moment nicht zur Jagd blasen, sondern lieber romantische Töne in den Himmel blasen. So wird das Dorf blamiert. So denkt sich das Dorf blamiert.
Der schöne Schein
Der schöne Schein ist wichtiger als ein klares Bekenntnis gegen Nazis. Die es ja nicht gibt. Man verhält sich ja auch nicht so. Und dass man als lärmender Mob vorm Wohnhaus von Margit steht, ist nur ein Versehen. Passiert eben. Wo alle gewohnt sind, sich dem Haufen abzupassen, brüllt jeder mit. Denn nichts scheint schlimmer, als morgen selbst dazusitzen im Haus und draußen brüllen die Anderen.
Eigentlich ist es auch eine Geschichte darüber, warum sensible junge Leute die Dörfer lieber verlassen, sobald es möglich ist. Auch wenn es der Junge, von dem Simon sich sicher ist, dass es sein Sohn ist, das nicht getan hat. Was Folgen hat, die für Simon am Ende noch ein paar mehr falsche Vorstellungen platzen lassen. Manchmal ist es einfach fürchterlich zu spät, um aus der Deckung zu kommen.
Und Gutes hat er nicht mehr zu erwarten. Das macht ihm endgültig die Szene auf dem Dorfplatz deutlich, wo einer seiner einstigen „Freunde“ einen Berg Heringe mit dem Hochdruckwasserstrahl filetiert. Wahrscheinlich ist das auch in Ostseeküstendörfern nicht wirklich üblich.
Aber es ist ein Bild. Ein gewaltvolles, mit dem die Erzählung zumindest ausklingt. Denn eins ist Simon da endgültig klar: Wenn er die Flucht nicht schafft, werden sie ihn windelweich prügeln. Denn verletzter Stolz (den sich ja die „Wir sind keine“-Nazis so gern auf die T-Shirts drucken lassen) reagiert immer mit Gewalt, muss sich rächen und braucht dafür nur all die fadenscheinigen Gründe von Stolz und Ehre. Was Simon hätte wissen müssen.
Doch statt sich gegen diese Erwartungen zu stellen, die ja auch nur entstehen, weil einer anfängt zu drohen und die Andere dann ohne nachzudenken mitmachen, hat er immer gekniffen und ist geflüchtet.
Das aber ist schon immer die falsche Reaktion gewesen auf die „Wir sind wir“. Die Dinge eskalieren, weil alle irgendwie mitmachen und keiner einfach sagt: Nicht mit mir! Denn erst, wenn einer aufsteht, kommen die Mitläufer ins Grübeln und fangen an zu überlegen, ob das Mobben eigentlich Sinn ergibt.
Aber das hat Simon verpasst. Wieder einmal.
Keine angenehme Geschichte. Aber eine, die etwas erzählt über unsere Gegenwart und was darin gerade passiert.
Daniela Herzberg „Die Heringslinde“ Verlag Sol et Chant, Letschion 2024, 5 Euro.
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