Wie denken eigentlich Autorinnen und Autoren über ihr eigenes Schreiben? Wie kommen sie zu ihren Themen? Wie bewältigen sie den Stoff? Wie prägt ihr Leben ihr Schreiben? All das sind Fragen, die den Dresdner Autor und Herausgeber Axel Helbig seit Jahren beschäftigen. Aber die Antwort findet man natürlich nicht in den Büchern. Dazu muss man die Dichterinnen und Dichter schon mal zu ausführlichen Interviews einbestellen. Oder selbst hinfahren, wo sie leben und arbeiten.

Entstanden sind bei solchen Gelegenheiten sehr ausführliche Gespräche, bei denen die befragten Schriftstellerinnen und Schriftsteller bereitwillig Auskunft gaben. Auch weil Helbig andere Fragen stellte, als sie für gewöhnlich das Feuilleton stellt, das es immer eilig hat, ein Buch schnell irgendwo einzuordnen und dem Autor ein Etikett zu verpassen.

Dabei geht das, was auch die Leserinnen und Leser an Büchern wirklich für gewöhnlich mitreißt und anspricht, meist völlig unter. Und damit auch die Wirkung der Bücher. Natürlich gibt es auch die Autoren, die gleich „für den Markt“ schreiben, die die Erwartungen des Publikums und der Vermarkter bedienen, aber sonst eigentlich nichts wollen.

Schon gar keine Begegnung der Lesenden mit ihrer eigenen Geschichte, ihrer Herkunft und ihren Erwartungen ans Leben. Intentionen, die sich natürlich auch in die Bücher eingeschrieben haben, die hier zum Thema werden. Und natürlich gehen etliche der von Helbig für diesen Band Befragten darauf ein, wie sich ihre Bücher schreiben, wie sie ihren eigenen Regeln und Zwängen folgen.

Wie sich Geschichten erzählen

Darauf gehen Ann Cotten und Jaroslaw Rudis genauso ein wie Ingo Schulze oder Ulrike Draesner. Völlig unterschiedliche Autoren, die aber längst wissen, dass es immer die zu erzählende Geschichte ist, die am Ende die Regie übernimmt. Und welcher der Autor folgen muss. Oder folgen darf. Denn natürlich ist es die Geschichte, die in ihm (oder ihr) langsam herangereift ist, die ihre zwingende Logik hat und den Autor führt – der meist gar nicht weiß, wo er am Ende herauskommt.

Und trotzdem ist es sein Buch und seine Geschichte. Als Autor lernt man, diese Eigendynamik der Geschichten zuzulassen. Die manchmal mit einem Gedanken beginnt, eine Idee, einem Thema, das die Autoren reizt. Und dann spüren sie dem nach, gehen regelrecht auf Recherche.

Denn wer professionell schreibt, weiß, dass man die Dinge, über die man schreibt, gesehen, gerochen, gespürt, haben muss. So wie Rudis für seinen Roman „Winterbergs letzte Reise“ die Schlachtfelder von Königgrätz 1866 bereist hat und den Baedeker von 1913 zur Hand genommen hat, mit dem das K.u.K.-Österreich vor dem Ersten Weltkrieg noch erlebbar ist.

Was in den 19 Gesprächen, die in diesem nunmehr dritten Band „Der eigene Ton“ versammelt sind, deutlich wird, ist dadurch auch die Tatsache, dass das Schreiben mit der tief sitzenden Veranlagung zusammenhängt, überhaupt Geschichten erzählen zu müssen, die Welt als eine Bibliothek voller Geschichten zu begreifen. Und fast jede Befragte erzählt auch davon, dass Bücher für die von Helbig Interviewten von Kindheit an zum Leben gehörten.

Oft standen sie (auch gern in zweiter Reihe) in den Bücherschränken der Eltern oder kamen als Heilung in Situationen der Langeweile, der Einsamkeit oder der Unterforderung. Manchmal früher, manchmal später. Manchmal als Schlüssel in verbotene Welten, wovon in diesen Gesprächen insbesondere Franz Hodjak, Uwe Kolbe und Hans Joachim Schädlich zu erzählen haben. Alle drei auf ihre Weise Grenzgänger.

In zwei Welten zuhause

Wobei Grenzgängerinnen es Helbig besonders angetan haben, denn wer im Leben Grenzen überschreiten muss, weil sich sein Land radikal verändert oder die Familie tatsächlich ausreisen muss, der sieht mehr. Der sieht nicht nur zwei Kulturen, der lernt auch (oft mehr als) zwei Sprachen und ist dann in der neu gelernten Sprache oft viel heimischer als in der Sprache der Kindheit.

Etwas, worüber Maria Cecilia Barbetta, Katerina Polodjan und auch Jaroslav Rudis eine Menge zu erzählen haben. Denn wer sich in die deutsche Sprache einlebt, der geht aufmerksamer mit ihr um, merkt, welcher Reichtum und welche Schönheit darin stecken.

Und es gibt auch die Verstoßenen, könnte man sagen – Dichter wie Andreas Reimann, die erlebt haben, wie schnell man mit Mächtigen in Konflikt gerät, wenn man das, was einen umtreibt und aufregt, in Sprache fasst. Sein Interview wird geradezu zu einer Lebensreise, in der sich dann – keineswegs zufällig – die deutschen Diktaturen begegnen, die jede für sich rabiat mit dem Großvater von Andreas Reimann, Hans Reimann, mit seinem Vater Peter Reimann und mit ihm selbst umgegangen sind.

Andreas Reimann kann nicht nur ein Lied davon singen, wie die Funktionäre in der DDR den unangepassten Schriftsetzer-Dichter aus Leipzig mundtot machen wollten und seine Bücher zu verhindern versuchten.

Und das, obwohl ihn mehrere Kritiker für den besten derzeit lebenden deutschen Dichter halten.

Natürlich ist das ein subjektiver Maßstab. Aber Andreas Reimann thematisiert es selbst, wie er gerade dadurch, dass ihm das Scrheiben für den Tag versagt wurde, eben daran arbeitete – auch stilistisch – über den Tag hinaus zu schreiben. Auch das wird deutlich, dass das Schreiben letztlich, wenn es jemand wirklich ernsthaft betreibt, immer ein Schreiben über die Zeiten hinweg ist.

Das wird selbst im Interview mit dem Leipziger Verleger und Übersetzer Viktor Kalinkie deutlich, den Axel Helbig zu dessen maßstabsetzender Herausgabe des „Zhuangzie“ befragte. Ein Interview, das nicht nur in die chinesische Philosophie und ihre uralte Überlieferungsgeschichte führt, sondern auch in die Interpretationsspielräume beim Übersetzen in europäische Sprachen, die die Vieldeutigkeit chinesischer Schriftzeichen nur schwer abbilden können.

Der falsche Glanz der Zensur

Aber auch dadurch wird etwas sichtbar, was Dichterinnen und Dichtern geläufig ist: Dass Sprache – auch unsere scheinbar so eindeutige Sprache – immer voller Anklänge, Mehrdeutigkeiten, Vielschichtigkeiten ist. Weshalb deutsche Dichter ja das Wörterbuch der Grimms so mögen, weil man dort nachlesen kann, welcher Bedeutungsreichtum und welche Lebensläufe in scheinbar alltäglichen Worten stecken.

Was den Zensoren aller Diktaturen nur zu bewusst ist. Wer in Diktaturen schreibt – worauf etwa Uwe Kolbe auch in Bezug auf Brecht eingeht -, der lernt „maskiert“ zu schreiben, der lernt, seine Botschaft in Doppeldeutigkeiten und Bildsprache zu verstecken, die kaum zensierbar sind. Ein perfides Spiel, zu dem die Zensur in Rumänien (Hodjak) die Autoren genauso zwang wie die in der DDR (Kolbe, Reimann). Und gleichzeitig lernte das dortige Lesepublikum, diese versteckten Botschaften zu entschlüsseln und zu suchen. Und die Zensoren natürlich auch.

Wobei auch über diese mit Zensur Beauftragten gesprochen wird, die oft selbst in der Zwickmühle steckten. Denn was erlaubt und was verboten war, das bestimmten in der Regel stumpfsinnige, schmalspurige Funktionäre. Und die Regeln dessen, was verboten war, konnten sich mit jeder politischen Wendung ändern. Das hat durchaus auch sehr anspruchsvolle Literatur hervorgebracht.

Aber auch viel Mist, wie u.a. Reimann feststellt: Die Autoren, die nur auf dieses kryptische Schreiben fixiert waren, verschwanden nach 1990 ziemlich schnell im Vergessen. Denn am Ende zählt tatsächlich nur, dass einer etwas Wesentliches zu erzählen hat, etwas Unerhörtes, um es mal mit Goethe zu bezeichnen. So unerhört, dass er es unbedingt erzählen muss, auch wenn die Arbeit am Text dann oft eine Schinderei ist und oft erst die 40. Fassung dann den Klang hat, den der Text haben muss.

Lesen braucht Zeit

Es ist ein Genuss, diese Gespräche nachzulesen und mit Helbig in lauter Bücher einzutauchen, die in den vergangenen Jahren das Lesepublikum gefesselt und aufgeregt haben. Und dabei auch die oft verblüffend offene Sicht der Autorinnen und Autoren auf ihren Text und ihr Schreiben kennenzulernen. Etwas, was im deutschen Feuilleton viel zu selten passiert, auch weil selbst die Kritiker/-innen verinnerlicht haben, dass sich kaum noch jemand Zeit nimmt, sich in aller Ruhe hinzusetzen und ein paar intensive Seiten zu lesen.

Dabei ist, wie Ingo Schulze betont, Schreiben tatsächlich ein Traumberuf. Der aber keineswegs reich und glücklich macht und trotzdem aus harter Arbeit besteht. Bei der man auch schon einmal ausrasten kann, wenn man merkt, dass sich die öffentlichen Diskussionen nur noch auf Schwarz und Weiß kaprizieren, die dringend notwendigen Zwischentöne, die Dichtern so wichtig sind, aber einfach ignoriert oder lautstark überfahren werden.

Sodass ein einziger missgünstiger Satz von irgendeinem Lautsprecher genügt, und nicht nur ist ein ganzes Buch auf einmal unter Verdacht, sondern das ganze Werk eines Autors.

Eigentlich ein Zeichen dafür, dass das heutige Nicht-mehr-Zuhören direkt mit dem Nicht-mehr-Lesen zusammenhängt. Denn wer sich auf das Kopfabenteuer eines Buches nicht mehr einlassen kann, der bekommt die vielen aufregenden Zwischentöne menschlicher Existenz nicht mehr mit. Der kennt nur noch An und Aus, Hop oder Top.

Sodass Helbigs Gespräche mit Dichtern auch Einladungen sind, die Autorinnen und Autoren wieder als komplexe, gedankenreiche und lebenserfahrene Menschen wahrzunehmen. Und ihre zuweilen herrlich unverblümten Antworten als Einladung zu nehmen, Literatur wieder als das zu genießen, was sie ist: eine Begnung mit den verblüffenden Erzählwelten lebendiger Menschen.

Na gut. Dazu muss man dann in der Regel den Quatsch, der einem in der Schule zu Literatur beigebracht wurde, schnellstmöglich vergessen. Aber das ist es wert. Denn jede Begegnung mit der Erzählwelt eines Autors ist einzigartig und lebt davon, dass sich zwei zuvor wildfremde Menschen auf intimstem Grund begegnen – im eigene Kopf.

Und manchmal hat man dann – wie in einer Antwort von Marcel Beyer – das schöne Vergnügen, ein treffendes Bild für die Klabautermänner der Rechthaberei und ideologischen Selbstgerechtigkeit in der hohen Kritik zu bekommen: „Und da ist es schön, ist es auch eine Erleichterung, zu verfolgen, wie ein Kurt Schwitters zeitlebens nicht anders kann, als die Luft aus dem Planschbecken rauszulassen, in dem die teutonischen Hohlköpfe zusammensitzen.“

Es ist nicht die einzige Perle in diesen Gesprächen. Es gibt eine Menge mehr für alle, die sich auf Helbigs anregende Dialoge mit klugen Frauen und Männern einlassen wollen.

Axel Helbig „Der eigene Ton 3. Gespräche mit Dichtern“ Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2023, 19,95 Euro.

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