„Zu Risiken und Nebenwirkungen grenzenloser Selbstbestimmung“, hat Bernd Ahrbeck seinen Essay untertitelt, in dem er sich mit einem Phänomen beschäftigt, das immer wieder auch Wellen im Medienwald erzeugt. Wir leben in einer Zeit, in der wir uns vergangener und gegenwärtiger Diskriminierungen nur zu bewusst sind. Endlich werden auch Themen wie der alte und der heutige Kolonialismus thematisiert. Wir sind sensibler geworden. Und schießen auch gleich wieder übers Ziel hinaus.

Ganz ähnlich wie Bernd Ahrbeck haben schon Peter Köpf und Zana Ramadani in „Woke“ analysiert, „wie eine moralisierende Minderheit unsere Demokratie“ bedroht. Und Susan Neiman stellte fest: „Links ist nicht woke“. Und beleuchtete damit die Blindheit der sich selbst Woke nennenden Bewegung für die ganz realen ökonomischen Ungerechtigkeiten, die Menschen in unserer Gesellschaft ausgrenzen und benachteiligen.

Ahrbeck ist Erziehungswissenschaftler, Diplom-Psychologe und Psychoanalytiker. Er lehrt an der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU) Berlin und betrachtet die Vorgänge um immer neue Sprachregelungen, cancel culture und die Definierung immer kleinteiligerer Identitäten mit berechtigter Sorge.

Und dabei geht es nicht nur ums Gendern. Sondern auch um immer seltsamere Diskussionen um die Auflösung der Geschlechter. Als wäre Geschlecht einfach eine Willensentscheidung, eine gesellschaftliche Zuweisung – und nicht ein durchaus harter Fakt, der unsere Persönlichkeit bedingt, ob wir es wollen, oder nicht. Die Zweifel am eigenen sexuelle Befinden immer mit eingeschlossen.

Aber die Frage, die Ahrbeck hinter all den Diskussionen sieht, ist durchaus: Können wir einfach in einem freien Willensakt bestimmen, wer wir sein wollen? Genügt es, die Sprache zu zensieren, Trigger zu eliminieren und schon den Kindern eine heile Welt vorzugaukeln, in der sie vom Widersprüchen, Konfrontationen und Irritationen verschont werden?

Halten wir keine Widersprüche mehr aus?

Am Ende holt er ganz weit aus, kommt auf die antiautoritäre Erziehung zu sprechen, die im späten 20. Jahrhundert en vogue war, auch auf Alice Miller und ihre Bücher über die Traumata der Kindheit. Denn woher kommt diese ganz offensichtliche Scheu vieler heutiger Zeitgenossen, sich wirklich noch mit den Widersprüchen der Welt auseinanderzusetzen? Und sie auch auszuhalten?

Ist wirklich die Kuschelpädagogik schuld daran? Ist aus der Würdekultur, die eigentlich eine starke Demokratie auszeichnet, tatsächlich eine Opferkultur geworden? Das ist überlegenswert.

„Die Würdekultur beruht auf innerlich gefestigten Personen, die sich robust gegen Anfechtungen zu behaupten vermögen“, schreibt Ahrbeck. „Auseinandersetzungen, die sie führen, gefährden sie nicht wirklich. Dazu sind sie ihrer selbst, aufgrund ihres stabilen Selbstgefühls, zu sicher. Eine solche innere Disposition droht sich zusehends zu verflüchtigen. Zumindest kennzeichnet sie nicht mehr das moralische Gefüge, das jetzt die Opferkultur repräsentiert, die persönliche Verletzlichkeiten zum Gradmesser des Zusammenlebens erhoben hat.

Viele Zumutungen, die das Leben mit sich bringt, gelten deshalb als schwer erträglich. Das Selbst wird als fragil wahrgenommen, es lebt im Zustand ständiger Bedrohung. Winzige Irritationen reichen aus, sogenannte Mikroaggressionen, um Sanktionen und Verbote einzuklagen.“

Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Denn während – scheinbar – Betroffene eben nicht nur Respekt und Sensibilität einklagen, sondern auch gleich noch Rede- und Publikationsverbote fordern – „im Namen des unantastbaren Guten“ -, sorgt diese Art cancel culture dafür, dass von Sensibilität keine Rede mehr sein kann. „Diejenigen, die selbst auf jegliche Form von Mikroaggression hochempfindlich reagieren, haben aber keine Hemmungen, andere heftig anzugreifen, sie zu entwerten und zu beschämen.“

Tabus für die Wissenschaft?

Ein Phänomen, das sich vor allem im Hochschulbereich abspielt, aber längst auch Folgen für die wissenschaftliche Forschung hat. Denn wenn Denkverbote allgegenwärtig sind und Forschungsfelder gar mit Tabu belegt werden, findet dort auch keine Forschung mehr statt. Längst bestätigen Umfragen in den Sozialwissenschaften, wie sehr diese Denkverbote dort Lehre und Forschung unter Druck gebracht haben.

„Die Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit geht in Deutschland nicht von staatlichen Stellen aus, sondern von den Universitäten, den Fachhochschulen und ihrem Umfeld“, schreibt Ahrbeck.

Natürlich ist das ein Problem. Denn Wissenschaft ist nicht dazu da, Moral zu bestätigen. Sie hat die Pflicht und Aufgabe, unsere Wirklichkeit zu erforschen, und zwar so, wie diese ist. Auch mit allen Dissonanzen, Abgründen, Finsternissen. Denen man jederzeit außerhalb der Universitäten und Hochschulen begegnen kann. Denn der cancel culture auf der einen Seite entspricht eine Entfesselung der Aggressionen im Diskurs der ganzen Gesellschaft, explizit in den „social media“.

Oder gehört das gar zusammen und der Lärm der cancel culture ist auch nur ein Teil des gesamtgesellschaftlichen Lärms, der davon erzählt, wie die Menschen immer mehr in ihren immer kleineren Wahrnehmungsblasen verschwinden, sich über immer engere Identitäten definieren und das Gespräch mit Menschen außerhalb ihrer Bubble zunehmend meiden oder gar hysterisch unterbinden?

Nur so als Frage.

Wer spricht hier eigentlich für wen?

Denn mit der wissenschaftlichen Sachlichkeit, die ja eine der Errungenschaften der Aufklärung war, hat die Hypermoral, die inzwischen auch Bücher glättet und von Stellen des Unbehagens reinigt, nichts mehr zu tun. Mit Respekt vor dem Anderen schon gar nicht. Ahrbeck geht berechtigterweise darauf ein, dass die Sprecher/-innen der cancel culture oft gar nicht identifizierbar sind.

Oft gehören sie nicht einmal zu der kleinen, diskriminierten Gruppe, für die zu sprechen sie sich anmaßen. Obwohl gleichzeitig ein massiver Druck – bis in die Besetzung von Filmrollen hinein – ausgeübt wird, dass Rollen von Minderheiten auch nur durch deren Vertretern besetzt werden dürfen, dass also nur noch direkt Betroffene über ihre Betroffenheit sprechen dürfen.

Die oft gar nicht im Rampenlicht stehen wollen. Und oft auch die Aggressivität nicht teilen, mit der hier Verletzlichkeit zelebriert wird und gleichzeitig dem Gegenüber das Sprechen untersagt werden soll. Obwohl das – Ahrbeck verweist zu Recht auf das Grundgesetz – eine der wichtigsten Errungenschaften der Demokratie ist. Rede- und Glaubensfreiheit sind dort garantiert.

„Niemand darf an der freien Rede gehindert werden, es sei denn, er verstößt gegen geltendes Recht“, so Ahrbeck.

Dass man dabei mit richtigen Rassisten, Chauvinisten und Menschenfeinden nicht reden muss, steht außer Frage. Aber darum geht es meistens gar nicht. Oft trifft das Verdikt Forschende, die einfach andere Meinungen vertreten, die Sichtweise der Empörten nicht teilen und das oft auch mit Argumenten unterlegen können. Und da eigentlich beginnt Wissenschaft erst – im Meinungsstreit und im Austausch von belastbaren Argumenten.

Was aber nicht mehr möglich ist, wenn aus Gründen der Moral vorher schon bestimmt wird, worüber überhaupt noch gesprochen werden darf.

Jeder in seiner Bubble

Ein Unterfangen, das letztlich dazu führt, dass über die Schattenseiten der Gesellschaft – die ja nicht verschwinden, bloß weil man sie aus den Texten redigiert – nicht mehr ernsthaft gesprochen werden kann.

Es geht also nicht nur ums Ich, wie der Buchtitel suggeriert – und Erlösungsphantasien eines bereinigten Sprechens, auch nicht nur um die seltsamen Fiktionen, mit denen die biologisch gegebene Binarität infrage gestellt wir (mit oft dramatischen Folgen für die jungen Menschen, die diesen Versprechungen auch noch Glauben schenken) und die durchaus realen Probleme der modernen Leihmutterschaft, denen Ahrbeck jeweils ein ganzes Kapitel widmet.

Es geht eben auch um die Frage, was diese Sprachneuregelungen und Redeverbote am Ende anrichten mit unserer Gesellschaft.

Denn von Respekt und Akzeptanz erzählen sie nun einmal nicht. Eher von einem Versuch, unsere Gesellschaft über Sprachreglement moralisch besser zu machen. Das Ergebnis ist aber nur eine zunehmend verunsicherte Gesellschaft, der damit auch ein Verständnis dafür verloren geht, dass die Geschichte des Westens seit der Aufklärung auch eine Geschichte der Emanzipation und der erkämpften Freiheiten ist – auch und gerade für zuvor marginalisierte Gruppen. Die größte dabei nicht zu vergessen: die Frauen. Auch die Entkriminalisierung der Homosexualität ist noch gar nicht lange her.

„Für diese Errungenschaften musste immer wieder gekämpft werden, in einem harten Ringen wurden sie gegen ihre Widersacher verteidigt“, so Ahrbeck. Dass der Kampf nicht „gewonnen“ ist, gehört zur Dramatik der Geschichte, denn die wirklich Ewiggestrigen verschwinden ja nicht. Sie toben nur in einer völlig anderen Bubble.

Bernd Ahrbeck „Basteln am Ich“ zu Klampen Verlag, Springe 2024, 16 Euro.

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