Wir leben in einer Welt der falschen Ideale. Ideale, die alles so sehr durchdringen, dass jede und jeder, die diesen Idealen nicht entsprechen, zwangsläufig in einer Welt der Scham lebt. Selbst dann, wenn die Abweichung von der schönen Norm nur eine Einbildung ist. Wie man sich fühlt, wenn man schon mit dem Wissen aufwächst, von der Schönheitsnorm abzuweichen, das hat Nils Matzka in diesem Buch in einem geradezu adipöetischen Monolog heruntergeschrieben.
Das Wort adipöetisch stammt von ihm selbst. Mehr als sieben Jahre lebte der 1991 in Hamburg Geborene in Leipzig, war Teil der Lesebühne „Kunstloses Brot“, ist ausgebildeter Erzieher und Dramaturg und lebt seit kurzem wieder in Hamburg.
Mitten in der Corona-Zeit fing er an, dieses Buch zu schreiben, in dem ein „namenloses Ich einen Wortschwall“ loslässt, sein Innerstes regelrecht ausschlachtet und für viele Menschen im ganz realen Leben so verzweifelte Themen aufgreift wie Fatshaming, Esssucht, Sehnsucht nach Liebe und Diskriminierung.
Ein Buch, das sich liest, als wären Autor und Ich identisch. Was vielleicht nicht ganz zutrifft, wie Matzka betont, wenn er Olivia Wenzel zitiert, die das mit dem Ich im Buch einmal so auf den Punkt gebracht hat: „Diese Frau in dem Buch, das bin nicht ich. Aber was sie schildert und wie sie spricht, das kann ich nachvollziehen. Wir haben viele ähnliche Dinge erlebt.“
80 Kilo Mensch plus 60 Kilo Schuld
Und bei dem Thema, das Nils Matzka aufgreift, werden noch viel mehr Menschen sagen: Solche Dinge habe ich auch erlebt. Und das hat nicht nur mit den „80 Kilo Mensch plus 60 Kilo Schuld“ zu tun, mit denen sich der Körper, wie ihn Matzka in den Überschriften nennt, hier herumschlägt.
Auch wenn er konsequent aus der Perspektive des unter seinem Gewicht leidenden jungen Mannes schildert, der in einem langen Klagen gegen die Last des Fleisches, die immer wiederkehrenden Gefühle von Schuld, Scham und schlechtem Gewissen und die scheinbare Verachtung durch seine Umwelt versucht, irgendwie in ein besseres Verhältnis mit seinem so sichtlich von den Normen des Schlankseins abweichenden Zustand zurechtzukommen. Auch auszubrechen.
Es ist ja nicht so, dass er nicht auch Diäten probiert, sich Hungerrationen verschreibt oder gar mit schmerzenden Knien losläuft, um sich die Pfunde von den Knochen zu laufen, obwohl ihn die Zuschauer am Wegesrand verhöhnen. Oder zu verhöhnen scheinen. Denn schon in den frühen Kindheitserlebnissen merkt man, dass sich diese Sicht einer vom Schlankheitswahn besessenen Gesellschaft auch in der Seele der Betroffenen festfrisst.
Der Junge wird ausgegrenzt, gemieden und verhöhnt. Und selbst wenn ihn Altersgenossen nicht verhöhnen und verachten, hat er längst das Gefühl verinnerlicht, dass er in seinem Übergewicht nur verachtet wird und jeder riechen kann, wie er schwitzt. Das viele Fleisch ist Last und gleichzeitig, wie man nach und nach merkt, auch Schutzmantel.
Denn hinter all dem steckt noch mehr, wie es oft ist, wenn der Körper eben auch die seelischen Folgen einer Kindheit tragen muss, die so perfekt und schön nicht war, wie sie hätte sein sollen. Das erfährt man späterhin, wenn „der Körper“ sich immer intensiver auch mit der Rolle seiner Mutter beschäftigt, die genauso gefangen war in ihrer Besessenheit vom Essen und der Not, dass der Junge ja genug isst und alles aufisst.
Und auf einmal ist man mittendrin in den deutschen Generationengeschichten, in denen sich die Traumata der Kriegsgeneration auch über das Essen fortpflanzen bis in die Leben der Kinder und Enkel.
Der dunkle Ursprung der Leistungsgesellschaft
Und das vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die nicht nur in der Werbung ein Ideal vertritt, das Abweichungen von der schlanken, sportlichen Körperform geradezu für krank erklärt. Mit ganz finsteren Konnotationen, denn mit Übergewicht werden auch Willensschwäche, Versagen, Unbeherrschtheit, Weichheit und fehlendes Leistungsdenken assoziiert. Es gibt ein paar Sätze, die durchaus ahnen lassen, dass das alles auch eine Menge mit der NS-Zeit und dem Nazi-Kult um den „gestählten Körper“ zu tun hat.
Was scheinbar mit den „Fressorgien“ der Nachkriegszeit kollidiert.
Aber gerade in seinem Wüten gegen sich selbst macht dieses Ich hier deutlich, dass eben auch die andere Seite des Nazi-Körperkultes eine Rolle spielt, die sich in der „Schwarzen Pädagogik“ auch lange in der Nachkriegszeit noch bemerkbar machte. Denn mit der Abhärtung der kindlichen Körper stand immer auch das Verbot von Nähe, Wärme und Herzlichkeit in Verbindung. Das galt als weich und verweichlicht.
Nicht zufällig Zuschreibungen, die auch wieder auf den Körper dicker Menschen Bezug nehmen. Matzkas Erzähler weiß zwar, wo das aus der eigenen Familiengeschichte herkommt. Aber er sieht nicht (dazu ist er viel zu sehr mit seiner eigenen Last beschäftigt), dass das aus ganz üblen Quellen kommt. Über die bis heute kaum geredet wird.
Schon gar nicht bei den Menschen, die dieses „Härte“-Ideal des Faschismus verinnerlicht haben: „Indianer weinen nicht.“ Oder gleich mit dem Nietzsche-Zitat, das selbst heute noch in Manager-Kursen im Schwange ist: „Was uns nicht umbringt, macht uns härter.“
Was schlicht dumm ist. Aber die ganze Verachtung Nietzsches für den schwachen, fehlbaren Menschen in seiner Not zeigt. Unbarmherzigkeit nennt man das. Es steckt bis heute in der Erziehung vieler Jungen, gerade in konservativen Elternhäusern. Und es steckt natürlich in der Ideologie populistischer Parteien, die einfach ignorieren, dass „Härte“ und Identität keine menschlichen Kategorien sind. Schon gar keine freien. Und in gewisser Weise geht es in Matzkas Geschichte auch um Freiheit und Befreiung.
Denn sein Buch ist nicht nur ein Epos der Verzweiflung, sondern auch eins der Suche nach Erlösung. Denn das viele Fleisch ist nicht nur ein – angegessener – Schutzschild gegen die Kälte der Außenwelt und zur Abwehr von Gefühlen, es ist auch eine Last im ganz realen und im doppelten Sinn. Das Denken an diesem übermächtigen Körper besetzt nämlich den Tag und die Nächte. Die Fressattacken kommen mitten in der Nacht.
Beschämte Körper
Das Essen selbst wird zu einem Akt der Beschämung. Ganz zu schweigen von der körperlichen Begegnung mit anderen Menschen, gar Mädchen. Wie können die so einen Körper eigentlich lieben? Das kann doch nur ein Irrtum sein, den sie sich die Mädchen nicht eingestehen.
Eine Denkfigur, die nicht nur Menschen kennen, die mit Übergewicht geplagt sind. Denn wenn eine Gesellschaft derart penetrant genormte Schönheitsideale produziert (und aggressiv vermarktet), dann nimmt das auch Platz in den Köpfen. Dann begutachten sich alle Menschen gegenseitig, ob sie der Norm entsprechen. Und sie verinnerlichen es.
Da kann man drauf wetten, dass sich viele, sehr sehr viele Menschen in dieser Scham wiedererkennen. Auch sichtlich schlanke und wohlgeformte Menschen, die auch schon die Angst verinnerlicht haben, sie könnten auch nur um ein Pfund vom idealen Lebendgewicht abweichen.
Weshalb dieses Buch ganz bestimmt nicht nur Menschen mit Übergewicht aus der Seele sprechen wird. Wie sich das inwendig anfühlt, beschreibt das Ich im Buch zum Beispiel so: „Und was erst irgendwie ein geschmackloser Witz für mich selbst sein soll, wird nach und nach zu Ernst. Denn dann merke ich, dass dieser Körper eine Verkörperung aller Angst ist, die ich bis heute in mir trage: der Angst davor, ein dicker, stinkender, betrunkener Körper zu werden, der von Panik durchdrungen in der Öffentlichkeit sitzt und der grausamen Gewalt zum Abschuss freigegeben.“
Sätze, die geschrieben werden, nachdem der Erzähler einen Obdachlosen genau so in der Öffentlichkeit sitzen gesehen hatte. Womit sich das Türchen öffnet hin zu all den Körperwelten, die wir im Kopf haben und mit denen wir die Menschen um uns herum taxieren, einsortieren und – abwerten, wenn sie so sichtlich nicht der verordneten Norm entsprechen. Da helfen dann auch die Sprüche von Therapeuten nicht, wenn sie einem versuchen einzureden, man sei doch so, wie man ist, in Ordnung.
Denn diese Sprüche erreichen das wachsame Ich nicht, das ein Leben lang darauf trainiert wurde, sich mit der öffentlich propagierten Norm zu vergleichen. Und sich selbst zu züchtigen, wenn diese Norm nicht zu erreichen ist. Und sich selbst dann, wenn man sich mit Diäten und Training hingequält hat zur Norm, nicht lösen kann vom Dauergefühl der Scham. Denn man hört dann eben doch nicht auf, ein dicker Mensch zu sein.
Man fühlt sich eher in der falschen Rolle, als einer, der sich etwas anmaßt, was ihm nicht zusteht. So eine Lebensscham sitzt tief. Und Matzka schreibt darüber so unverblümt und ungebremst wie bislang noch kein anderer.
Eine kontrollierte Gesellschaft
Und er berührt damit ein gesellschaftliches Thema, das wie ein dicker Elefant mitten im Raum steht, aber nur selten thematisiert ist. Denn die Scham, dem propagierten Körperideal nicht zu genügen, erzeugt ganz offensichtlich bei immer mehr Menschen Scham, Schuldgefühle, Unsicherheiten und Bindungsängste. Wenn sich alles über den „perfekten Körper“ definiert, dann unterliegen selbst Liebe und Partnerschaft dieser permanenten Selbstbeurteilung.
Dann wird das Intimste, Nächste und Wehrloseste zum Ort einer unbarmherzigen Schlacht der Ansprüche, der letztlich niemand genügen kann. Und der pemanenten Selbstkontrolle – herzliche Grüße an Michel Foucault. Sodass sich nicht nur Menschen, die mit lauter Kummerspeck belastet sind, ihrer selbst und ihrer „falschen Gelüste“ schämen, sondern auch die meisten anderen. Was dann auch wieder andere gesundheitliche Folgen hat.
So gesehen ist Matzkas Buch – auch wenn es scheinbar nur den elend langen Weg des Erzähler-Ichs hin zu irgendeiner Art Übereinkunft mit seinem Körper und seinen Schuldgefühlen beschreibt, auch ein Porträt des gesellschaftlichen Innenlebens, wo äußerer Schein mehr zählt als Wärme und Vertrauen. Der Mensch selbst wird zum Objekt der permanenten Betrachtung, Beurteilung und Verwertung. Kein Wunder, dass sich immer mehr Menschen in dieser Welt nicht mehr zu Hause, geborgen und akzeptiert fühlen.
Und vereinsamen, weil sie sich für unzumutbar halten. Sich ihrer Süchte schämen, obwohl es dabei – der Blick auf die Kindheit lohnt sich – fast immer um die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit geht.
In einer Welt der Schönen und Perfekten aber gibt es keine Geborgenheit. Nur die Pfützen von Scham, die zu Abgründen werden können. „Einsamkeit ist Pudding“, schreibt Matzka. „Meine Arme sind Pudding. Pudding ist immer da.“
Womit eigentlich alles gesagt ist. Den Frust über eine eiskalte Gesellschaft mit ihrem schäbigen Perfektionsdruck fressen wir in uns hinein. Nur um uns danach wieder nur beschämt zu fühlen, gescheitert am unerreichbaren Ideal einer Gesellschaft, die ihre eigenen Abgründe ignoriert.
Nils Matzka „Scham ist das Haus aus Fleisch in dem ich wohne“ Brimborium Verlag, Leipzig 2023, 16 Euro.
Keine Kommentare bisher