Dieses Buch sieht so harmlos aus. Als kรถnnte es sich einfach unter die ganzen Liebe-Babys-Gute-Nacht-Geschichten in der Kinderecke verirren. Wenn Sie es dort entdecken: Schnappen Sie es sich und nehmen Sie es mit. Es ist ein Buch fรผr alle Eltern, die wissen, dass das Leben mit kleinen Kindern keine Mรคrchenzeit ist, sondern hart. Richtig hart. Mit durchwachten Nรคchten, schmerzendem Kreuz, riesigen Bergen schmutziger Wรคsche und einer Auรenwelt, der die Sorgen junger Eltern kackegal ist.
Wirklich kackegal. Das merken Sie, wenn Sie eine Wohnung suchen, in der nicht nur Platz fรผr die Knirpse ist, sondern auch fรผr die ausgebrannten Eltern. Das merken Sie beim Einkauf, wo Sie richtig Geld hinlegen mรผssen, das Sie eigentlich nicht verdienen, weil Sie im Job noch ganz unten sind und es Teilzeit nur fรผrs halbe Gehalt gibt.
Dieser Gesellschaft sind Kinder furzschnurzpiepegal. Und Eltern auch. Auรer, wenn man sie zu Geld machen kann. Mit รผberteuerten Klamotten, sinnlosem Spielzeug, Fertigpaps fรผr die Mikrowelle und gelรคndegรคngigen Buggys, mit denen man wenigstens heil durch einen Stadtverkehr kommt, in dem alles, was zu Fuร unterwegs ist, nur Freiwild ist fรผr begeisterte Jรคger am Steuer.
Wache Babys und mรผde Eltern
Und dann wird es Abend und man trรคumt davon, sich einfach gleich selbst ins Bett zu schmeiรen, wenn das Kind endlich schlรคft. Aber das Kind schlรคft nicht, sondern wird erst richtig munter, wenn Mama und Papa endlich Schwรคche signalisieren. Da geht es erst richtig los. Und wenn man nicht gut singen kann, jedenfalls keine funktionierenden Einschlaflieder, dann braucht man so ein richtig schรถnes Einschlafbuch, das den Knirps mit lauter guten Gedanken in den Tiefschlaf versenkt. Und zwar grรผndlich.
Also zugreifen. Das hier ist โ wie der Verlag verspricht โ โdas ehrliche Bild-Wรถrter-Buch fรผr die ganze junge Familieโ. Also fรผr Papa, wenn er dran ist mit dem Mรผdemachen des Knirpses. Oder fรผr Mama, wenn Papa schon wieder ausgeknockt in der Ecke liegt. Und nur einer ist noch wach: der Knirps. Unbรคndig, voller Neugier aufs Leben. Oder mit voller Lust auf ein ordentliches Stimmbandtraining. Muss ja auch sein.
Aber das Buch kรถnnte den Kleinen oder die Kleine dann doch kirre machen, reif fรผr Schรคfchen und Augenzumachen.
Cameron Spires, der das Buch geschrieben hat, muss seine eigenen Erfahrungen gemacht haben. Er weiร, fรผr wen solche Bรผcher wirklich da sind: fรผr die Eltern nรคmlich. Auch wenn sich dieses hier scheinbar an den kleinen Spaรvogel richtet, der glaubt, er mรผsse seine Eltern nachts wach halten, sonst verpassen sie was. Also steht da ganz frech: โDas ist ein Buch. Du kannst es nicht lesen. Halt dich einfach an die Bilder.โ
Papa weiร, wie man Kinder verschaukelt
Etwas anderes erwarten ja kleine Unruhegeister auch nicht. Gilt das nicht fรผr jedes Bilderbuch mit dicken Pappseiten, die nicht gleich zerleppern, wenn man sie vollspeichelt?
Ja und nein. Denn da der Knirps nicht lesen kann, ist auch dieser Text fรผr die Eltern. โDie sollen auch mal wieder was zu lachen habenโ, meint Spires, der mit Grace Cho eine kongeniale Illustratorin gefunden hat, die die Bilder fรผr die Kleinen genauso liebevoll gemalt hat, wie es die Kleinen erwarten kรถnnen. Denn die wissen noch nicht, dass man bei Eulen, Drachen und Auรerirdischen auch auf die Details achten sollte. Das weiร zwar jeder, der mal โMen in Blackโ gesehen hat. Aber das hast du ja nicht โฆ
Sorry. So leicht fรคllt man in den herrlichen Ton dieses Buches. Es ist eben genau Papas oder Mamas Vorleseton. Obwohl, eher doch Papas. Papa weiร, wie man Kinder verschaukelt. Das gehรถrt zum Papawerden. Sonst lernen die Kleinen nรคmlich nie, dass alles in der Welt einen doppelten und dreifachen Boden hat. Und mindestens zwei Seiten. Eine saubere und eine vollgekackte.
Und niedlich sind nur die Bilder, die Grace Cho gemalt hat. Mit kleinen Details, auf die so ein kleiner Sabbermatz natรผrlich noch nicht achten muss. Wozu braucht eine Eule einen Pott Kaffee? Na ja. Die Antwort steht im Text, auch wenn Papa nur vorliest: โDas ist eine Eule.โ Woher soll der kleine Luftikus wissen, dass da noch mehr Text steht? Aber nur fรผr Papa und Mama. Ob sie lachen, ist eine andere Frage.
Denn hier steht die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Natรผrlich รผber die Eule, รผber wen denn sonst? โSie verwechselt Tag und Nacht โโ
Da werden die meisten Eltern schon nicken. Und dann? โ โโ genau wie du.โ Klar. Das musste jetzt kommen. Aber es kommt noch was: โViel Verstand hat sie auch nicht.โ
Au backe.
Dรผrfen Eltern gemein sein?
Das ist gemein. Aber garantiert ist das die Stelle, an der Papa mit hochrotem Kopf abtaucht, damit der kleine Beobachter nicht merkt, dass in dem dicken Buch tatsรคchlich Witze versteckt sind. Echte Elternwitze. Wenn auch ein bisschen gemein. Aber wer nachts nur zwei Stunden Schlaf bekommt und den ganzen Tag durch die Welt tappert wie ein ausgewrungener Waschlappen, der kann nicht anders.
Jenseits der schรถnen heilen Babywelt lauert das Leben. Und der Groll auf das kleine, sรผรe Scheiรerchen, das ja nichts dafรผr kann, aber keinen Moment verpasst, um laut und nachhaltig in die Welt zu krรคhen: โICH BIN AUCH NOCH DA!โ
Ein Hahn ist auch drin. Ohne Hahn geht so ein Buch nicht. Auch nicht ohne Einhorn und ein kleines, vertrรคumtes Mรคrchenhaus. Das so aussieht wie unseres. โLeider gehรถrt es jetzt der Bank, damit wir uns deinen Kita-Platz leisten kรถnnen.โ
So geht das.
Erschrocken?
Einfach umblรคttern. Spรคtestens hier merkt jeder Vortragende, dass das hier ein Buch von erfahrenen Eltern fรผr Eltern ist, die das alles selbst gerade erfahren. Und eigentlich selbst Trost und Zuspruch brauchen. All das, was sonst immer nur der kleine Strampler bekommt. Der natรผrlich nicht doof ist wie Eule. Leider, werden manche Eltern sagen. Die Biester sind nicht nur schon gewaltig neugierig, sondern auch clever. Hellwach sowieso.
Und misstrauisch auch. Man muss nur in ihre Augen schauen. Sie warten regelrecht darauf, dass wieder einer versucht, sie zu verรคppeln. Auf den Arm nehmen darf man sie. Manchmal. Aber nicht verscheiรern. Das nehmen sie krumm. Da ist der Abend gelaufen. Und die Nacht sowieso.
Nur das Fettgedruckte!
Also schnell das Rettungsbuch herausholen. Und dem Kleinen Bildgeschichten zeigen, mit denen er gleich in schรถnen, vertrรคumten Schlaf wegkippen kann. Mit Hahn und Nuckelflasche, Walfisch und Dinosaurier. Und irgendwann muss das ja funktionieren, dass dem kleinen Schlaumeier dann einfach die รuglein zufallen. Vielleicht gleich. Noch ein paar Bilder. Irgendwann muss doch der kleine Speicher voll sein mit schรถnen Bildern.
Am Ende macht auch Cameron Spires keine Scherze mehr. Ein Ende, das wir alle kennen, die wir ganze Generationen kleiner Prinzen und Prinzessinnen in den Schlaf gelesen haben. Da darf Papa nรคmlich nicht mehr lachen. Und Opa auch nicht. Da hรผllt man den kleinen Staunemann in lauter groรe, stille Bilder, lรคsst ihn fliegen รผber Berge und Pinguine.
Denn jetzt ist die kostbare Sekunde, in der die รuglein tatsรคchlich zufallen und ein kleiner, unersรคttlicher Geist anfรคngt, in Traumwelten zu fliegen, die wir uns alle nicht vorstellen kรถnnen. Von denen Eltern aber jede Nacht trรคumen, weil das ihre einzige Chance ist, morgen frรผh nicht gerรคdert aufstehen zu mรผssen.
Passen Sie also auf in der Buchladenecke mit den niedlichen Kinderbรผchern. Dieses hier steckt wahrscheinlich mitten zwischen Schรคfchen- und Bรคrchenbรผchern. Ganz harmlos. Aber es ist das einzige, das Ihnen die Wahrheit sagt. Oder sie vom Hocker haut, wenn Sie gerade glaubten, das Kind mit besinnlicher Gute-Nacht-Stimme zur Ruhe gebracht zu haben.
Schauen Sie nachher einfach รผber die Kante der Wiege. Sie werden sehen, dass Sie zwei strenge kleine Augen anschauen, die gar nicht verstehen wollen, dass Papa derart albern sein kann. Hinsetzen, weiter vorlesen. Aber nur das Fettgedruckte. Das andere ist ganz fรผr Sie allein. Auch wenn es Sie vom Hocker haut.
Cameron Spires, Grace Cho โNa dann, gute Nacht!โ Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2024, 14 Euro.
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