Eigentlich fehlt ein โ€žmโ€œ im Titel. Und doch auch wieder nicht. Warum es fehlt, darauf hat Reinhold natรผrlich einen coolen Spruch parat. Reinhold ist einer von diesen drei Teenagern, die sich gemeinsam verabreden, an den Balaton zu fahren, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Er hat auch das Forum โ€žLemingโ€œ gegrรผndet, in dem sie sich getroffen haben. Und mit gutem Recht fรผrchtet man sich beim Lesen davor, dass sie es tatsรคchlich tun. Doch Murmel Clausen erzรคhlt in Wirklichkeit eine vรถllig andere Geschichte.

Eine Geschichte, die man dem Autor von โ€žbullyparadeโ€œ, โ€žSchuh des Manituโ€œ oder โ€žLadykracherโ€œ eigentlich nicht zutraut. Aber wenn man es dann recht bedenkt, hat wirklich guter Humor eben auch damit zu tun, dass einer die Abgrรผnde des eigenen Lebens kennt. Es sind nicht die Kaltschnรคuzigen, die die besten Sketche schreiben, sondern die Sensiblen. Die ganz genau wissen, dass es nur ein paar Millimeter sind, die den SpaรŸ vom Ernst trennen, die lustige Pointe von einer ganz tiefen Verletztheit.

Da passt natรผrlich dieser Reinhold, der sein Forum aus der tiefen thรผringischen Provinz heraus betreibt und dessen Stolz sein tiefer gelegter Audi A3 ist, wie die Faust aufs Auge. Eigentlich ist es seine Geschichte, die hier erzรคhlt wird. Auch wenn Kolja der eigentliche Erzรคhler ist, Kolja, der eigentlich nur darum mitfรคhrt an den Plattensee, weil er die beiden Anderen abbringen will davon, gemeinsam in den Krater eines erloschenen Vulkans zu springen.

Wie behauptet man sich in einer egoistischen Welt?

Eigentlich war das auch schon Koljas Ambition, als er sich in Reinholds โ€žLemingโ€œ-Forum angemeldet hat, wo er immer wieder auch selbst postete, wenn sich die anderen Forumsteilnehmer zu verrennen schienen. Im Internet wimmelt es von solchen Foren. Doch gerade viele Jugendliche landen dort auch, weil sie tatsรคchlich mit ihren familiรคren und persรถnlichen Problemen รผberfordert sind. Jugendzeit ist keine heile Zeit.

Und gerade, wer in dieser Zeit auch noch Mobbing, Ausgrenzung und Verachtung erlebt, der bekommt es mit einem Berg unlรถsbarer Sorgen zu tun, die einen erdrรผcken kรถnnen, entmutigen und nach Auswegen suchen lassen, die eigentlich keine sind.

So wie es Verena ergeht, die Reinhold und Kolja mit der โ€žlila Bestieโ€œ in der Nรคhe des Heims aufsammeln, wo das Mรคdchen gelandet ist, nachdem ihre Mutter vom Balkon gestรผrzt ist und ihr Vater im Gefรคngnis gelandet ist. Es braucht auch bei Kolja eine ganze Weile, bis er merkt, dass auch Reinhold und Verena eigentlich nicht auf diesen Trip gegangen sind, weil sie wirklich keinen Ausweg mehr sehen.

Auch wenn sich ihre Lebensgeschichten erst nach und nach entfalten. Denn zur modernen Wirklichkeit gehรถrt nun einmal auch, dass sich viele Menschen in die Foren verirren, weil sie nirgendwo sonst รผber ganz persรถnliche ร„ngste, Probleme und Einsamkeiten reden kรถnnen.

Hier treffen sie auf Menschen, denen es mindestens รคhnlich geht. Die wissen, wie es sich anfรผhlt, wenn man vรถllig aus der Bahn geschmissen wird oder immer nur der AuรŸenseiter ist. Wir leben in eine Gesellschaft, in der man sehr schnell zum AuรŸenseiter werden kann. Und in der eine Menge Leute ihre Profilierung daraus ziehen, dass sie Machthierarchien und Ausgrenzungen organisieren. Oder einfach ihrem Egoismus freien Lauf lassen. Was auch bei Eltern passieren kann, wie Kolja aus eigener Erfahrung weiรŸ.

Nur scheint das, was er mit seinem zuweilen geradezu zynischen Vater erlebt hat, recht mickrig im Vergleich zu dem, was Reinhold erlebt hat, der mit einem Gendefekt geboren wurde und leider Eltern hatte, die damit รผberhaupt nicht umgehen konnten und das den Jungen auch spรผren lieรŸen. Dabei hรคtte er nicht unbedingt aus dem Osten kommen mรผssen.

Denn diese Milieus gibt es รผberall, auch wenn sie fรผr die รถstlichen Bundeslรคnder und insbesondere die Landschaften jenseits der GroรŸstรคdte sehr typisch geworden sind. Wer sich behaupten will, gewรถhnt sich mรถglichst schnell an, raubeinig und โ€žhartโ€œ aufzutreten, coole Sprรผche zu klopfen und Macho-Gebaren an den Tag zu legen. Doch unter der rauen Schale steckt ein Bursche, mit dem Kolja tatsรคchlich so etwas wie Freundschaft erlebt.

Gar nichts ist sicher

Und so wirklich kann man schon auf der Fahrt Richtung Ungarn nicht so recht glauben, dass diese drei jungen Menschen ihrem Leben tatsรคchlich ein Ende setzen werden. Denn sie finden auf diesem Trip, auf dem sie sich tatsรคchlich erstmals รผberhaupt begegnen, das, wonach man eigentlich in der Jugend oft mit Verzweiflung sucht: Menschen, mit denen man sich wirklich versteht, die einem das Gefรผhl geben, dass man weder blรถd noch hรคsslich ist.

Nur: Wie kann Kolja da seine Botschaft unterbringen? Eine Frage, die Murmel Clausen die ganze Zeit beschรคftigt. Denn im Nachwort verrรคt er ja auch, dass ihm der Magnetismus des Abgrunds nicht wirklich fremd ist. Vielleicht steckt das sogar in jedem Menschen, dass man in Situationen der vรถlligen รœberforderung zumindest daran denkt, wie man dem Druck ein Ende setzen kann. Wobei der Vorspann natรผrlich darauf hinweist, dass man sich gerade dann professionelle Hilfe suchen sollte.

Die gibt es natรผrlich. Auch wenn das Gefรผhl, dass unsere Gesellschaft viel zu viele รœberforderungen produziert, wohl nicht trรผgt. Und dass es irgendwann nicht mehr hilft, Menschen auf das (รผberlastete) Hilfesystem zu verweisen, wenn sich die Rรผcksichtslosigkeit einer vom Egoismus besetzten Gesellschaft nicht wirklich รคndert.

Was die drei nรคmlich erleben, ist ein groรŸes Abenteuer. Bei dem viel wichtiger ist, dass auf einmal Nรคhe und Vertrauen mรถglich sind. Am Ende hinterlรคsst es Reinhold wie ein Testament, was ihn tatsรคchlich dazu gebracht hat, Kolja und Verena in seine โ€žlila Bestieโ€œ zu laden. Denn die Geschichte geht nicht wirklich gut aus, auch wenn die drei ihr Vorhaben nicht verwirklichen.

Aber das Leben schlรคgt auch auf andere Weise zu. Nichts ist sicher. Auch das gehรถrt zum Mulch in dieser Geschichte, dass man in dieser verwirrenden Jugendzeit auch lernen muss, dass es in der Welt nie wirklich sorgenfrei und gefahrlos zugeht. Jeder neue Tag kann alles umstรผrzen. Und das muss man dann irgendwie aushalten lernen, wenn man wirklich das eigene Leben leben will.

Im Panzer der Gefรผhle

Und es gibt jede Menge gut erzรคhlter Momente in dieser Geschichte, in denen man merkt, dass es die drei tatsรคchlich so sehen. Egal, wie die familiรคren Verhรคltnisse sind. Man muss sich nicht kleinmachen und unterkriegen lassen. Und die gemeinsame Geschichte im Forum schafft auch eine Basis: Sie kรถnnen รผber das reden, was sie bedrรผckt. Auch wenn Kolja manchmal ordentlich daneben haut.

Das lernt sich eben auch nicht so leicht, andere nicht zu verletzen. Und oft genug tun wir es, ohne uns vorher groรŸ was dabei gedacht zu haben. Aber verletzlich sind wir alle. Auch Reinhold ist es. Das รคndert sich nicht, nur weil er das hinter einer rauen Schale bestens verbirgt.

Das Schรถne an Clausens Erzรคhlung aber ist: Er spinnt nicht nur eine flotte Handlung (bei der dann auch der arme alte Janos ein nicht allzu wรผrdiges Begrรคbnis bekommt), sondern lรคsst auch die sonst so รผblichen Tiefenmonologe weg, mit denen andere Autoren glauben, die psychischen Nรถte ihren Protagonisten zeigen zu mรผssen. Als hรคtten sie im eigenen Leben nicht aufgepasst.

Denn wer mit seinen Problemen zu kรคmpfen hat, der verspinnt sich nicht in Dauermonologe. Der drรผckt das, wo er kann, nur zu gern weg, tut so, als ginge das Leben ganz normal weiter. Und es bricht nur dann durch, wenn Momente der intensiven Gefรผhle den Panzer aufbrechen.

Wobei bei Kolja noch hinzukommt, dass er sich gegenรผber Reinhold und Verena wie ein kleiner Hochstapler fรผhlt. Was nicht nur mit seiner Absicht, beide vom Springen abzubringen, zu tun hat. Denn natรผrlich kรถnnen wir unsere Mitmenschen in der Regel alle nicht wirklich einschรคtzen, auch wenn wir das denken. Genauso wenig, wie wir wirklich wissen, wie sie uns tatsรคchlich sehen.

Falsche Rollen

Das Leben ist schon ganz schรถn verzwickt. Und vielleicht hat Erwachsenwerden nur damit zu tun, dass wir uns mit all den Uneindeutigkeiten lernen abzufinden und einfach versuchen, so zu sein, wie wir uns wirklich fรผhlen. Denn Fakt ist nun einmal auch, dass wir von einer vom schรถnen Schein besessenen Gesellschaft auch regelrecht in Rollen gedrรคngt werden, falsche Rollen zumeist, mit denen wir dann glauben, einfach dazugehรถren zu kรถnnen. Obwohl wir wissen, dass alles nur Schein ist.

Umso schwerer ist es dann natรผrlich, wirklich Freunde zu finden, die einen so nehmen, wie man ist. Oder Freundinnen. Menschen, fรผr die man keine hippe Rolle spielen muss, weil sie einen gerade deswegen gern haben, weil man so verkorkst ist, wie man ist. Oder gar nicht verkorkst, obwohl man dachte, man sei es.

So wie Kolja, der auf dieser Fahrt eben auch lernt, dass es solche Freunde gibt. Auch fรผr ihn. Und dass es vielleicht sogar egal ist, ob einem die Eltern den notwendigen Rucksack Selbstvertrauen mit auf den Lebensweg gegeben haben. Denn wenn man jung ist, kann man sich den noch selbst packen. Denn da ist noch alles mรถglich. Auch dass man Menschen trifft, um deren Verlust es einem wirklich bitter leid ist. So wie es Kolja und Verena am Ende geht, als Reinhold tot ist. Und beide wissen, dass sie ohne Reinhold nicht auf dem alten Vulkan stehen wรผrden, um zusammen die Sonnenfinsternis zu betrachten.

Es gibt sie

Es ist ein Jugendbuch, dass mal nicht als Jugendbuch daher kommt, sondern ganz ernsthaft von jener Verunsicherung erzรคhlt, die einen in dieser Zeit des รœbergangs wahnsinnig, zutiefst traurig und hilflos machen kann. Auch weil man nicht glauben kann, dass es da drauรŸen Leute geben kรถnnte, denen es genau so geht.

Aber die gibt es. Und wenn man sie kennenlernt, sind das in der Regel Freundschaften fรผrs Leben. Fรผr die man dann endlich keine Maske mehr aufsetzen muss. Und weiรŸ: Mit denen kann man durch dick und dรผnn gehen. Die stehen einfach, wennโ€™s drauf ankommt, mit ihrer โ€žlila Bestieโ€œ vorm Haus.

Ein ermutigendes Buch. Auch wenn Murmel Clausen irgendwie nur seine eigene Geschichte erzรคhlen wollte. Aber am Ende haben alle Geschichten ihre eigene Logik. Sie erzรคhlen, was wirklich erzรคhlt werden muss. Wie diese hier.

Murmel Clausen โ€žLemingโ€œ, Verlag Voland & Quist, Berlin und Dresden 2024, 22 Euro.

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