Was an großer Literatur tatsächlich bleibt, das ist nach 200 Jahren ziemlich klar. Das sind dann nämlich die Bücher, die immer wieder neu aufgelegt, neu übersetzt und von immer neuen Generationen gelesen werden. So wie das mit dem Lebenswerk Honoré de Balzacs (1799–1850) ist. Die Frage ist eher: Wann findet man mal die Zeit, diese großen Romane mal wieder zu lesen? Dem Literaturwissenschaftler Jürgen Glocker passierte das in einem dringend benötigten Erholungsurlaub.

Eine Masse Schnee rund um eine einsame Berghütte kam noch hinzu. Aber Balzac hatte er ganz bestimmt nicht zufällig im Gepäck. Und nach einem „erstbesten Buch“ klingt es auch nicht unbedingt, wenn es ausgerechnet die „Verlorenen Illusionen“ sind, die Glocker nicht nur die Zeit in der Hütte vergessen lassen, sondern auch eine Idee reifen ließen.

Nämlich genau diese zu diesem Buch, das viel mehr ist als eine Einführung in die große Erzählwelt Balzacs. Und auch mehr als eine – literarische – Beschäftigung mit dem Autor der „Comedie humaine“.

Eine Biografie ist es schon gar nicht, denn davon gibt es schon dutzende. Auch wenn Biografen oft das nicht sehen, was Literaturwissenschaftler sehen: die enge Verbindung von Werk und Autor. Der Autor ist auch sein Werk. Und zwar erst recht, wenn er sich mit all seiner Energie hineinwirft und es aus sich herausschleudert, wie das Balzac getan hat, stets unter dem enormen Druck seiner Schulden. Doch viel größer war ja der Druck, den er sich selber machte, als er beschloss, dieses gewaltige Opus über das Frankreich im frühen 19. Jahrhundert zu schreiben.

Eine Zeit, die es in sich hatte, die alle bestehenden Verhältnisse über den Haufen warf, geprägt von Kaiserreich, Restauration, zwei Revolutionen und dem Beginn einer Epoche, deren Früchte wir heute genießen. Oder auch nicht genießen, weil diese neue Epoche auch alles Schlechte in den Menschen freigesetzt hat – Machtgelüste, Gier, Geiz, Hartherzigkeit, Egoismus, Spielsucht, Eitelkeit und Prahlerei.

Schaumschläger, Betrüger, Karrieristen

Das ist nicht nur Glocker so gegangen, als er nun – angeregt durch seine Urlaubslektüre – praktisch die ganze „Menschliche Komödie“ noch einmal las, möglichst in den besten neuen Übersetzungen, mit Zugriff auf die französischen Standardausgaben. Die Romane handeln zwar alle Anfang des 19. Jahrhunderts. Doch es war genau die Epoche, in der sich aus dem Sturz des Alten die neue, von Profit und Kapital getriebene Gesellschaft herausbildete.

Und als gerade diese Millionenstadt Paris zum Schauplatz von neuen Karrieren, Abstürzen, falschen Träume und zersplitternden Illusionen wurde.

Und die Typen, die Balzac in seinen Romanen gestaltet hat – man schätzt das Figurenensemble auf mindestens 2.700 Personen –, erinnern verblüffend an Typen, die auch heute wieder das gesellschaftliche Parkett bevölkern. Karrieristen, Betrüger, Populisten. Als hätte sich nichts geändert. Als hätte sich das Maskenspiel des „Enrichissez-vous“ einfach wieder in neuer Politur in die Welt gesetzt.

Und wir wundern uns über Gestalten wie aus dem Gespensterkabinett, die sich aber fast genauso aufführen wie die skrupellkosen „Helden“ in Balzacs Romanen.

Mit den Worten Glockers beim Eintauchen in den Roman „La Vieille fille“: „Was hat sich in unseren kleinen Städten seit dem deutschen Neunundachtzig, seit dem Mauerfall, seit der Einführung des Euro, seit dem verstärkten Aufkommen rechtspopulistischer Kräfte und im Zuge der Innenstadtsanierungen geändert, im Osten wie im Westen? Und je mehr wir darüber nachdenken, desto mehr bemerken wir zahlreiche Modifikationen, größere und kleinere Veränderungen, die Welt erscheint plötzlich flüssig und gar nicht mehr so fest und stabil.“

Das Maß aller Dinge

Auf einmal ähneln unsere Zeit und unsere Provinz erstaunlich den Provinzen, die Balzac eben auch schildert – gnadenlos, ironisch, voller Ironie. So erlebten auch Balzacs Zeitgenossen die Jahre nach dem Ende des Kaiserreichs, als sämtliche Verhältnisse ins Rutschen zu kommen schienen, weil auf einmal nur noch eins regierte und alle Schicksale bestimmte: das Geld.

Und niemand schilderte damals so unverblümt und temperamentvoll die Jagd nach dem Geld, seine Funktionsweise und seinen Einfluss auf eine ganze Gesellschaft wie Balzac. Und auf einmal merkt man: Was da im Frühkapitalismus entfesselt wurde, wurde bis heute nicht gebändigt. Es kommt immer wieder in neuer Maskerade.

„Die Großen begehen fast ebenso viele Schändlichkeiten wie die Elenden, aber sie begehen sie im Verborgenen, und so bleiben sie groß“, zitiert Glocker aus einem von Balzacs Schlüsselromanen, aus „Eine Evastochter“, in dem eindeutig das Geld der Hauptakteur ist.

„Ihre Gesellschaft betet nicht mehr den wahren Gott an, sondern das Goldene Kalb! So sieht die Religion ihrer Verfassungsurkunde aus, die in politischer Hinsicht nichts kennt als den Besitz.“

Das ist das Erstaunliche und das Erschreckende an Balzacs Romanen: Man sieht die eigene, vom Geld regierte Gegenwart, im Spiegel der Julimonarchie. Seine Figuren „führen uns vor Augen, dass in der postnapoleonischen Welt, die Balzac beschreibt, das Geld längst nicht mehr nur eine Maßeinheit oder ein Zahlungsmittel darstellt, sondern zu einem Wert an und für sich, ja zur Maßgabe aller Dinge geworden ist – auch wenn es noch vereinzelte Rückzugsgebiete gibt, wo Moral und Gefühl über die Geldgier triumphieren, wie beispielsweise Madame Chardon und ihre Tochter Eve zeigen. Dennoch regiert Geld die Welt.“

Verlorene Illusionen

Und wer viel Geld hat, steht auch über den Gesetzen. Für ihn gilt eben nicht mehr „vor dem Gesetz sind alle Franzosen gleich“. Der Reiche „wird den Gesetzen nicht gehorchen, sondern die Gesetze werden ihm gehorchen. Für Millionäre gibt es kein Schafott und keine Henker“, zitiert Glocker aus dem „Chagrinleder“.
Und es gibt eine Menge Leute, die sich dann auch entsprechend verhalten in Balzacs großer menschlicher Komödie.

Wer sich darauf einlässt, bekommt eine Schleuderfahrt der Gefühle, sieht liebevolle Menschen scheitern, regelrecht ausgeplündert, sieht Zyniker über Leichen gehen, Trottel in politische Ämter streben, eine ganze Gesellschaft auf der Jagd nach Titeln, Macht, Einfluss und Geld. Man lernt die Bestechlichen und die Opportunisten kennen. Oft über mehrere Romane hinweg.

Denn manche Gestalten begleitet Balzac über ihre ganzen verschlungenen Lebenswege hinweg, er zeigt Aufstieg und Fall. Und vor allem immer wieder: verlorene Illusionen.

Weshalb der Band „Verlorene Illusionen“ einer der zentralen Bausteine der „Menschlichen Komödie“ ist. In manche der 91 Romane, die Balzac in einem furiosen Arbeitsfleiß vollenden konnte, taucht Glocker tiefer ein, weil sie für ihn in besonderer Weise die Arbeitsweise und den hohen Anspruch Balzacs zeigen, der fast alle seine Romane noch frisch an den Probedrucken aus der Druckerei überarbeitete und noch einmal und noch einmal überarbeitete.

Er ist nicht nur ein klarsichtiger Beschreiber des Seelenzustands der Gesellschaft. Er schildert auch die Häuser und Absteigen, in denen seine Heldinnen und Helden leben, beschreibt ihre Gesichter, das Wetter, die Landschaft – alles atmosphärisch dicht, weil er auch über diese Beschreibung des kompletten Bühnenbildes die Dramatik seiner Geschichte aufbaut.

Selbst wenn seitenlang nichts passiert in seinen Romanen, ist der Leser gefesselt, schaut mit den Augen des Autors in eine Welt, die so dicht und atmosphärisch wird, das man glaubt, direkt in sie hineinlaufen zu können.

Zerstörerische Kräfte

Und natürlich erzählt Glocker, was für ein Geniestreich es war, als Balzac begann, seine Romane als Teil eines riesigen gesellschaftlichen Panoramas zu denken, auch wenn er die Bücher erst ab 1842 unter dem Titel „Comédie humaine“ erscheinen ließ. Dass einige Titel bei der damaligen Kritik auf Ablehnung und Unverständnis stießen, auch das ist nur zu verständlich. Denn er scheute sich nicht, dieser von Gier und Rücksichtslosigkeit besessenen Gesellschaft ihre eigene Zerstörung zu zeigen.

Oder mit Glockers Worten: „In seinem Diptychon Die armen Verwandten zeigt Balzac, dass die Gesellschaft von innen heraus zerfressen wird, er demonstriert, wie Familien auseinanderfallen und zugrunde gehen. Und dass daran die menschlichen Leidenschaften Schuld tragen und die asymmetrisch gewachsene Bedeutung des Geldes. Letztlich ist es der Verlust eines ungeschriebenen Moralkodex, eines ursprünglich selbstverständlichen Gesellschaftsvertrags, der die zerstörerischen Kräfte freisetzt. Diese Entwicklung scheint anzuhalten und sich weiter zu beschleunigen.“

Und das hat Folgen, wie Glocker feststellt: „Heute erleben wir, im Gegenzug, die akzelerierte Verrechtlichung der europäischen Gesellschaft, in der fast alles juristisch geregelt werden muss, weil sich nichts mehr von selbst versteht.“

Und so lernt man mit Balzac nicht nur „Glanz und Elend der Kurtisanen“ kennen, sondern auch den Aufstieg cleverer Strippenzieher, das Scheitern großer Ambitionen, schauen in herrschaftliche Häuser (die sich gerade im rapiden Niedergang befinden) und solche, in denen alles Talmi ist, lernen den eindrucksvollen Wucherer Gobseck kennen, zynische Journalisten, Staatsanwälte und Dandys.

Und gerade weil Balzac uns derart lebenspralle Figuren vorsetzt und sie oft widersprüchlich handeln lässt, bleibt es gar nicht aus, dass man die Vergleiche mit einer nicht weniger zynischen Gegenwart sucht.

Wie bewahrt man sich Menschlichkeit?

Aber Glocker hat einen Trost, den Balzac-Leser natürlich schon kennen: „Ganz allgemein gesprochen, könnte man sagen, wenn ich für einen Augenblick ein wenig pathetisch werden darf, dass das Leben mit Literatur, das Lesen von Romanen und Erzählungen und Gedichten eine Art ist, sein Leben sinnvoll zu führen und mit der Welt umzugehen.“

Wobei er kenntnisreich natürlich auch die Querverbindungen zu anderen Autoren zeigt, die sich alle mehr oder weniger in engster Verwandtschaft zu Balzac finden – von Stendhal über Heine und Flaubert bis zu Proust und Thomas Mann. „Balzac-Leser sind im Vorteil“, schreibt Glocker. Eben auch, weil dieser durch sein gewaltiges Arbeitspensum und den selbst bezeugten Missbrauch unheimlicher Mengen nächtlich aufgebrühten Kaffees früh erkrankte und verstorbene Autor einem mit seinen Geschichten den Blick dafür öffnet, wie sich Menschen vom Geld korrumpieren, narren und verführen lassen.

Und dabei ihre Menschlichkeit bewahren (auch diese Personen hat Balzac mit Liebe gezeichnet) oder sie für drei Silberlinge verkaufen. Weshalb einige Bücher auch nicht zufällig die phantastische Welt eines E.T.A. Hoffmann berühren, mit wundersamen Begegnungen und teuflischen Pakten.

Und so gelang Glocker am Ende eben nicht nur ein Buch, in dem er seine Begeisterung für Balzacs Romane in Worte fasst (was vor ihm auch schon ganze Generationen von Autoren taten), sondern den Lesern auch die Türen öffnet in das Universum Balzacs. Mit vielen Anregungen, mit welchem Buch sich das Eintauchen in dieses Universum besonders anbietet, wenn man nicht gleich anfängt, die ganze „Comédie“ hintereinander weg zu lesen.

Jürgen Glocker „Honoré de Balzacs Universum“ Morio Verlag, Heidelberg 2024, 28 Euro.

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