Es ist schon nicht so einfach mit den literarischen Gattungsbezeichnungen. Max Halder hat für sein Prosastück den Begriff der Novelle gewählt. Und auch gleich noch den Untertitel „Wie man Denken überleben kann“. Man merkt schon: Es wird verzwickt. Denn wirklich ernst gemeint ist nur der Stubenvirtuose aus dem Titel: Aaron heißt er, hat vor ein paar Jahre sein Pharmakologiestudium beendet, dann aber beschlossen, sich nicht in einem Brotjob zu verausgaben.
Seine Stube hat er im schönen Regensburg, mittendrin in der alten Bischofsstadt. Manchmal nennt er sie auch Gelehrtenstube. Aber ein so recht produktives Gelehrtenleben lebt er nicht. Will er auch nicht leben. Denn eigentlich hat er beschlossen, „nicht in den Sog des technokratischen, prahlerischen, überregulierten, inspirationslosen, unverantwortlichen, unästhetischen, globalideologischen Zeitgeists zu geraten.“
Was man durchaus nachvollziehen kann. Da wäre er nicht der Einzige, der am rücksichtslosen Zerstören der Welt durch ein blindes Technokratiedenken nicht teilhaben will. Wir leben in einer Zeit der Aussteiger.
Und der Verweigerer.
Nur: Was tun? „Denn er wusste, dass seine schlafenden und betäubten Zeitgenossen und Zeitgenossinnen dort drinsteckten, eigentlich herauswollten, aber doch nicht herausfanden. Sie wollten heraus, denn sie spürten, dass etwas nicht in Ordnung war. Was genau das war, war unerheblich. Die Richtung stimmte nicht.“
Wen Unerhörtes nicht geschieht
Aarons Problem aber ist: Eigentlich will er mit seinen Zeitgenossen auch nichts zu tun haben. Wirkliche Begegnungen vermeidet er, setzt sich beim Laufen durch die Gassen der Altstadt lieber Kopfhörer auf und hört Musik. Deswegen passiert in dieser Geschichte auch nichts. Auch nichts Unerhörtes, um auf Goethes Novellen-Definition zurückzukommen.
Der Held der Geschichte ist am Ende noch genauso derselbe wie am Anfang. Er hat sich zwar diverse Drogen eingeworfen und einen Tag sogar regelrecht planmäßig in einem gewaltigen Drogenrausch verbracht. Denn er weiß ja, wie man sich das Zeug herstellt. Dazu kann er das Labor eines ehemaligen Studienkollegen nutzen.
Aber es ist wie so oft, seit man die schwärmerischen Versuche etwa von Jack Kerouac gelesen hat, das Besondere des im Drogenrausch Erlebten zu beschreiben: Es bleibt beim Schwärmen. Die große Bewusstseinerweiterung bleibt im Kopf der Protagonisten. Nichts davon wird hernach zur genialen Erkenntnis der Welt. Auch nicht bei Aaron, der sich ja sowieso längst eingeigelt hat in seiner Gedankenwelt. Die er für schwer und besonders intensiv hält.
Er hat sich sein Leben mit 800 Euro eingerichtet, braucht nicht mehr, will nicht mehr. Doch so wirklich glücklich scheint er in seinem Einsiedlerleben auch nicht zu sein. Auch wenn er sich Regeln gesetzt hat, die den leeren Tagen irgendwie Struktur geben – Yoga, Malen und Schreiben gehören dazu. Aber das Einzige, was er schreibt, ist am Ende eine Kritik zu einem Film im Klubkino, in dem ein Regisseur fünf Stunden lang versucht hat, die Beliebigkeit des Lebens zu zeigen.
Da könnte es philosophisch werden. Aber Aaron ist kein philosophischer Kopf. Auch wenn er meint, einer zu sein. Auch Philosophie lebt von der Begegnung, von Gesprächspartnern. Aber ist denn nicht alles Gespräch schon kaputt in unserer Gesellschaft? Hat sich Aaron nicht auch deshalb aus der langweiligen Jobwelt verabschiedet?
„Das Bedienen von und Warten auf Maschinen, das Abarbeiten von Vorschriften und Betriebsanweisungen, das stetige Ausführen der immer selben Handgriffe“, erinnert er sich an das öde Arbeitsleben, dem er aber schon seit vier Jahren entgeht. „Das Resultat zeigt sich in einer Art domestizierten Faul- und Fadheit, die sich derer ermächtigt, die sich nicht entschlossen genug dagegen wehren.“
Eine Anti-Novelle
Da könnte der Anfang einer Geschichte stecken. Andere gehen deshalb auf die Barrikaden, in die Politik oder in verrückte Bürgerinitiativen, suchen sich neue Freunde, die einen wirklich fordern, die auf Augenhöhe sind und denen das inhaltsleere Blabla der normierten Welt ebenso auf den Keks geht. Die gibt es. Natürlich gibt es die. Sie machen ihr Leben zur Novelle und riskieren Unerhörtes. Goethe hat’s verstanden. Wird er nicht mehr gelesen in der Schule?
Was Max Halder letztlich mit diesen einsamen Tagen seine Stuben-Helden gelingt, ist eher reine Anti-Novelle: Es passiert gar nichts Unerhörtes. Außer dass man einen jungen Mann kennenlernt, der eigentlich nicht weiß, was er im Leben will, außer seine Tage allein zu verbringen, mit Gedanken, die ganz und gar nicht so gefährlich sind, dass sie lebensgefährlich wären.
So wenig, wie die vielen Weltenrettungsgespräche auf trunkenen Studi-Partys lebensgefährlich sind. All dieses Gerede über „das System“, das auch in Max Halders Geschichte so unkonkret und ungreifbar bleibt wie in so vielen anderen „Das System ist schuld“-Erzählungen.
Aaron jedenfalls kommt in all den durchgrübelten Tagen zu keiner Entscheidung: „Funktioniert das System, überhaupt, ist das System zu retten und überhaupt: Muss das System gerettet werden? Ist es nicht sinnvoller, das System zu dekonstruieren, das System von Grund auf neu aufzubauen?“
Die Sache mit dem Zeitgeist
Es scheint ein Generationenproblem zu sei : „Glücklich sein? Mächtig sein? Reich sein? Alles zu hoch gegriffen? Zufrieden sein? Eine kleine Oase aufbauen? Helfen? Wenn all diese Fragen nicht im Ansatz geklärt sind: Wie sollte Aaron und mit ihm mindestens eine ganze Generation eine Entscheidung treffen können?“
Aaron jedenfalls trifft keine. Aber die Fragen sind ja nicht dumm. Denn was wollen und sollen wir auf der Welt? Dass die Angebote, die eine in Wohlstand versackte Gesellschaft bietet, die nur noch das große heilige Wachstum im Kopf hat, keine wirklich guten Angebote sind, wissen viele, spüren viele. Manche verweigern sich dann auf ähnliche Art wie Aaron. Ratlos und ohne die Kraft, wirklich Entscheidungen zu treffen.
Denn wenn man etwas ändern will, müsste man schon wissen, wie es hinterher aussehen soll. So weit aber kommt der in seiner Stube Sitzende nicht. Vielleicht auch, weil man dazu den Mut braucht, hinauszugehen und Gleichgesinnte zu suchen. Sich einzulassen auf Menschen.
Das heißt auch: Manchmal aus der Spur zu geraten, anzuecken, den Halt zu verlieren. Etwas, was Aaron scheut. Lieber sucht er in langen Yoga-Runden seine Erdung. Nur ja nicht abheben.
Oder in der „Trichter des Zeitgeistes“ geraten. Denn wenn man da hineingerät, „hält einen Gelderwerb, hält einen die Fata Morgana der Versicherungen und Sicherheiten, der Annehmlichkeiten und Neiderzeuger darin gefangen.“ Ein Zustand übrigens, den Aaron ebenso als Einsamkeit und Verlorenheit interpretiert. Denn wer immerzu nach dem Gelde streben muss, hat keinen Ort, um sich des Wesentlichen im Leben zu besinnen. Ein Ort, von dem Aaron anzunehmen scheint, dass er ihn in seinem Stubendasein gefunden hat.
Fausts Einsamkeit
Was bleibt am Ende? Ein Bursche, der seine Abenteuer im Kopf erlebt. Und sich eigentlich nur für eins entschieden hat: Sich für nichts zu entscheiden. Dazu berühmte Autoren zu zitieren wie Heisenberg und Jung. Aber das ändert nichts. Er verlässt die Beobachterposition nicht – darin sogar Goethes Faust sehr ähnlich, der in seiner Kammer auch schon glaubte, alles studiert zu haben und alles zu wissen: ein kauziger alter Eigenbrötler, der die Begegnung mit den Menschen da draußen schon aus Prinzip meidet. Genauso wie dieser Aaron, wenn er sich mal rausbegibt ans Donauufer: „Wie sinnbildlich seine stundenlangen Spaziergänge durch die alte Bischofsstadt, wie offenbarend die Dutzenden Läufer am Donauufer, wie erschlagend das tagtägliche Treiben in den Gassen und Straßen dieser und jeder andere Stadt auf diesem Planeten.“
Da will er gar nicht dazugehören, gar in den Wirkkreis anderer Leute geraten, in dem man sich verheddern könnte.
Das war auch Fausts Problem. Aber nicht Goethes, der sehr wohl wusste, dass das Leben erst da beginnt und wesentlich wird, wo man sich den scheinbar so närrischen Anderen aussetzt, Beziehungen eingeht und Wirkungen erzeugt und erlebt. Man möchte dem arme Aaron ein Pferd schenken.
Das Prinzip Verantwortung
Aber der scheint am Ende ganz mit sich zufrieden, fühlt sich „unheimlich aufgeräumt, sortiert, geordnet“ als Ergebnis seines wohl kalkulierten Drogenrausches am Tag zuvor. Sein Leben dreht sich nur noch um ihn selbst, auch wenn er sich ab und zu vornimmt, sich „um mein Mädchen“ zu kümmern, was er aber trotzdem nicht tut. Vielleicht kümmert sich das Mädchen sogar längst schon um sich selbst. Man kann auch vor lauter Grübelei über „das eigentlich Nicht-Zu-Verstehende“ vergessen, dass das Leben das eigentlich Unaufgeräumte und Unfertige ist, aus dem man etwas machen könnte.
Aber das hätte dann mit Verantwortung zu tun, jener Verantwortung, die Halder mit Hans Jonas’ „Prinzip Verantwortung“ zitiert. Doch sein Aaron wählt die Nicht-Verantwortung, das Nichtsein, das so schön frei ist „von allen Unvollkommenheiten, die jeder positiven Wählbarkeit anhaften“ (Hans Jonas). Denn darum geht es am Ende. Auch in Aarons Gedanken, wenn er sich selbst immer wieder erklärt, warum er mit dem Treiben der Menschen da draußen nichts (mehr) zu tun haben will.
Er hat die Nichtverantwortung gewählt, weil jedes wirkliche Begegnen mit Menschen voller Unvollkommenheiten ist. Zwangsläufig. Aber es sind genau diese Unvollkommenheiten, die erst Geschichten zu Geschichten werden lassen. Und Menschen Novellen erleben lassen. Manchmal sogar von unerhörter Art.
Und so hat der Mensch tatsächlich die Wahl. Und ganz bestimmt gibt es nicht wenige, die sich so absentieren wie Einsiedlerkrebse, wie es dieser Aaron tut. Zunehmend voller Scheu vor den Anderen da draußen.
Ein Pudel könnte helfen, denkt man sich da. Pudel in Studierstuben haben schon so manches einsame Leben in eine neue Geschichte verwandelt.
Max Halder „Der Stubenvirtuose“ EINBUCH Buch- und Literaturverlag, Leipzig 2023, 15,40 Euro.
Keine Kommentare bisher