Leipzig feiert derzeit noch 300 Jahre Bach, da Johann Sebastian Bach vor 300 Jahren mit vier Planwagen voller Hausrat und zwei Kutschen nach Leipzig kam, um hier sein Amt als Thomaskantor anzutreten. Obwohl es auch nicht seine erste Wahl war. Das vergessen die Leipziger so gern, die so gern den Appellationsrat Abraham Christoph Plaz zitieren: „Da man den Besten nicht bekommen könne, müsse man mittlere nehmen.“ Immerhin hatten zuvor Georg Philipp Telemann und Johann Friedrich Fasch abgesagt.

Manchmal muss man einfach den Blick weiten, um eine Person wie diesen Bach wieder im Maßstab seiner Zeit sehen zu können. Und dass der Leipziger Rat vor 300 Jahren nicht unbedingt mit vielen musikalischen Kennern besetzt war, zeigte sich ja auch in den Folgejahren immer wieder. Das musste er auch nicht. Er musste ja nur eine Stadt verwalten. Und einen Mann finden, der das Amt des Thomaskantors ausfüllen konnte.

Wo ist noch Raum für künstlerische Freiheit?

Nicht nur in Leipzig dachte man da eher pragmatisch und unterkühlt, eigentlich genauso wie in Hamburg, wo sich Bach 1720 durchaus schon für die Organistenstelle an der Kirche St. Jacobi interessierte. Immerhin hätte er hier die Nachfolge des berühmten Johann Adam Reincken antreten können. Und vielleicht sogar angetreten, hätte sich nicht auch in Hamburg der staubtrockene Pragmatismus der Frühaufklärung breit gemacht.

Mit den Worten von Matthias Gretzschel: „Im Zuge der Aufklärung war schon seit der Vesperordnung von 1699 der Anteil der Musik in den Gottesdiensten immer weiter reduziert worden. Die Organisten wurden nun dazu angehalten, die Choräle zu begleiten, sie aber nicht mehr mit Improvisationen kunstvoll zu variieren.“

Nur zu verständlich, dass Bach diese Stelle dann doch lieber nicht annahm, obwohl er wusste, dass seine Zeit als Hofkapellmeister in Köthen ihrem Ende entgegenging.

Woran – wie Gretzschel natürlich auch erzählt – die künftige Braut von Fürst Leopold von Anhalt-Köthen ihren Anteil hatte: Henriette von Anhalt-Bernburg, die sich nicht für Musik interessierte. Aber da bremst man dann schon. Denn das ist eine viel zu einfache Geschichte und wird der jungen Fürstin, die schon knapp anderthalb Jahre nach der Hochzeit starb, nicht wirklich gerecht.

Der Hauptgrund für Bachs Scheiden ist wohl eher die extreme Geldknappheit des kleinen Fürsten aus Anhalt, der schon vor der Heirat seine Hofkapelle personell schrumpfen musste, obwohl er so stolz darauf war, dass er sie hatte und sich etwas leistete, was es vergleichbar nur an den Höfen in Weimar, Dresden und Berlin gab, um mal in der Region zu bleiben, in der eben auch Johann Sebastian Bach nach einer Stelle suchte.

Die Freiheit eines Hofkapellmeisters

Wobei er Hofkapellmeisterstellen allein schon deshalb bevorzugte, weil er da künstlerisch freier arbeiten konnte. Aber in Weimar hatte er es sich mit dem Fürsten verdorben, sodass die begehrte Stelle dann doch ein Mann bekam, der Bach nicht das Wasser reichen konnte.

Indem Gretzschel in diesem Buch den gesamten Lebensweg Bachs durch alle seine Lebensstationen begleitet, wird deutlich, in welcher Zwickmühle ein hochbegabter Musikus damals steckte, der nicht nur formidabel Instrumente wie Orgel, Geige und Cembalo spielen konnte, sondern auch den tiefen Drang verspürte, als Komponist schöpferisch tätig sein zu können.

Und die Kantorenstelle in Leipzig war zu seiner Zeit für diese Freiräume (noch) berühmt. Hier hatten Leute wie Calvisius, Schein, Michael, Schelle und Kuhnau gewirkt. Und dass der Rat die Stelle wieder mit einem hochkarätigen Musiker und Komponisten besetzen wollte, war eigentlich klar, als man Telemann die Zusage erteilte. Aber der wollte nicht nur in Hamburg bleiben (und dort ein besseres Gehalt durchsetzen), der empfahl seinen Freund Bach eben auch für diese Stelle in Leipzig.

Wann schreibt eigentlich einmal jemand über diese doch ziemlich einmalige Musikerfreundschaft? Oder hat es schon jemand getan?

Gretzschel erwähnt das alles zumindest.

Lebensstationen

Man merkt, dass er sich für diese besondere Persönlichkeit Johann Sebastian Bach eben wirklich interessiert und sich nicht einfach damit zufriedengibt, dass der Junge aus der berühmtesten Musikerfamilie der Welt stammte. Auch wenn natürlich das Stammhaus der Bache in Weimar genauso im Buch vertreten ist wie Bachs frühe Lebenstationen Eisenach, Ohrdruf, Lüneburg und Arnstadt. Jeder Lebensstation ist ein eigenes Kapitel gewidmet, um große Fotostrecken bereichert.

Und natürlich erzählt Gretzschel auch, was man an diesen Orten in Bezug auf Bachs Aufenthalt alles besichtigen kann. Denn selbstredend wird überall, wo er sich etwas länger aufhielt, die Erinnerung an ihn gepflegt, gibt es Museen und Ausstellungsräume. Sodass man auch jedes Mal einen anderen Bach kennenlernen kann.

Und ganz klar immer wieder auch den Bach, der keine Mühen scheut, die großen Musiker seiner Zeit kennenzulernen und von ihnen zu lernen. So kommen Lübeck und Hamburg mit ins Bild. Obwohl Gretzschel Bachs innige Bindung an das in Thüringen geübte Luthertum betont, merkt man, dass man gleichzeitig einen sehr modernen Künstler vor sich hat, der ein Leben lang nach einem Ort suchte, an dem er ohne Behinderungen komponieren und musizieren konnte.

Auf einmal wird dann Leipzig doch so etwas wie ein letzter Ort der Möglichkeiten, auf den Bach 1723 dann alle seine Hoffnungen setzte und die ersten Jahre eigentlich dazu nutzte, den Herren Stadtvätern zu zeigen, wie es jubeln und klingen kann in Leipzigs Kirchen. Überzeugen durch großartige Musik. Das musste doch funktionieren? Es gibt durchaus verschiedene Blickwinkel auf diesen Bach und seine durchaus impulsive Art, mit Vorgesetzten umzugehen.

Ein bereisbares Leben

Mit Gretzschels Buch kann man regelrecht Bachs ganzes Leben bereisen. Manchmal mit Erinnerungsstätten im falschen Haus (wie in Eisenach), manchmal gar nur dessen Resten (wie in Weimar), aber das Buch gibt ein Gefühl für diese Zeit, in der ein Mann wie Bach immer wieder wie ein unpassendes Element wirkt – also regelrecht aus der Zeit gefallen, zu spät oder zu früh.

Und dann beinahe dem Vergessen anheimgefallen, bis dann Anfang des 19. Jahrhunderts die Grandiosität seines Werks wiederentdeckt wurde und sein tatsächlicher Siegeszug um die Welt begann. Und die Leipziger anfingen, sein Grab zu suchen. Und vielleicht auch fanden. Gretzschel lässt da so seine Zweifel durchblicken. Aber letztlich geht es um die Würdigung dieses Thomaskantors, an den heute sein Grab in der Thomaskirche, zwei Denkmale und Bach-Archiv und Bach-Museum erinnern.

Nicht zu vergessen die beiden Bach-Porträts, die inzwischen beide in Leipzig heimisch sind.

Und weil es echten Musikfreunden nicht genügt, sich mit eindrucksvollen Fotografien und lebendigen Texten zum Leben des Komponisten durch Bachs 66 Jahre auf Erden zu blättern, hat Gretzschel im Anhang noch einmal alle Orte alphabetisch geordnet, die Adressen der Wirkungsstätten mit angegeben, an denen man Bach nah sein kann, und auch Webadressen und Führungen mit angegeben. Auf diese Weise kann man sich daraus selbst eine eigene Rundreise zu Johann Sebastian zusammenstellen. Vielleicht gar mit den diversen Bach-Festivals auf der Strecke, die jedes Jahr ein begeistertes Publikum anlocken.

Denn Bachs Musik klingt heute noch genauso lebendig wie zu seiner Zeit. Nur sitzen nun keine unmusikalischen Ratsherren im Publikum, die den Gottesdienst mit der aus ihrer Sicht opernhaften Musik über sich ergehen lassen, sondern Menschen, die extra wegen der Bach-Aufführungen kommen. Und im Leipziger Rat ist man heute ziemlich froh, dass Bach sich von den aufs rein Pragmatische fokussierten Vorgesetzten nicht hat entmutigen lassen und dageblieben ist, trotz aller Widrigkeiten und allen Streits.

Eigentlich eine sehr heutige Geschichte. In diesem Buch ist sie bilderreich und sehr lebendig erzählt für alle, die sich auf die Spuren des berühmtesten alle Bache machen wollen – von Eisenach bis Leipzig oder von Arnstadt bis Weimar. Eindrucksvolle Kirchen und majestätische Orgeln bekommt man quasi gratis dazu. Und ein Gefühl dafür, dass Mitteldeutschland eigentlich ein ganz guter Ort ist für richtig große Musik.

Matthias Gretzschel „Auf den Spuren von Johann Sebastian Bach“ Ellert & Richter, Hamburg 2023, 20 Euro.

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