Auf den ersten Blick scheint diese Geschichte wie ein Schatten der ersten beiden Corona-Jahre zu sein: Als sich die ersten Gerüchte über eine hochansteckende Krankheit aus Indien nähern, flüchten ein paar Bewohner der großen Stadt in ihr Feriendomizil auf dem Land, in ein Nest namens Viertannen. Es könnte jetzt also so weiter gehen wie in Boccaccios „Dekamerone“: Man erzählt sich lauter Geschichten, bis die Epidemie vorbei ist.
Doch die Bewohner der Neuzeit sind keine Geschichtenerzähler mehr. Schon nach wenigen Tagen ist der Vorrat erschöpft und man hat sich nichts mehr zu sagen. Während sich die Lage da draußen scheinbar gar nicht entspannt. Die Nachrichten sind eher verwirrend. Irgendwer dort ergreift irgendwelche Maßnahmen. Ein paar Leute protestieren, ziehen mit Transparenten in die Stadt.
So weit, so zeitnah. Aber schon früh deutet Wolfgang D. Melzer, der als promovierter Psychologe in der Oberlausitz lebt, an, dass es in seiner Geschichte eigentlich um etwas Anderes geht. Unter anderem um einen Ideenkosmos des polnischen Autors Stanislaw Lem, den dieser in vielen SF-Romanen durchdiskutiert hat – z.B. in „Also sprach Golem“. Dass sich die Programmierer im großen Turm der Verwaltung auf dem Konstrukteur Trurl aus Lems „Kyberiade“ berufen, dürfte für Leser des polnischen Autors schon wie ein Fingerzeig sein, dass Melzer eigentlich dieselbe Frage gestaltet: Kann man mit „intelligenter“ Technik eigentlich die dummen Probleme der Menschheit lösen?
Eine Fragestellung, die in den 1960er Jahren, als Lems erste Robotergeschichten erschienen, noch nicht allzu viele Menschen aufregte. Da war eher noch die blinde Begeisterung für die glücksverheißenden Entwicklungen der Technik maßgebend.
Das hat sich aber gründlich geändert. Inzwischen gibt es nicht nur das Internet, sondern auch das, was ihre Erfinder „Künstliche Intelligenz“ nennen. Und überall kann man die Verheißungen lesen, schon ziemlich bald würde niemand mehr die KI von menschlicher Intelligenz unterschieden können. (Weshalb auch der Turing-Test in Melzers Buch eine Rolle spielt.) Die KI könne gar alle menschlichen Probleme lösen.
Die Trurls im Tiefgeschoss
Und da stellt man sich dann ungefähr das vor, was die in Viertannen Gestrandeten so nach und nach herausbekommen über die Veränderungen außerhalb ihres Refugiums. Denn in einem solchen leben sie: einer von der Außenwelt weitestgehend abgeschotteten Exklave, in der sie auch weitestgehend vor der Pandemie geschützt sind. In der sie aber irgendwann natürlich unruhig werden, weil die Informationen von außen nur spärlich kommen. Da wachsen natürlich die Mutmaßungen, dass sie vielleicht nur Teil eines Experiments sind, ausgeliefert einer gesichtslosen Macht.
Nach und nach stellt sich dann freilich heraus, dass die Macht so gesichtslos nicht ist. Oliver, der vor der Flucht nach Viertannen selbst in der Verwaltung im Turm gearbeitet hatte, müsste es eigentlich wissen. Aber augenscheinlich hat auch er die Entwicklung einfach so hingenommen. Obwohl die Verwaltung im Turm, längst schon mit den Algorithmen der Trurls aus dem Tiefgeschoss gearbeitet hat, die Verwaltung sozusagen kybernisiert hat.
Die ansteckende Seuche war dann sichtlich nur der Punkt, an dem eine unsichtbare Schwelle überschritten wurde. Denn die ganz normalen Menschen, die Natives, wie sie später genannt werden, sterben an der neuen Seuche und keine Impfung hilft. Verschont bleiben nur jene Menschen, die sich schon Teile ihres Körpers durch kybernetische Bauteile haben ersetzen lassen. Und natürlich die Androiden, die einem gleich in der ersten Szene begegnen, in der jüngeren SF meistens Cyborgs genannt.
Sie übernehmen nicht nur die Verwaltung, sondern schaffen auch umgehend eine neue Hierarchie, in der der Grad der technischen Aufrüstung des menschlichen Körpers darüber entscheidet, welche Freiheiten der Einzelne genießt und welchen Rang er in der Gesellschaft einnimmt. Und das ganz trocken und logisch. Denn nun herrscht auch die Logik der Maschinen – eiskalt, ohne moralische Anwandlungen, rein zweckgerichtet.
Die gefühllose Logik von Algorithmen
Also letztlich die Moral all der Konstrukteure, die heute an Künstlicher Intelligenz herumbasteln in der Überzeugung, die gefühllose Logik von Algorithmen würde letztlich zu besseren Ergebnissen führen als das von Zweifeln beeinflusste menschliche Denken.
In Melzers Geschichte scheint diese Veränderung rasend schnell vonstatten zu gehen. Kaum ein Jahr vergeht, und die neuen Hierarchien der EPs und Neos haben sich etabliert. Die Menschen, die sich noch nicht mit kybernetischen Bauteilen haben aufrüsten lassen, leben in Refugien wie Viertannen – und finden sich damit mehr oder weniger ab, arrangieren sich erstaunlich schnell mit der neuen Fremdbestimmung, auch wenn sie manchmal an Rebellion denken.
Im Grunde ist das Refugium Viertannen auch für den Autor eine Art Experimentierfeld: Wie würden sich ganz normale Menschen, die durch eine Pandemie aus ihrem normalen Leben herausgerissen wurden, in so einem Fall verhalten? Welche zwischenmenschlichen Dynamiken kommen da in Gang? Welche Eigenschaften erweisen sich als hilfreich, die kleine Gemeinschaft vor dem Zerfall zu bewahren?
Was letztlich auch Fragen einschließt, die heute sowieso schon unsere hochtechnisierte Gesellschaft beschäftigen: Welchen Sinn hat eigentlich ein Menschenleben? Was gibt ihm Sinn? Wann fühlen wir Menschen uns tatsächlich gebraucht und akzeptiert? Ist es wirklich das Überlegenheitsdenken, das Melzer in seinem Roman auch den EPs und Neos verpasst hat, die scheinbar mit der Rigidität von Prozessoren davon ausgehen, dass sie sowie besser und schneller denken und entscheiden können als die Natives?
Der falsche Glanz der blanken Rationalität
Ganz augenscheinlich trifft auch das so nicht zu. Denn all diese technisch aufgerüsteten Gestalten haben das Problem, das alle Maschinen haben: Sie können sich nicht vermehren. Sie können sich reparieren und Teile auswechseln und Prozesse unheimlich beschleunigen. Aber ohne die Natives fehlt ihnen die Zukunft.
Und sie beginnen sogar, seltsame Gewohnheiten anzunehmen. Denn etwas scheint ihnen trotzdem zu fehlen, obwohl sie geistig scheinbar so überlegen sind und so rational in allen Beschlüssen. Hier wird es philosophisch oder psychologisch. Denn die Frage lautet ja auch: Was macht eigentlich Intelligenz aus? Sind es tatsächlich nur die logisch getroffenen Entscheidungen, die Maschinen dann – wie in Melzers Roman – dazu prädestinieren, die Verwaltung und damit die Herrschaft über die nicht-optimierten Menschen zu übernehmen?
Eine ganz und gar nicht utopische Frage, auch wenn Melzer seinen Roman in einer nicht näher definierten nahen Zukunft spielen lässt. Einer Zukunft, die aber eben auch das Resultat unserer Gegenwart ist und des weitverbreiteten Glaubens an die Wunder der Technologie und die Überwindbarkeit menschlicher Intelligenz durch denkende Maschinen. Im Silicon Valley ist man ja geradezu besessen von diesem Denken. Und denkt eben nicht weiter.
Denn eine Zukunft, die nur noch der maschinellen Intelligenz gehört, ist keine Zukunft mehr. Melzer lässt seine EPs uns Neos zwar ganz rational agieren. Aber nichts an dieser schönen neuen Welt betört. Wer aufsteigen will in der Hierarchie, lässt sich zwar wichtige Körperteile durch technische Implantate ersetzen. Aber wärmend ist die Welt der rationalen Hirne nicht ansatzweise. Etwas fehlt. Und das scheinen ausgerechnet die seltsamen Dinge zu sein, die die Natives sich ausdenken, um sich die Zeit zu vertreiben und ihrem Alltag einen Sinn zu geben.
Brotbacken, Strümpfestricken, Möbelbauen
Denn bloßes Verwaltetwerden schafft keinen Sinn, genauso wenig wie blitzende Technologie oder der Glanz einer technischen Hierarchie.
Und auch wenn die Bewohner von Viertannen mit sich hadern, mit ihren Verlusten nicht zurechtkommen und einander mit denselben Miesepetrigkeiten begegnen, die auch wir aus unserer keineswegs schon von Superhirnen beherrschten Gesellschaft kennen, raufen sie sich doch immer wieder zusammen, erfüllen ihr Leben mit sinnvollen Tätigkeiten, auch wenn es nur Brotbacken, Strümpfestricken und Möbelbauen ist. Aber man merkt: Melzer hat den ganzen Menschen im Blick, der eben nicht nur aus seiner eiskalten Ratio besteht, sondern auch aus Hoffnungen und Gefühlen, aus einem liebebedürftigen Leib, aus Trauer und Angst und Zuversicht – und dem dringenden Bedürfnis, mit seinen Händen etwas Bleibendes zu schaffen. Also immer über den konkreten Tag hinaus zu denken und zu leben.
So dass man am Ende tatsächlich keine große Bange hat, dass die kleine Gemeinschaft in Viertannen überlebt. Es geht also nicht ganz so dystopisch zu wie etwa bei den Strugatzkis oder bei Ray Bradbury. Und auch nicht so dystopisch wie in den Vorstellungen vieler vielgefragter „Denker“ unserer Tage, die den Sieg der KI predigen, als wäre es ganz heißer Stoff, den wir unbedingt haben müssen.
Eher erzählt Melzers Parabel davon, dass Menschen auch dann in der Lage sind, ihre Menschlichkeit zu bewahren, wenn die Welt dafür scheinbar keinen Raum mehr bietet. Ganz normale Menschen, die – wie Melzers Figurenensemble – aus ganz gewöhnlichen Lebensumständen in die Inselsituation ihres Refugiums gespült wurden und lange nicht wahrhaben wollen, dass es keine Rückkehr zu den vertrauten Verhältnissen geben wird.
Ein wütender Androide
Und dass auch eine künstliche Intelligenz vor denselben Fragen stehen würde, die Menschen sich zum Sinn ihres Daseins stellen, lässt Melzers einen seiner Neos sogar in einer kleinen Wutrede äußern, in diesem Fall also eines Androiden, der so „menschlich“ geworden ist, wie sich das die Roboterkonstrukteure immer ausmalen, wenn sie eine Rechnereinheit in den Kopf ihrer Geräte setzen. „Ihr standet daneben und pflegtet den Glauben, alles im Griff zu haben; glaubtet, ihr hättet Merkmale wie ‘Individualität’, ‘Kreativität’ in Alleinbesitz. Hieltet euch für das Original, das nicht zu kopieren war. Dabei genügte eine kleine Modifikation der Ähnlichkeits-Sympathie-Kurve, um aus eurem Vorsprung einen Rückstand zu machen“, äußert dieser Sedild II. „Seither nämlich fühlen wir Neos uns zu denen hingezogen, die moderat anders denken, als wir selbst, während ihr immer noch am liebsten mit Leuten die Zeit verbringt, die genauso sind wie ihr.“
Golem XIV lässt grüßen.
Nur dass Lems Supercomputer gar nicht daran denkt, der Menschheit aus ihrem Schlamassel zu helfen. Während bei diesem Sedild II Vorwürfe anklingen, die auch ein beherzter Psychologe aus der Oberlausitz seinen mitmenschlichen Zeitgenossen machen dürfte, die auch deshalb immer wieder Blödsinn anrichten, weil sie lieber nur mit lauter Gleichgesinnten herumhängen, statt die „Klugheit des Schwarms“ zu hinterfragen und sich auf ihre eigene Vernunft zu besinnen.
Und das gilt nun einmal auch für den Umgang mit „intelligenten“ Technologien, um das zumindest zu erwähnen.
Wolfgang D. Melzer „Refugium“, Thelem Universitätsverlag, München und Dresden 2023, 24,80 Euro
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