Jeden Montag schreibt Timm Völker einen neuen Beitrag für seinen Blog „Hallo Hölle“. Im jüngsten, am 1. Januar veröffentlicht, geht es um Kaulquappen. Und am Ende um den Zusammenbruch der Gesellschaft. Völkers Blog-Einträge sind kleine Geschichten voller Abschweifungen. So, wie das Leben in unseren Köpfen spielt. Nur schreibt das nicht jeder auf. Schon gar mit Hintergedanken. Denn dazu braucht man einen Kopf. Und ein bisschen Selbstreflexion.
Auch darüber, wie unvollkommen man selbst ist. Nichts im Leben ist perfekt. Man macht Fehler, baut Unfälle, trinkt sich die Hucke voll und hat mit dem Kater danach zu kämpfen. Man ärgert sich über lärmende Nachbarn. Oder liegt wie dieser Timm Völker im Bett und versucht zu erraten, was hinter dem Lärm da draußen stecken könnte, da man ja aus Erfahrung weiß, dass der erste Gedanke meist trügt, auch und gerade wenn der Ärger über die Ruhestörung in einem hochschießt.
Überwiegend meinen es die Lärmmacher ja gar nicht böse, gehen nur ihrer Arbeit nach. Oder lassen das Kind einfach mal schreien, weil es sich sonst gar nicht beruhigt. Wer wie Timm Völker durchs Leben geht, ist zwar verdutzt und immer wieder in gedanklichen Mühlen. Aber der geht nicht raus wie ein Wildwest-Cowboy und sorgt mit Gewalt für Ordnung.
Leben auf Erden
Das gibt es noch, freut man sich beim Lesen. Wir sind nicht allein in der Welt mit den Kraftmeiern, Rechthabern und Rücksichtslosen, für die die Welt erst in Ordnung ist, wenn sie das letzte Unkraut gejätet und den letzten Unangepassten niedergebrüllt haben. Leute mit ihren seltsamen Ordnungsvorstellungen, die so gar nichts mit dem Leben auf Erden zu tun haben.
Dem richtigen Leben, in dem Fehler, Irritationen, Unabsichtlichkeiten, Unfälle und Narreteien zum normalen Geschehen gehören. Und uns alle heimsuchen, egal, wie perfekt wir alle sein wollen.
Aber wir vergessen dabei so schnell, es den anderen nachzusehen. Auch Timm Völker vergisst es, obwohl er sich ständig Gedanken darüber macht. Das erzählt er in einer Geschichte über einen Obdachlosen, der eine Nacht im Ladenlokal schlafen durfte, am nächsten Tag aber scheinbar nicht wieder gehen will. Das ist auch im Kulturverein Besser Leben in Leipzig, wo Völker den Hausmeister macht, nicht hilfreich.
Aber der zum Gehen aufgeforderte Mann lässt sich Zeit mit dem Anziehen. Das zehrt an den Nerven. Auch der Autor hat noch was vor und drängt …
Da merkt man schon, wie der Mensch in der Klemme sitzt. Eigentlich will er nachsichtig sein, aber in unserer Gesellschaft drängt immer irgendwas – ein Termin, eine Absprache, eine Aufgabe. Wirklich gelassen zu sein haben wir alle längst verlernt. Und kehren dieses Getriebensein dann natürlich auch gegen all diejenigen, die so nicht mehr funktionieren wollen. Oder können.
Man sehe nur den ebenso gestressten SPD-Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, der jetzt „Arbeitsverweigerern“ doch wieder das Bürgergeld streichen will, also die alten Sanktionen aus dem Rezeptkorb der CDU wieder einführen. Als wenn es ausgerechnet unser Problem wäre, dass ein paar Leute nicht arbeiten wollen. Oder nicht das arbeiten wollen, was ihnen aufgedrängt werden soll.
Andere bekommen fürs Nichtstun einen Haufen Geld. Und wieder andere müsste man mit Geld bestechen, damit sie endlich aufhören, Schaden anzurichten.
Selbst-Gespräche
Mit Timm Völkers wöchentlichen Notaten bekommt man so ein Gefühl dafür, wie wir uns tatsächlich vorkommen in diesem von vielen falschen „Du musst!“ besessenen Land. Und dass wir eigentlich davon gern unbehelligt wären, gern in einer Welt lebten, in der wir Sinn sehen in dem, was wir tun. Hausmeister sein in einem Kulturverein zum Beispiel und die Dinge in Ordnung bringen. Und nebenbei Musik machen, die vom Leben singt. Und vom Zustand der Welt.
Timm Völker – Leben Den Lebenden (Die Erde Cover)
Immer wieder mit Rückblenden in die Kindheit, die Timm Völker in Halle erlebt hat. Durchaus auch mit Erfahrungen, die viele Kinder machen, die sich eher fern halten von aggressiven Altersgenossen.
Die ja auch nur das ausprobieren, was sie von Erwachsenen gelernt haben, „inklusive aller Streitereien und dem Auftauchen auch gemeiner Charakterzüge der einzelnen Spielerinnen und Spieler. Als Kind war ich kein Freund davon, lebte bevorzugt in eigenen Welten, wollte erschaffen.“
Wobei er sich in vielen seiner Geschichten ganz und gar nicht als einsamer Eremit erweist. Es scheint nur so. Weil er immerfort reflektiert. Selbst mitten im Gespräch mit Leuten. Denn wenn man nichts für selbstverständlich nimmt, bekommen alle Gespräche einen doppelten Boden, jede Begegnung wird seltsam. Und man fragt sich beim Lesen: Geht das nicht allen so? Nur die meiste reden nicht darüber und denken auch nicht darüber nach.
Über das Beinah-Überfahrenwerden durch ein Polizeiauto, den Kauf und den Verlust einer schönen blauen Lampe, die Erinnerungen an die seltsamen Ermahnungen der Eltern, die das Kind mit schrecklichen Krankheitsbildern erschreckten, um es von Dingen abzuhalten, die es gern haben wollte.
Es sind natürlich Notate wie Selbstgespräche eines Autors, der sich seines Hier-Seins immerfort vergewissern will. Selbstgespräche, wie wir sie alle immerzu führen (und ich wäre jetzt verwundert, wenn jemand sagt, dass er in seinem Kopf keine Selbstgespräche führt): „So begann also dieser Morgen für mich. Im weiteren Verlauf des Tages, an dem ich einer einsamen Tätigkeit nachging, fiel mir auf, dass ich, auch wenn ich allein bin, ständig Worte ausspreche. (…) Ich tendiere dazu, die Dinge, die ich tue, zu kommentieren oder mit dem Brotmesser oder dem Geldschein zu sprechen. Keine langen Unterhaltungen, aber kurze Kommentare.“
Die Welt um uns
Ist es denn nicht so? Die Welt will kommentiert sein.
Das tun sowieso alle, auch wenn sie sich lieber über Dinge aufregen, die irgendwo anders passieren und an denen sie sowieso nichts ändern können – Fußballspiele, Politik, die da oben, das Fernsehprogramm von gestern Abend usw.
Aber was denken sie über ihr eigenes Leben? Das, was sie selber tun und erleben? Oder nehmen sie das gar nicht wahr? „Vielleicht ist das nur ein Ausdruck davon, dass ich denke, dass allen Dingen Leben innewohnt“, schreibt Völker.
Und erzählt es in mehreren Blog-Beiträgen dann über Wespen, Ameisen, Fliegen, denen ja wirklich Leben innewohnt. Und wer nicht ganz abgestumpft ist, nimmt das natürlich wahr, dieses Leben um uns. Und empfindet sich deshalb auch als Teil der lebendigen Welt. Nicht wichtiger oder besser als die Tiere ringsum. Vielleicht ist es das, wovor sich die meisten Menschen fürchten und deshalb lieber nicht reflektieren. Lieber wie Dampfwalzen durch ihr Leben stapfen, ohne Rücksicht auf Verluste.
Zwischen zwei großen Blöcken mit Wochen-Notaten hat Timm Völker noch einen Packen „Rockervisionen“ gepackt. Obwohl er kein Rocker ist, es aber toll findet, wenn er – mit den richtigen Ausstattungsstücken – so aussieht wie einer. Denn natürlich wollen wir alle etwas sein im Leben, streben ein Bild von uns an, mit dem wir Eindruck schinden. Und ein sonnenbebrillter Rocker schindet natürlich Eindruck. Auch wenn man die richtige Brille erst mal finden muss.
Nur geträumt
In den „Rockervisionen“ geht es traumhaft verwirrend zu. Manchmal auch etwas albtraumhaft und gewalttätig. So wie das in Träumen auch vorkommt. Auch wenn es nicht alles Träume sind – manchmal nur weiter geträumte Gedanken. Geschichten, die sich aus einem winzigen Nukleus entwickeln und dann abdriften. Da muss man schon aufpassen als Autor, dass sie nicht zu viel Eigenleben entwickeln, sonst schreibt man am Ende noch einen 600-Seiten-Roman.
Und zwar voller Nachtgedanken. Aber wer schreibt solche Gedanken nach dem Erwachen schon auf oder kommt beim Langsam-Wachwerden überhaupt auf die Idee, dass man das aufschreiben könnte? Ganz gewiss Musiker, die im Traum die beste Melodie der Welt schon am Schlafittchen hatten. Oder den Text zum nächsten Song. Ganz fest und gut gemerkt. Und am nächsten Morgen strahlt die Sonne – und alles ist weg.
Natürlich die im Titel erwähnte Schwerkraft nicht. Die einen wie dieser Welten-Betrachter natürlich nicht unbedingt provozieren wollte. Aber wie das so ist im Leben: Sie knallt einen eben doch immer wieder auf den harten Boden und hinterlässt ihre Male an unserem Körper. Unaufmerksamkeiten und Leichtfertigkeit werden bestraft. Das wissen wir irgendwann. Was uns nicht unbedingt davor bewahrt, beim nächsten Mal doch wieder auf die Nase zu fallen.
Hallo Leben
Worum es ja eigentlich geht in diesem Blog „Hallo Hölle“, der auch „Hallo Leben“ heißen könnte, weil von nichts anderem die Rede ist als von dem immer neuen Verwirrtsein übe sich selbst und das So-da-Sein in dieser Welt. Mit all ihren Irritationen, die auch von den anderen ausgehen, die das aber gar nicht zu merken scheinen.
Dabei ist das Leben genau so. Irritierend, voller Unschärfen und Uneindeutigkeiten. Was ja mal gesagt werden muss. Auch wenn es scheinbar keiner hören will und eine Menge Leute so laut nach Eindeutigkeit brüllen, dass man taub und dumm davon wird. Und Angst bekommt, was sie ja auch wollen, die Brüller. Die Immer-Rechthaber, mit denen man garantiert nicht acht Stunden am Tresen sitzen möchte, um bei ganz viel Bier zu schönen Gesprächen zu kommen.
Denn schöne Gespräche bekommt man nur, wenn beide um die Verwirrnisse des Lebens wissen. Und sich nicht schämen, es zuzugeben. Oder es eben aufzuschreiben, Woche für Woche.
Mit dem Buch kann man einsteigen in Timm Völkers Welt. Und vielleicht entdecken, dass sie der eigenen Sicht aufs Universum gar nicht so unähnlich ist.
Timm Völker „Die Schwerkraft provozieren“ MGans Verlag, Berlin 2023, 24 Euro.
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