In diesem Jahr hat der Verlag Voland & Quist eine kleine, handliche Taschenbuchserie in Vereinsfarben begonnen. Erschienen sind schon zwei Bändchen zur Dynamo-Dresden-Ikone Andreas Trautmann und zum ehemaligen Kölner Lukas Podolski. Das jüngste Bändchen ist nun in Blau-Weiß gewickelt und widmet sich einem Spieler, der den 1. FC Magdeburg – nachdem ein Wechsel zu RB Leipzig nicht geklappt hatte – erst in die 3. und dann in die 2. Bundesliga schoss. Was einer ganzen Stadt endlich ihre Depressionen nahm.

Denn zumindest die Fußballwelt in Magdeburg war völlig im Keller, als der einstige DDR-Meister und Pokalsieger nach dem vergeblichen Versuch, den Sprung in die Bundesliga zu schaffen, für Jahre in den Amateurfußball abstürzte. Für eine Landeshauptstadt mit sowieso schon desolater Stadtgeschichte ist das wie ein K.-o.-Schlag.

Wenn man schon mit einer durchwachsenen Wirklichkeit nicht zurande kam, dann war doch der Fußball immer noch die Badewanne, in der sich das Gemüt bei Heim- und Auswärtsspielen wieder berappeln und manchmal auch in Freudengesänge ausbrechen kann. So wie in Offenbach 2015, wo Magdeburg in der Relegation seine Rückkehr in den Profifußball schaffte.

Mittendrin dieser Christian Beck, der die Geschicke des FC Magdeburg bis 2021 mitbestimmte, bevor er mit einem Abschiedsspiel verabschiedet wurde. So stürmte der Fußballer in die Herzen der Menschen, die sich mit Schals und Gesängen ganz ihrem Club verschreiben.

Und das sind eben auch ganz normale verrückte Leute, die diesen wöchentlichen Kick brauchen. Einfach um wieder das Gefühl zu haben, dass ihre Stadt kein gottvergessenes Nest ist, dass noch was geht und man sich für seinen Verein so richtig reinhängen kann.

Ein Märtyrer als Schutzheiliger

Nur ein paar Leute übertreiben es in diesem Buch und entführen den nichtsahnenden, gealterten Fußballstar. In der Magdeburger Provinzzeitung bricht gleich Hektik aus. Und so ist auch Edda gleich mittendrin, die sich gerade über einen Kumpel ein dreiwöchiges Praktikum bei der Zeitung ergattert hat, aber ganz offensichtlich von Tuten und Blasen keine Ahnung hat.

Es ist ihre Oma Mo, die die Sache in die Hand nimmt, weil sie sich in den Magdeburger Verhältnissen und besonders denen in „Texas“ gut auskennt. Sie hat so eine Ahnung, wen sie anrufen müsste, um herauszubekommen, wo dieser Christian Beck sich aufhalten könnte.

Aber ihren eigentlichen Arbeitsplatz hat sie im Magdeburger Dom, wo sich die über 1.000-jährige Geschichte der Stadt nun einmal ballt. Und wo die Skulptur des Stadtheiligen Mauritius nicht nur an das Märtyrer-Ende des Hl. Moritz erinnert, sondern auch an die beiden Schreckensereignisse in der Magdeburger Geschichte, bei denen die Stadt völlig in Schutt und Asche gelegt wurde.

So ein lodernder Hintergrund passt natürlich auch zur modernen Magdeburger Geschichte, die im Grunde ein dritter Kahlschlag war. Denn die bis 1989 hier ansässige Schwerindustrie wurde fast völlig demontiert. Die Stadt an der Elbe verlor geradezu ihren Stolz und ihre Seele.

Außer vielleicht im Altstädtischen Klinikum, wo einige der Protagonisten in dieser Geschichte ihre Ausbildung gemacht haben und teilweise noch tätig sind. Einem über Jahrzehnte immer wieder umgebauten und erweiterten Labyrinth, in dem die Legenden und Anekdoten leben. Die auch in dieser Entführungsgeschichte eine Rolle spielen.

Erinnerungen an große Zeiten

Denn die angekratzte Seele einer Stadt braucht einen Ort. So etwas wie ein Museum für die Geschichte des Fußballclubs, wo man hingehen und sich an den Erfolgen vergangener Zeiten weiden kann. Mitsamt dem Europapokal, den die Magdeburger unter ihrem Trainer Heinz Krügel 1974 gewannen. Und die Entführung des legendären Stürmers könnte ja ein Druckmittel sein, die Stadt dazu zu zwingen, so ein Museum einzurichten.

Nur dass der Versuch der Entführer, irgendwie eine Art Forderungspapier zu formulieren, dann doch eher in immer neue Erinnerungen an die Fußballgeschichte der Stadt ausartet und die Zeit vergeht, ohne dass auch nur eine einzige Forderung zu Papier kommt.

Es ist also die Geschichte einer Entführung, die so richtig nicht rund werden will. Es ist ein kleiner mentaler Ausflug in die Magdeburger Stadtgeschichte. Und auch in die Geschichte von Eddas Oma Mo, die am Ende den wohl wichtigsten Anruf tätigt. Denn am Ende geht es immer darum, dass wir uns aufraffen und anrufen, wo wir schön längst hätten anrufen sollen.

Kontakte wieder auffrischen und aus unseren manchmal lebenslangen Schneckenhäusern herauskommen. Und da können Fußballvereine, in denen wieder Leben ist und welche die Begeisterung ihrer Anhänger befeuern, durchaus helfen.

Und so eine Rolle spielen sie ja in unserer heutigen Zeit. Das haben viele Manager aus dem Profi-Fußball irgendwie vergessen. Der Club ist die Stadt. Und wenn der Club nicht mehr begeistert, wird eine ganze Stadt trübselig. Menschen wollen dabei sein, wenn Dinge passieren, wenn ihre Lieblinge unten auf dem grünen Rasen so richtig zeigen, wie man kämpfen kann.

Stellvertretend, weil man ja im eigenen Alltag oft keine Gelegenheit hat zu zeigen, wie man sich richtig durchboxt, nach Niederlagen wieder aufsteht und mit vollem Einsatz doch noch seine Ziele erreicht.

Etwas, was ganz offensichtlich einer Menge Menschen fehlt. Das können Geld und Konsum schlicht nicht ersetzen. Und da ein erfolgreicher Fußballclub in der Regel auch von der Wirtschaftskraft der in der Stadt heimischen Unternehmen abhängig ist, sind Erfolge des Clubs fast immer auch ein Synonym für den wirtschaftlichen Aufstieg einer Stadt. Je größer die Erfolge, umso voller die Ränge.

Jubel und Erinnerung

Und in den Erzählungen der fünf Frauen, die in Anne Hahns Geschichte zu Wort kommen, wird deutlich, wie das alles miteinander verknüpft ist. Auch mit Bildern aus der Vergangenheit, in denen der Aufstieg des Vereins als großes gemeinsames Fest gefeiert wurde. Aber irgendwie gerät dabei der entführte Christian Beck aus dem Fokus.

Auch weil die Entführer eigentlich nicht wirklich wissen, wen sie eigentlich mit ihren Forderungen überschütten wollen und warum. Eigentlich merken sie, dass es eher ihr eigenes Gefühl ist, mit der eigenen Geschichte noch nicht wirklich im Reinen zu sein.

Am Ende gibt es keine tolle Entführungs-Story in der Lokalzeitung, keinen Polizeieinsatz mit Blaulicht und Hubschrauber, nur einen verwirrten einstigen Fußballstar, der nicht recht weiß, was ihm passiert ist. Vielleicht hat ja der Heilige Mauritius über ihn gewacht. Vielleicht auch nur das Gewissen einer erfahrenen Krankenschwester.

Beck jedenfalls hat nur ein paar wirre Träume. Und Anne Hahn warnt ihre Leser gleich zu Anfang: „In diesem Buch sind nur die Träume wahr.“ Obwohl es diesen Christian Beck und die Wiedergeburt der Magdeburger Fußball-Träume ja tatsächlich gibt. Das gibt auch einer alten Ottostadt wieder Zuversicht, dass noch was geht in dieser Welt, wo scheinbar immer nur die gewinnen, die sowieso immer gewinnen.

Aber manchmal gewinnen auch die Kleinen, gibt es einen Stürmer wie diesen Beck, der den Ball ins Netz haut und die Ränge jubeln lässt. Stellvertretend, wenn der Jubel sonst eher nur in kleinen Portionen zu haben ist. Aber irgendwo muss der Mensch jubeln. Dafür sind die Stadien da. Und die Clubs und dieses seltsame Spiel mit einem Ball.

Die „Reihe Ikonen“ bei Voland & Quist könnte also im Lauf der Zeit recht umfangreich werden und durchaus überraschende Autorinnen und Autoren dazu animieren, ihre Fußballgeschichte zu schreiben. Mit erwartbaren und unerwarteten Ausgängen.

Aber da sind sich Fußball und Literatur bekanntlich sehr verwandt.

Anne Hahn „Träumt Christian Beck“ Voland & Christ, Dresden und Berlin 2023, 12 Euro.

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