Der Titel des Buches irritiert. Und soll auch irritieren. Auch wenn die Ethnologin Juliane Stückrad einen Moment lang überlegte, ob man den Projekt-Titel nicht doch noch ändern sollte, weil er vielleicht als diskriminierend verstanden werden könnte. Aber dann zeigten ihre Feldforschungen rechts und links des einstigen Grenzstreifens von Thüringen, dass der Forschungsansatz voller Möglichkeiten steckt. Denn gerade in Thüringen erweist sich die Randlage oft genug als Mitte.
Und zwar als Mitte eines Deutschlands, das 33 Jahren nach der Wiedervereinigung zerrissener wirkt als noch im Jahr der Friedlichen Revolution 1989. Aber wie etwas wirkt, sagt in der Regel nichts darüber aus, wie es die Menschen tatsächlich erleben. Vieles, was heute politisch als Riss, Abgrund, Unverständnis und Benachteiligung artikuliert wird, ist vor allem Parteiengeschwätz, Stimmungsmache, Zerrbild.
Was eigentlich auch schon 2022 deutlich wurde, als Juliane Stückrad ihren Feldforschungs-Band „Die Unmutigen, die Mutigen“ veröffentlichte, in dem sie der Stimmungslage der Ostdeutschen nachforschte, ihrer scheinbaren Machtlosigkeit und Verbitterung – und ihrem tatsächlichen Selbstbewusstsein. Das scheinbare Selbstbild ist oft genug nur eine Projektion der übermächtigen Fremdbilder.
Oder mit Dirk Oschman gesprochen: Der Osten ist eine westdeutsche Erfindung. Es ist nun einmal bequem, an uralten Stereotypen und Vorurteilen festzuhalten. Da muss man sich mit den Leuten und Landschaften nicht wirklich beschäftigen und kann trotzdem so tun, als ob man alles besser weiß.
Startpunkt: Eisenach
Dem sollte auch dieses Projekt abhelfen, das die Eisenacher Ethnologin Juliane Stückrad zusammen mit dem Eisenacher Fotografen Ulrich Kneise schon 2018 andachte, um es zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung dann umzusetzen. Aber dann kam Corona dazwischen und beide konnten erst mit zwei Jahren Verspätung in die Forschung vor Ort einsteigen. Über 700 Kilometer rechts und links der thüringischen Grenze zu Bayern, Hessen und Niedersachsen, die bis 1990 eben auch die stark bewachte Grenze der DDR zu Westdeutschland war. Und die Orte und Landschaften teilte – und gleichzeitig zwei Machtblöcke als Teil des „Eisernen Vorhangs“.
Kein Wunder, dass 2022 auch Rebecca Maria Salentin hier mit dem Rad entlang kam bei ihrer Tour auf dem „Iron Curtain Trail“. Und auch Ulrich Kneise hat einige dieser alten Kolonnenwege, Erinnerungsstätten an die Mauertoten und Denkmale der Wiedervereinigung fotografiert. Auch weil diese Orte meist nicht das Trennende betonen, sondern das Gemeinsame.
Wobei Juliane Stückrad in ihrem ausführlichen Essay gerade die vielen Dimensionen auslotet, die solche Grenzräume aufweisen – und die in Gesprächen mit 26 Protagonisten zu beiden Seiten des Grenzstreifens nur zu deutlich wurden. Denn Grenzen trennen nicht nur, sie schaffen auch Übergange, sie sind Inszenierung und Ausdruck von Macht und von Ohnmacht gleichermaßen – auch für ein Land, das seine Begrenztheit ausgerechnet mit einem martialischen Grenzregime manifestierte. Grenzen sind Orte der Sehnsucht. Und oft sind sie gar nicht sichtbar, weil sie sich in den Köpfen der Menschen befinden. In den Vorstellungen vom richtigen Verhalten.
Und sie laden – gerade an der einstigen innerdeutschen Grenze – zum Überschreiten ein. Von West nach Ost genauso wie umgekehrt. Wovon eher weniger die damaligen Grenzübergänge erzählen als die Türme rechts und links der Grenze: Überwachungstürme hier, Ausgucktürme dort, von denen aus neugierige Westdeutsche versuchten, in das abgeschottete Land im Norden zu schauen.
Fragile Mitte
Und ganz so einfach, wie Willy Brandt sich das 1990 vorstellte, als er sich sicher war, „dass jetzt zusammenwächst, was zusammengehört“, war es eben nicht. Der Euphorie folgte die Ernüchterung. Und damit die lange Phase, in der die einen lernten, sich mit den neuen Gegebenheiten zu arrangieren und das Beste draus zu machen, und die anderen mit dem Klagen über die Vergangenheit nicht fertig werden. Übrigens in Ost wie West.
Denn die Grenzgebiete auf beiden Seiten waren durch die Grenzziehung 1945 zu Randlagen geworden, abgeschnitten vom ursprünglichen Hinterland, von wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten und von den Veränderungen, die der Rest der jeweiligen Länder durchlief. Und auch die westlichen Grenzgemeinden mussten nach 1990 begreifen, dass sie eben nicht wieder automatisch zur Mitte Deutschlands wurden, auch wenn einer der mehr oder weniger offiziellen Mittelpunkte Deutschlands in Niederdorla praktisch fast auf der Grenze liegt.
Dafür sind sie in anderer Hinsicht zur Mitte geworden: Als eine Region, die sich noch klarer und schneller neu definieren musste als das Hinterland. Und das wurde in vielen Orten links und rechts des ehemaligen Grenzstreifens auch angepackt. Bei den einen schneller, bei anderen später. Denn zur Erkenntnis gehört auch, dass manche Menschen eher 30 Jahre brauchen, um das Neue zu akzeptieren. Und jüngere Leute viel schneller reagieren und Grenzen überschreiten.
Grenzen im Kopf
Auch wenn viele ältere und neue Grenzen dann trotzdem dazu führen, dass man die Übergänge deutlich erkennt. Mal sind es Sprachverwandtschaften, mal ist es die alte Grenze zwischen Protestanten und Katholiken, mal sind es sogar uralte Ländergrenzen, die schon im Mittelalter existierten. Mal sind es Mentalitätsfragen, die Juliane Stückrad sehr anschaulich analysiert. Was bis dahin geht, dass beide Seiten einander Besserwisserei und emotionale Härte attestieren, weil man mit den gelernten und selbstverständlichen Umgangsformen der Anderen nicht zurechtkommt. Oder sie nicht zu dechiffrieren weiß.
Man bekommt also eine Menge grenzüberschreitende Geschichten zu lesen. In den von Ulrich Kneise verantworteten Teilen als kurze, knappe Reportagen, die das Leben in Orten wie Braunlage und Ellrich, Herleshausen und Creuzburg, Ostheim und Henneberg, Töpen und Hirschberg zeigen. Man landet beiderseits der Grenze in uralten Orten, in denen die Geschiche auch in Fachwerk und Burgen zu besichtigen ist. Man kommt aber auch in Regionen, die sich schon früher grenzüberschreitend gefühlt haben – wie das im Eichsfeld der Fall ist.
Und jede seiner kleinen Reportagen aus dem Jahr 2022 hat Kneise mit schwarz-weißen Aufnahmen illustriert. Denn er bevorzugt bis heute die analoge Arbeitsweise – also mit echtem Film in der Kamera. Man sieht die Menschen beim Feiern, trifft sie in traditionsreichen Unternehmen, die durch Tatkraft und Geduld überlebt haben, begegnet immer wieder den eindrucksvollen Flüssen der Region wie Werra und Saale, erklimmt mit Kneise die Berglandschaft und schaut so immer wieder ganz real von hüben nach drüben und umgekehrt.
So haben die beiden eine Bestandsaufnahme des thüringischen (bayerischen, hessischen, niedersächsischen) Grenzlandes gemacht, in dem das „Grüne Band“, also der naturgeschützte Teil des einstigen Grenzstreifens wie ein grüner Faden ist, auf den die Menschen auch stolz sind.
Grenzen überschreiten
Auch wenn das mit den Grenzen in den Köpfen kompliziert geblieben ist – was ja nicht nur hier der Fall ist. Juliane Stückrad: „Als die territoriale Grenze ihre Funktion verloren hatte, wurden im Inneren soziale Grenzen errichtet. Je stärker die Suche nach der gesamtdeutschen Identität war, umso aggressivere und intensivere Formen konnte auch die Abgrenzung annehmen.“
Augenscheinlich können viele Mitmenschen ohne dieses permanente Grenzenziehen nicht leben. Abgrenzen als Lebenshaltung. Mit fatalen Folgen.
Aber ein gewisses Resümee liegt in diesen Sätzen von Juliane Stückrad: „Meine Reise durch die Randgebiete konfrontierte mich mit komplizierten Grenzziehungsprozessen, bei denen die unüberwindbare Systemgrenze zu Schwellen zwischen Bundesländern zurückgebaut wurde, sich in soziale und kulturelle Schranken verwandelte und als Mauer in den Köpfen verfestigte. Grenzziehungen können zum einen dazu dienen, Hierarchien aufzubauen, und zum anderen, um Gleichwertiges zu trennen.“
Und so wird auf einmal das Arbeiten an Grenzenlosigkeit zum „Synonym für Nähe und Gemeinsamkeit.“
Was man allein schon dadurch erfahren kann, dass man auf den Wegen wandert, die Ulrich Kneise mit seiner Kamera erkundet hat. Und es ist eine faszinierende Landschaft, hier, im grünen Herzen Deutschlands. Die man auch von gläsernen Aussichtspunkten betrachten kann, wie es Kneise auf dem Titelbild tut. Ein Foto, das das verquere Denken in unüberwindbaren Grenzen einfach so in Frage stellt. Auch in Thüringen ist die Welt nicht zu Ende. Auch wenn einige Leute gern so tun, weil sie die Freude des Überschreitens von Grenzen einfach nicht begriffen haben.
Ulrich Kneise, Juliane Stückrad „Randgebiete. Geschichten von drüben“, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2023, 30 Euro
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