Da drauรen ist immer ein anderer Ort โ ein Unort. Wildnis. Barbarei. So kann man auch von Leipzig aus die Welt sehen. Und so sieht man auch von Leipzig aus die Welt. Hinterm Ortsausgangsschild beginnt die Barbarei. Eigentlich sogar davor, wo die Infrastrukturen ausdรผnnen und Stรคdteplaner beschรถnigend von Peripherie reden. Ein durchaus poetisches Thema, wenn man es wie Jan Schaldach betrachtet.
Er lebt und arbeitet in Leipzig. Geboren wurde er in Meiรen. So kennt er sich auch mit der sehr konkreten mitteldeutschen Ortlosigkeit aus. Den Landschaften dazwischen und da drauรen, wo man an leer stehenden Fabrikruinen vorbeifรคhrt, verlassenen Bahnwรคrterhรคusern, weiten, leeren Feldern. Der Landschaft jenseits der โharten Stรคdteโ, wie er schreibt. Doch das da drauรen sind keine leeren Landschaften. Sondern auch Orte der Herkunft, des Gefรผhl verlorener Heimat.
โDas ist er / der ernstgemeinte Schritt / in die Schotterwรผsten. / Dรถrfer verlassen Hรคuser geleert / der vรถllige Absturz in die Peripherie.โ
So beginnt Jan Schaldach diese ineinander verwobenen Gedichte, die am Ende eine Erkundung des Raumes da drauรen sind, den wir zumeist nur kurz wahrnehmen, wenn wir in Zรผgen hindurchfahren. Nicht mal mit dem Auto, denn die Autobahnen sind vรถllig andere Unorte, kรผnstliche Rรคume vรถllig auรerhalb jeder menschlichen Dimension. Die wir ja selbst hier hinterfragen, in den Stรคdten, wo wir so tun, als hรคtten wir ihre Regeln verstanden: โaus dem Zug steigen / an Hauptstadtgleisen /das Schnittstellenflรผstern im U-Bahn-System / als gehรถrte man dazu?โ
Und dann doch das Gefรผhl, dass sich der Raum ganz und gar nicht erschlieรt: โhier muss sie sein / die Liebe im Schatten der Umspannstation / das flรผchtige Ticken โฆโ
Herzlose Stรคdte
Aber wo ist dieses Herz der Stadt? Es gibt die Grenzen, die das Drauรen vom Drinnen scheiden. Aber sie sind durchlรคssig. Manchmal nicht zu greifen. Da fรคngt das Befremdetsein schon in den Steinburgen am Rand der Groรstadt an. Nur ein paar Schritte sind es von hier in die Wildnis. Die ein Ort voller Erinnerung ist, Schatten, Verlustempfinden. Denn natรผrlich geht man nicht weg in die groรen Stรคdte, ohne dabei etwas Unersetzliches zu verlieren.
โHineingeboren in / ein schweres lautes Land / steh ich am Winterfeld / und schweigeโ, lรคsst Schaldach sein Gedicht โLobensteinโ beginnen. Der Weg ins Auรen wird zur Begegnung mit der eigenen Wurzellosigkeit: โDer Blick geht รผbers Winterfeld / dahinter kommt: ein gleiches. / Und dass wir schlieรlich beide nur / in ein geborgtes Land und nicht / ins eigne gehen, weiร ich.โ
So viel zu den Stรคdten und den Landschaften, die auch deshalb immer weniger Heimat sind, weil sie zunehmend anderen Leute gehรถren, zu โBesitzโ geworden sind und damit zum Objekt der absoluten Entfremdung. Auch so kann man Menschen ihre Heimat nehmen und das Gefรผhl, alles Recht der Welt zu haben, hier zu stehen.
Erstaunlich, dass es ein Dichter ist, der mit der leisen Verschiebung der Perspektive etwas ganz Wesentliches zeigt, was die Menschen drinnen und drauรen zunehmend heimatloser macht, wurzelloser und rastloser. Denn wenn wir nie ankommen kรถnnen, weil uns nichts gehรถrt, dann wird das ganze Leben zu einem Suchen nach Halt. Den Geld freilich nicht gibt.
Das Gefรผhl, selbst Peripherie zu sein, schleicht sich selbst in den Alltag. Und ein Gefรผhl verstรคrkt sich, das uns ahnen lรคsst: All die teure Gemรผtlichkeit kรถnnte bald enden. Wir sollten uns vorbereiten, uns โselbst ohne Kissen / auf Ruhe am harten Boden / zu drillenโ.
Streifen am Stadtrand
Die Ortlosigkeit schleicht sich bis in die nรคchsten Beziehungen: โAlso gehen wir weiter auf dem Rand der Erde spazieren / diesen Sommer haben wir lange verloren, hart vibrierte / das Schweigen, ein Handy im Regen.โ
Die Fremdheit im Vertrauten. Wie will mach auch Vertrauen haben, wenn alles nur geborgt ist, gnรคdig gewรคhrt in einer Welt, in der alles stets Anderen gehรถrt. Andere, die der Welt ihre jรคmmerlichen Vorstellungen vom Bauen und Wohnen aufnรถtigen. Auch das treibt Menschen hinaus in die Peripherie. โStadtgrenzende Streifen sind nicht in der Stadt mehr / noch nicht in der Weite. Wohnblocks umschlieรen / die Tage der Meisten. Befreit von verpflichtender Schรถnheit / befreit von den Reichen: hier freier atmen / ein Hohlraum aus Steinen.โ
Da muss einer erst einmal formulieren, wie bedrรผckend die nervige Allgegenwart der Reichen mit ihrer monetรคren Gestaltungsmacht die Freiheit aller beschneidet. Man darf sich durchaus an Mickaรซl Labbรฉs streitbares Manifest โPlatz nehmen gegen eine Architektur der Verachtungโ erinnert fรผhlen.
Unsere Stรคdte (und Peripherien) sehen nicht so aus, wie sie aussehen, weil sie fรผr die Menschen gemacht werden. Sie setzen die Anonymitรคt und Nicht-Gegenwart ihrer Bewohner voraus. Und werden zur Triebkraft fรผr die um sich greifende Einsamkeit: Wo ist noch ein Ort, an dem man sich wirklich angenommen und aufgehoben fรผhlen darf?
So wird selbst das Leben dort zu einem Leben in Ortlosigkeit. Unsicher, ungewiss sowieso. Als stรผnde man die ganze Zeit am Bahnsteig, um Abschied zu nehmen. โWie geht das aus, an der Schwelle zu stehen / eine Liebe die nur alle Jahre hier passiert und / eines tรคglichen Morgen?โ
So endet das. Und endet doch nicht, weil der Zustand des Nie-Ankommens nicht endet. Nicht einmal dann, wenn wir diese unerhรถrte Zweisamkeit dann doch einmal zu fassen bekommen. โKurz trug uns / noch der Sommermorgen / dann barg das Nachthaar am Waldrand / ein ich und ein du.โ
Fluchtversuch
Mรถglich, dass eine Mail einer guten Freundin namens Klara den Autor hineinstieร in dieses Poem, als er ihr seine Plรคne mitteilte, in die Hauptstadt zu gehen. Sie ist auf dem Umschlag des Buches zu finden โ so klug, so einsichtig. โEtwas im Menschen nickt und lรคchelt gern an Orten, die ihre Bedeutung inszenieren, bei denen sich die Macht versammelt. Etwas will domestiziert werden. Das Ankommen in der Hauptstadt erscheint mir als ein zu vorhersehbarer Weg. Bleib vorerst ein bisschen wild โฆโ
Und wie wir mit Jan Schaldachs immer neu ansetzendem Erkunden der Peripherie und der Nicht-Orte erfahren, hat er den Bezug zu dieser Wildnis nicht verloren, das Gefรผhl dafรผr, dass wir ohne die โverlassenen Landschaften, irgendwo zwischen Kaliningrad und der Krim, zwischen Ostpolen und Lobensteinโ gar nicht leben kรถnnen, dass wir sie brauchen.
Gerade weil sie so undefiniert und unkomfortabel sind. Denn wirklich heimisch werden wir bei den โรถffentlichen Menschen, mit gewaschenen Worten und schรถnem, jedoch hartem Gesichtโ nie wirklich sein. Es sei denn, wir verwandeln uns selbst in solche Menschen.
Aber dann schreiben wir keine Gedichte mehr. Und schauen auch nicht mehr mit dieser groรen Sehnsucht und Traurigkeit in die entleerten Landschaften ringsum. Die zu Unorten gemachten Auรenrรคume. Die es auch in den ach so harten Stรคdten zuhauf gibt. Denn wenn Stรคdte verplant werden an ihren Bewohnern vorbei, dann verwandeln auch ihre Rรคume sich in Peripherie โ dann fรผhlt man sich im โHerzenโ der Stadt so entwurzelt wie drauรen an den Rรคndern. Und natรผrlich spรผren das nicht nur die Dichter.
Man weiร nichts Genaues
Aber sie fassen es in Worte und Bilder, geben der Trauer um eine ortlos gewordene Welt Ausdruck, wie es Jan Schaldach hier tut. Manchmal ein wenig melancholisch, manchmal ein bisschen mit Wehmut. Aber letztlich mit einer Nรผchternheit, die man nur entwickelt, wenn man der Sehnsucht nach einem bewohnbaren Ort und echter Nรคhe nicht ausweicht.
Die man, wie es aussieht, nur noch am Rand erfรผllen kann, da, wo der beplante Raum in die Wildnis รผbergeht. Und wir keine Rolle spielen mรผssen fรผr andere, immer mit dem Gefรผhl, dass wir auf irgendwelche zรผrnenden Gรถtter Rรผcksicht nehmen mรผssen. โJeder in den รผberbelegten Zimmern Berlins / bewegt sich verstohlen und leise / niemanden stรถrenโ, schreibt Schaldach in โSรผdliche Routeโ. โDie geflohene Jugend des / Landes versammelt / eine erwartete Zukunft / sich suchend.โ
Was selten so intensiv wahrgenommen wird: Die Ort- und Rastlosigkeit der jungen Leute, die in den groรen Stรคdten ihre Zukunft suchen. Und dennoch spรผren, dass diese Orte auch nur Zwischenorte sind, Maskerade, Kostรผmfest, schรถner Schein. Wer mitmacht, nimmt die Rollen an. Wer nicht vergessen kann, merkt, wie leer die Kulisse ist.
Eine durchaus treffende Beschreibung unserer Zeit. Und ihrer irrenden Ortlosigkeit. Die letztlich selbst das eigene Leben zur Peripherie macht, zum Randbezirk eines ziemlich kalten und harten Nichts in der Mitte, das niemanden trรถstet und wรคrmt. Die wirklichen Begegnungen gibt es, wie es aussieht, vielleicht โzwischen den Stรคdten / da wo der Raum vielleicht frei ist / man weiร nichts genauesโ. Dem das โwill ich nicht mehr, dahin zurรผckโ entgegensteht. Ein zerrissenes Leben, immer an der Peripherie. Wissend darum, dass es auch im Dazwischen bรถse zugehen kann.
So gesehen: das groรe Poem des Menschen, der in der Stadt ein neues Leben gesucht hat und merkt: Wirkliche Gefรผhle gibt es nur an der Peripherie. Gute wie schlechte. Und das wird sich, so wie es aussieht, auch nicht mehr รคndern.
Jan SchaldachโBerichte vom Ausbau der Peripherieโ Thelem Universitรคtsverlag, Dresden und Mรผnchen 2023, 14,80 Euro.
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