„Softhorrorstories“ hat Nina Heller ihre Sammlung mit Kurzgeschichten aus dem Leben überforderter Neuzeitbewohner/-innen genannt. Die meisten gehen ein bisschen beängstigend aus. Fast zwangsläufig, möchte man meinen. Oder um mit Jean-Paul Sartre zu sprechen: „Die Hölle sind die anderen.“ Ein Satz, der die kleinbürgerlichen Verstrickungen seit Sartres Stück „Geschlossene Gesellschaft“ von 1944 bis heute beschreibt. Denn wer alles perfekt haben will, landet in der Hölle.
Und zwar schon auf Erden, in seinem so hübsch möblierten Alltag, in dem Regeln gelten, die tunlichst eingehalten werden sollen, alles beredet werden muss (und nichts verraten werden darf), und der schöne Schein über alles zählt. Eine Konstellation, die ja bekanntlich auch Raymond Carver in seinen gnadenlosen Geschichten ausgelotet hat.
Sartre war mit „Geschlossene Gesellschaft“ nur einer der Ersten, der das Drama der bürgerlichen Hölle so deutlich auf die Bühne gebracht hat.
Geändert hat sich nichts. Wie auch. Wer seine simpelsten Beziehungen mit Erwartungen, Ansprüchen und Normierungen überlädt, der wird ein Leben lang solchen Zerrbildern des richtigen Lebens nachlaufen. Auch dem Adornoschen „richtigen“ Leben im falschen, das es nach Adorno auch im bürgerlichen Möblierungsklimbim nicht gibt. Nicht geben kann.
Aber das ist die Haupttriebkraft einer Gesellschaft, die den schönen Schein, das So-tun-als-Ob geradezu zelebriert – in wechselnden Moden, bunten Ratgeberseiten, Klatsch und Tratsch. Nichts bildet die bürgerliche Scheinwelt so trittsicher ab wie der Boulevard mit seinen Märchen vom glänzenden Leben, von Liebe, Glück und Perfektion.
Unausgesprochene Erwartungen
Und dreht man das einfach um, klettert in den Kopf junger Frauen, die in dieser Welt auf der Suche sind nach der perfekten Begegnung – dann landet man in der Hölle. Auch wenn Nina Hellers Frauen-Gestalten, aus deren Perspektive die Geschichten erzählt werden, nicht die üblichen blondierten Hausfrauenfiguren sind, denen man die Oberflächlichkeit schon am aufgetragenen Elsterglanz ansieht.
Eher sind es Frauen, die ihren Weg suchen in anspruchsvollen Freundschaften, kreativen Jobs, jener Verbissenheit, mit der junge Menschen auf die Suche gehen können, die in gutbesorgten Elternhaushalten immer noch eine Rettungsboje haben und sich eher genervt fühlen, wenn besorgte Eltern anrufen und sich nach dem Befinden ihrer Sprösslinge erkundigen.
Die Hölle, das sind auch die unausgesprochenen Erwartungen der Eltern. Selbst dann, wenn die Protagonistinnen eigentlich keine braven Mädchen wollen. Die Eltern sind ja gern so schön liberal und verständnisvoll – was die Sache aber nicht leichter macht. Nicht, wenn die Mädchen dann in der großen Stadt irgendwie versuchen, mit ihren Gefühlen und Ansprüchen zurechtkommen zu wollen.
Aber auch nicht in der Provinz, die hier ganz offensichtlich eine westdeutsche, gut gefütterte ist. Ellwangen zum Beispiel, wo Nina Heller geboren wurde. Heut lebt sie in Leipzig, hat am Literaturinstitut studiert und kennt auch das abendliche und nächtliche Leben einer Stadt, in der zumindest eine Menge junger Leute niemals ruhen, die Nacht zum Tag machen und die große Liebe suchen. Die perfekte Liebe.
Und scheitern. Nicht weil die anderen Leute nicht liebenswert wären, mit all ihren Macken, die jeder Mensch hat. Sondern weil die ach so braven Mädchen von heute dazu erzogen wurden, sich selbst stets aufmerksam unter Kontrolle zu haben. Wir leben in einer Gesellschaft, die alles kontrollieren will. Und nur Perfektion zählt.
Abgründe überall
Und so geht der größte Teil all dieser Gedanken, der Kraft und der täglichen Beschäftigungen der Protagonistinnen dafür drauf, permanent darüber zu grübeln, ob sie selbst so in Ordnung sind, ob ihre Beziehungen stimmen und wie sie auf andere wirken. Oder wirken könnten. Wenn es nur ja keiner merken würden, wie fehlerhaft eine ist. Die Hölle, das sind wir uns selbst.
Auch so könnte man das Buch überschreiben, in dem die Gefühle der Verunsicherung, des schwankenden Bodens, der Ahnung von möglichen Abgründen schon lange da sind, bevor auch nur das geringste passiert. Oder auch nicht passiert. Denn das Gefühl der permanenten Verunsicherung entsteht in der Regel dadurch, dass nichts passiert. Und auch nichts wirklich wesentlich ist.
Als würden wir nur darauf warten, dass alle schlimmen Verheißungen aus der Kindheit auch eintreffen. All die Befürchtungen und Ängste, die unsere Köpfe anfüllen, bevor wir auch nur einen Schritt ins Leben hinausgewagt haben. Durchexerziert gleich in der ersten Geschichte, in der zwei Freundinnen, die auch noch durch ihre kreative Arbeit aneinander gebunden sind, mit dem Auto ausbrechen aus ihrem Alltag und zu einer einsamen Hütte in den Bergen fahren, unterwegs aber ihre schlimmsten Befürchtungen erzählen.
Eine irritierende Fahrt, weil die Erzählerin mehr als deutlich macht, dass die Nähe der beiden nicht das ist, was sie scheint. Und trotzdem haben die Erzählerinnen jeder Kurzgeschichte keine Scheu, auch das Intimste zu erzählen, sodass man glauben kann, sie sind so offen und unverletzbar wie keine Generation zuvor.
Aber wenn es dann ans Eigentliche geht – sich tatsächlich auf andere Menschen einzulassen, verweigern sie sich, machen selbst Abschiede und Trennungen zu einer Rätseltour, bei der man nicht weiß, was sie nun eigentlich wollen. Und augenscheinlich wissen sie es selbst nicht, sind nach der Schule jahrelang unterwegs, um sich zu finden, wie das so schön heißt.
Und ganz augenscheinlich finden sie sich nicht. Was auch schwer ist, wenn man dazu erzogen wurde, alles, was man tut, immerfort zu hinterfragen, zu bewerten, die Folgen auszudenken. Was natürlich all das, was das Leben tatsächlich intensiv macht, verunmöglicht. Und das Gefühl beim Lesen der Geschichten ist eben nicht nur Bedauern. Sondern auch Erschrecken, wie einem das doch nur zu sehr bekannt vorkommt.
Es ist die ganze Hölle der immerfort bedrohten Kinder des Wohlstands, die fortwährend ihren aktuellen Status taxieren und ihre Kopf-Urteile fällen. Aber nie wagen, aus ihrer so beschwerlich angelernten Rolle zu fallen.
Permanente Selbstkontrolle
Und so tut sich auch keine Nähe auf zu den Erzählerinnen in ihrer permanenten Selbst-Reflexion. Sie bleiben einem fremd. So, wie sie ganz augenscheinlich Fremde im eigenen Leben sind. Ihre wichtigste Frage – hier zitiert aus „Es sich einfach machen“: „Ich werde also nicht unangenehm auffallen?“ Eine Geschichte, in der die Erzählerin sich anfangs immerfort beobachtet fühlt. Ist das der Horror?
Oder ist das schon das anerzogene Beobachter-Ich, das einem dann ein Leben lang im Nacken sitzt, damit man nur ja all den Bildern der Erwartung genügt, die man verinnerlicht hat?
Und da sich das dan auch die anderen bezieht, entsteht eine seltsam distanzierte Welt, in der nichts einfach so ist. Sondern alles einem kritischen Blick unterliegt. Wie das passiert, schildert die Erzählein beispielsweise so: „Jobs sind eine interessante Angelegenheit. Meist fing das Gefühl, unmittelbar und lebensbedrohlich in Gefahr zu sein, in der Nacht vor dem ersten Arbeitstag an, die Arbeit selbst brachte ich dann hinter mich und die Tage, an denen ich nicht arbeitete, war ich viel damit beschäftigt, mir zu sagen, dass ich nicht mein Job sei. Ich war außerdem auch nicht
– Mein Äußeres
– Meine Emotionen
– Meine Gedanken
– Meine Vergangenheit
-Meine lowest points
-Die Person, die ich gestern war“
Am Ende der Geschichte weiß man noch immer nicht, wer sie eigentlich ist, egal, wie oft sie sich mit sich, den Gedanken an die Männer, auf die sie sich eingelassen hat, den Gedanken an die beste Freundin und die Nachbarin, die am Ende verschwindet, beschäftigt hat.
E sind distanzierte Geschichten, gerade weil man scheinbar bis in die inneren Gespräche der Protagonistinnen mitgenommen wird. Auch andeutungsweise in ihre tief sitzenden Ängste, die wie in „Nachts sind alle Katzen“ mit Erfahrungen aus der Jugendzeit zu tun haben. Da haben die einstigen Jugendfreunde sich eine Wohnung gekauft und sich – mit Schlossblick – eingerichtet in ihrem Leben.
Aber alles wirkt wie eine Kulisse aus dem Katalog, als wäre es nur hingestellt, um von der Leere abzulenken, die selbst in die Gespräche hineintröpfelt. Es ist eine Welt, in der hinter der Freundlichkeit auch die kleinen Drohungen lauern.
Nichts ist gut
Man erkennt die ganz ziemlich ausstaffierte Welt des ach so netten Bürgertums wieder, die wie ein UFO über der Realität schwebt. Motto: Alles ist gut. Und wenn etwas nicht gut ist, redet man nicht darüber. Sodass das Gefühl immer präsent bleibt, die so andauernd mit ihrer Selbstbetrachtung beschäftigten Gestalten wären tatsächlich nicht da, immer irgendwo anders, mit der Überprüfung ihres eigenen Seelenzustandes beschäftigt: „Sie spürte das lange Sitzen in den Knochen. Träge, aber überhaupt nicht müde – wach, aber nicht fokussiert, eher wie mit einem Mixer schlecht püriert“, beginnt so eine Szene in „Schlaglichter im Zenit“.
Als würde permanent der Radar die eigene Innenwelt und die Außenwelt abtasten: Wo lauert Gefahr? Gab es da Untertöne?
Fast wäre man geneigt zu sagen: Es sind kleine, böse Geschichten, die stets mit einem ein klein bisschen fatalen Ende ausgehen. Aber eigentlich sind es traurige Geschichten ohne Erlösung. So wie dann auch die letzte Kurzgeschichte „17 Uhr 17“ endet, als sich die Erzählerin noch in der Umarmung ihrer (sehr skeptisch betrachteten) Freundin beim Abschied fragt, „ob es möglich war, auf etwas zu warten, ohne zu warten.“
Denn das, was das Leben erst wirklich aufregend macht, dass Geschichten tatsächlich passieren, passiert nicht. Das Leben als ein Wartesaal. Als wenn das Eigentliche immer erst noch kommen muss. Gut möglich, dass es viele – nicht nur junge Menschen – so auch erleben. Den Kopf voller großer Erwartungen. Aber jeden Tag voller Angst, dass etwas passieren könnte. Eine beklemmende Vorstellung.
Aber wahrscheinlich für viele Menschen tatsächlich das Leben. Oder eben das Warten darauf.
Nina Heller „Nachts sind alle Katzen“, Gans Verlag, Berlin 2024, 24 Euro.
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