Schon 2021 verblüffte Rebecca Maria Salentin die Leserinnen und Leser mit dem Buch einer Wanderung, die es in sich hatte: 2.700 Kilometer war die Leipzigerin damals auf dem „Weg der Freundschaft“ von Eisenach bis nach Budapest gewandert. Und hatte da schon am eigenen Leib erfahren, dass solche ganz besonderen Wanderwege ihre Tücken haben. Doch tapfer hielt sie durch und nahm sich dann ausgerechnet 2022 einen noch viel härteren Weg vor: den „Iron Curtain Trail“ vom Schwarzen Meer bis zur Barentssee. Diesmal per Rad.
Auch wenn sich schon auf ihrem ersten Wegstück von Bratislava bis zum Schwarzen Meer herausstellt, dass etliche Wegstrecken überhaupt nicht für Fahrräder geeignet sind – auch wenn es im Reisehandbuch so ausgewiesen ist. Oder war. Denn nachdem Rebecca Maria Salentin ihr Buch veröffentlicht hat, dürften sich die Autoren der diversen Online- und Offline-Routenführer dransetzen und all die falschen Wegbeschreibungen korrigieren.
Wobei es nur zu verständlich ist, dass 32 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs (engl.: iron curtain) die ganze fast 10.000 Kilometer lange Strecke entlang der alten Trennlinie zwischen Ostblock und Westen noch nicht mit verlässlichen Radwegen ausgebaut ist. Es ist noch immer ein Projekt im Rohzustand – stellenweise bestens ausgebaut und einladend für alle Radfreunde, die die ehemalige Grenze einmal entlangradeln wollen.
Andernorts nur provisorisch auf vorhandene Straßen, Wald- und Wiesenwege oder gar die schrecklichen Kolonnenwege gelegt, auf denen vor dem Fall von Mauer und Stacheldraht die Grenzer unterwegs waren und aufpassten, dass ja kein Mensch den „Schutzwall“ zu überwinden versuchte.
Eine zutiefst europäische Geschichte
Etliche Erinnerungsstätten an dieser heute meist grünen Grenze erinnern nicht nur an das Grenzregime, sondern auch an die vielen Menschen, die hier beim Versuch, die Grenze zu überwinden, zu Tode kamen. Aber Rebecca Maria Salentin ging es auch diesmal eher nicht darum, einen schönen Reiseerlebnisbericht über diesen Radwanderweg zu schreiben, der in vielen Teilen eben leider ein Kletter-, Rumpel- und Verzweifelweg ist.
Eine echte Herausforderung für eine Autorin, die sich vor Herausforderungen natürlich auch fürchtet – wie den Bergen auf dem Balkan, die schon den ersten Abschnitt der Tour, den sie – entgegen der normalen Fahrrichtung – von West nach Ost befuhr, zu einer Tortur werden ließen.
Aber tatsächlich erzählt Rebecca Maria Salentin eine andere, zutiefst europäische Geschichte. Denn wer den einstigen Grenzstreifen befährt, erlebt nun einmal auch die Menschen rechts und links davon, die vierzig Jahre lang durch diese scharf bewachte Grenze getrennt waren. Und wer mit dem Fahrrad unterwegs ist, kommt gar nicht umhin, diese Menschen tatsächlich kennenzulernen. Mitsamt ihrer Freundlichkeit, ihrer Neugier und Hilfsbereitschaft.
Eigenschaften, die sie bei ihren Begegnungen in Rumänien, Griechenland und der Türkei genauso kennenlernte wie am anderen Ende der Tour in den baltischen Ländern, in Finnland, aber selbst in Russland, das zu dem Zeitpunkt, als die Radreisende in Kaliningrad ankam, schon seit Monaten im Krieg war.
Und gerade in Russland wird deutlich, dass man die Bewohner eines Landes nie mit ihren Machthabern in einen Topf schmeißen sollte. Auch dann nicht, wenn sie eingeschüchtert sind, über „die Situation“ nicht reden möchten oder gar den Propagandaparolen glauben. Es ist auch ein Abschnitt auf dieser langen Fahrt quer durch den Sommer 2022, auf dem der unerbittlich trennende Charakter von Grenzen wieder Gesicht annimmt. Während ein ganzes Dutzend Länder, die Rebecca Maria Salentin durchfährt, froh ist darüber, dass man links und rechts des einstigen Eisernen Vorhangs heute friedlich Rad fahren kann (wenn auch mit vielen Hindernissen und zermürbenden Wegpflastern), haben ein paar verbissene Machthaber ihre alte Lust an unüberwindbaren Grenzen nicht verloren, sperren die eigenen Leute ein oder andere Leute aus.
Die Spuren der eigenen Familiengeschichte
Aber die Reise dieser besonderen Radfahrerin ist eben dadurch, dass sie sich auf alle diese Länder rechts und links des Weges einließ, auch eine Bekanntschaft mit einem Europa, das man – wenn man daheim in Deutschland im Sessel sitzt – nicht wirklich kennt. Die Tour geht ja fast komplett durch das bis heute kaum wahrgenommene Osteuropa, mit seinen Kulturen, seiner Herzlichkeit, aber auch seiner Armut.
Denn Grenzregion zu sein, bedeutete auch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 fast immer, zur Armutsregion verdammt zu sein. Von den Entwicklungen abgeschnitten, infrastrukturell vernachlässigt.
Und viele dieser Regionen sind auch heute noch arm, teilweise regelrecht verlassen, weil die Bewohner zur Arbeit in den Westen und Norden Europas gegangen sind. Und das aus Landschaften, deren Faszination sich der einsamen Radfahrerin meist dann erst richtig erschloss, wenn nach regen- und windgeplagten Abschnitten die Sonne herauskam oder ein besonders harter Abschnitt überwunden wurde.
Wer so aufbricht und sich ganz allein so eine Strecke vornimmt, der will sich selbst begegnen. Oder – wie es Rebecca Maria Salentin tut – sich dabei auch intensiv mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigen. Denn die Strecke berührte einige der Orte, die sich mit den Leben insbesondere der Großeltern der Autorin verbanden. Die einen in die Mühlen der faschistischen Vernichtungsorgie geraten, der andere Großvater mit den Wehrmachteinheiten ausgerechnet überall dort unterwegs, wo die deutsche Wehrmacht damals über die Nachbarländer herfiel.
Wenn die Großeltern schweigen
Das Problem, das nicht nur Rebecca Maria Salentin hat: Diese Großelterngeneration schwieg zumeist. Die einen, weil sie unter dem Trauma von Verfolgung und Erniedrigung litten – und genauso unter der knappen Rettung. Und die anderen, weil sie mitgemacht hatten. In der Familienerinnerung haben nur knappe Daten und wenige Anekdoten überlebt. Aber was stimmt nun? Wo waren die Großeltern wirklich, als sich hier überall der Boden mit Blut tränkte? Was haben sie wirklich erlebt?
Denn dass auch die Enkelgeneration unter den unausgesprochenen und nie bewältigten Albträumen der Großeltern leidet, das war Rebecca Maria Salentin längst bewusst. Die schwierige und eher verstörende Begegnung mit ihrem leiblichen Vater kam noch hinzu. Noch so eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, eine Geschichte kaputter Beziehungen und alleinerziehender Mütter, die den Laden und die Familie zusammenhielten, wenn die Väter verschwanden.
Es sind tatsächlich die alten Archive, die der Autorin dann zumindest ein paar greifbare Daten und Fakten gaben, die ihr den Zugang zu ihrer Familiengeschichte etwas öffneten. Dass aber die eigentlichen Augenzeugen, die längst verstorbenen Großeltern, fehlen, wurde ihr auf dieser Tour nur zu bewusst. Wenn man die Betroffenen selbst nicht mehr fragen kann, muss man irgendwann akzeptieren, dass die Geschichte so war, wie sie war, die eigene Geburt ein Glücksfall.
Und die eigene Familie kann man sich sowieso nicht zusammenbasteln. Man muss sie nehmen, wie sie ist. Auch und gerade wenn die Verzweigungen der Ereignisse in blutige Landschaften führen, in denen das Leid heute nur noch zu entdecken ist, wenn man weiß, wo man danach such muss.
Und das größte Leid spricht sich in diesem Raum nun einmal durch Leere aus: die noch existierenden alten Judenfriedhöfe, die von einst blühenden Gemeinschaften erzählen, die damals, vor 80 Jahren, fast komplett ausgelöscht wurden.
Nur nicht aufgeben
Diese Beschäftigung mit ihrer eigenen Geschichte blendet Rebecca Maria Salentin immer wieder dazwischen, wenn sie auf ihrer Tour Orte passiert, die damit in gewisser Weise zu tun haben. Aber gibt das so einer Tour eigentlich einen Sinn? Oder steckt der Sinn in etwas ganz anderem, das auch damit zu tun hat, dass die einsame Radfahrerin selbst an den vielen Stellen, an denen andere fluchend aufgegeben hätten, weiterfährt?
Weil sie das so verinnerlicht hat, dass man sich im Leben nun einmal allein durchschlagen muss. Dass man sich freilich auch immer darauf verlassen kann, dass andere Menschen einem helfen, auch wenn sie den Kopf schütteln über diese Verrückte, die sich da auf einem Radweg schindet, der überhaupt nicht für Normalradler ausgelegt ist und selbst trainierte Mountainbiker an die Grenze ihrer Belastbarkeit bringt?
Und noch etwas schält sich heraus, das vielen Frauen nach dem Krieg die Kraft gegeben hat, durchzuhalten. Auch ohne Männer. Und von abwesenden Männern und Vätern ist ja in Salentins Geschichte genug die Rede. Und wenn die Männer einfach nicht da sind, weil sie sich in ihren eigenen Traumata (oder Feigheiten) verstecken, dann ist es Sache der Frauen, die Sache allein in die Hände zu nehmen.
Und den Töchtern dadurch – wie man sieht – einen gewaltigen Rucksack mitzugeben ins Leben, sich nämlich durch nichts entmutigen zu lassen und die Dinge trotzdem aus eigener Kraft zu einem guten Ende zu bringen.
Auch das ist ein Erbe, das man manchmal gar nicht ausschlagen kann, auch wenn man glaubt, dass sich solche Dinge eigentlich nicht vererben. Aber gerade an den Stellen, an denen die Radlerin flucht und schimpft über diesen Weg und das fürchterliche Wetter und eigentlich nur den nächsten Abzweig zum nächsten Bahnhof nehmen müsste, da bleibt sie trotzig und beißt sich durch, egal, wie weh das tut und wie zerschlagen sie dann nachts in ihr Zelt kriecht.
Die Geschichte der Frauen
Auf einmal hat man das Bild ganzer Generationen von Frauen vor sich, die genau so ihre Familien durch die härtesten Zeiten gebracht haben. Eiserne Frauen, wie man sie oft erlebte. Mit wenig Sentimentalität, denn dafür war meist keine Kraft mehr da, wenn sie auch mit doppelten Jobs und harter Hand die Familie über die Runden gebracht haben.
Frauen, wie es sie in ganz (Ost-)Europa gab und gibt. Immer noch, wenn man an all die Dörfer denkt, durch die Rebecca Maria Salentin gerade auf der Balkanstrecke kommt, aus denen auch die Frauen zum Arbeiten in die reichen Länder im Norden und Westen gegangen sind. Wo sie all die Tätigkeiten machen, für die es dort sonst keine Arbeitskräfte (mehr) gibt.
Es kommt einem alles nur zu vertraut vor. Und oft genug identifiziert man sich mit dieser Radfahrerin, die sich von unzumutbaren Streckenabschnitten einfach nicht von ihrem Ziel abbringen lassen will. Sie hat sich den ganzen „Iron Curtain Trail“ vorgenommen. Und den will sie auch schaffen. Da ist sie dann „Iron Woman“, auch wenn die Strecke richtig an die Substanz geht.
So gesehen wird das Ganze tatsächlich eine Reise durch die osteuropäische Geschichte. Aber eine sehr weibliche. Eine, die zeigt, warum dieses Europa nach der durch die Nazis ausgelösten Katastrophe nicht aufgegeben hat, sondern weitergemacht. Natürlich wegen der Frauen. Frauen, die ganze Familien geprägt haben, deren Erbe in ihren Töchtern lebt, die oft gar nicht wissen, woher das kommt. Warum sie sich so zuweilen unbegreifbar benehmen.
Als wäre man tatsächlich mit dabei
Am Ende der fast 10.000 Kilometer langen Tour, nach dem durchaus beängstigenden Stück Wegs durch das kriegführende Russland, nach endlosen Kilometern durch finnische Wälder, lässt es die Radlerin dann doch einmal zu, gönnt es sich, ein hartes Wegstück eben sich nicht unbedingt mit dem eh schon knirschenden Rad fahren zu müssen, sondern sich mitnehmen zu lassen. Und am Ende einen versöhnlichen Abschluss auf einer Radtour zu finden, die sich so kaum sonst jemand zugemutet hat. Als Frau war sie sowieso die Erste, die die ganze Route gefahren hat.
Und wer ihr Buch aufschlägt, fährt die Tour tatsächlich fast plastisch mit, hat quasi den ganzen „Iron Curtain Trail“ daheim bei sich im Sessel und darf sich nicht wundern, wenn ihm dabei heiß und kalt wird. Als wäre man tatsächlich dabei wie das geschundene Mini-Me am Lenker. Es ist ein Buch geworden, mit dem die stillen Tage zum Jahresende garantiert abenteuerlich werden. Und mit dem man im Grunde Streckenabschnitt für Streckenabschnitt froh ist, dass die eiserne Radlerin heil wieder nach Hause gekommen ist, um dieses Buch zu schreiben.
Ein Buch, das mehr über unsere ost- und mitteleuropäische Geschichte erzählt, als so mancher hochwissenschaftliche Wälzer.
Und gerade die tapferen Töchter strenger Mütter werden sich wiedererkennen. Und so manche Söhne wohl auch.
Rebecca Maria Salentin „Iron Woman“ Voland & Quist, Dresden und Berlin 2023, 22 Euro.
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