Simone Hieber lebt und arbeitet als Soziologin und Schreibende in Berlin und Leipzig, also selbst in geteilten Welten. In Zwischenrรคumen. Wie so viele Bewohnerinnen und Bewohner der Gegenwart, die das Gefรผhl nicht mehr loswerden, die wirkliche Welt nur noch als Beobachter zu erleben. Wie durch die Scheibe eines Zuges. Das Leben drauรŸen hat mit der eigenen Situation nichts zu tun. Und so lesen sich auch die Texte von Simone Hieber.

Die keine Erzรคhlungen sind. Irgendwie geraten ja selbst literarische Kategorien durcheinander, wenn die Dinge nicht mehr als Geschichte erzรคhlt werden kรถnnen, sondern sich zunehmend fragmentieren. Als bestรผnde unsere Wahrnehmung der Welt nur noch aus nachtrรคglichen Eintrรคgen in ein Tagebuch. Nur dass wir darin selbst nicht mehr vorkommen. Nur noch als anonyme Erzรคhler. Als wรคre selbst zwischen dem von uns Erlebten und uns selbst eine Glasscheibe. Als berรผhrte uns das alles nicht.

Womit Simone Hieber nicht die Erste ist, die so erzรคhlt. Distanziert. Selbst da, wo sie ihren auftretenden Personen Namen gibt, so unbeteiligt, als wรคren die Handelnden allesamt auswechselbar. Selbst in den beiden โ€žKyiver Reisetagebรผchernโ€œ 2017 und 2019-2022, von denen man ja eigentlich annehmen dรผrfte, dass die darin erzรคhlten Dinge tatsรคchlich geschehen sind. Aber auch hier steckt man im Kosmos einer Erzรคhlerin fest, fรผr die die Dinge nicht wesentlich werden, aufregend, anrรผhrend, wie auch immer. Denn eigentlich erzรคhlt man ja Geschichten, weil sie einen zutiefst aufgewรผhlt haben.

Doch in Hiebers Texten ist alles Distanz. Selbst die Begegnung zweier Menschen in Kyiw, die scheinbar etwas zutiefst verbindet. Und dann reisen sie doch davon โ€“ als wรคren wirkliche Begegnungen gar nicht mehr mรถglich.

Die Nicht-Betroffenen

Was durchaus eine wichtige Feststellung sein kรถnnte fรผr eine Zeit, in der gerade junge Menschen sehr misstrauisch geworden sind ihren eigenen Gefรผhlen gegenรผber. Emotionen sind gefรคhrlich, sich einzulassen auf andere Menschen ist es erst recht. Das Misstrauen, das den eigenen Gefรผhlen gilt, gilt ebenso den Gefรผhlen der Anderen.

Am nรคchsten kommt Simone Hieber diesem Miss-Verstehen in der Geschichte โ€žManjaโ€œ, in der Susanne die letzten Tage ihrer sterbenden Oma miterlebt und die Nรคhe nicht scheut und deshalb auch da ist, als die alte Frau tatsรคchlich Abschied nimmt. Anders als ihre Schwester und ihre Mutter, die sich damit herausreden, die Oma so nicht in Erinnerung behalten zu wollen. Und die nicht verstehen, warum Susanne dann nicht zur Beerdigung kommt.

Es ist eigentlich die zentrale Geschichte in diesem Bรคndchen, das eher skizzenhaft wirkt, tagebuchartig notiert, weil sich scheinbar selbst das Berichtenswerte nicht zur Geschiche verdichtet. Als wรคren Begegnungen zu kompliziert, zu aufregend. Als sรครŸe in all den erzรคhlten Personen die blanke Scheu, ihr rationales, alle bewertendes Betrachten der AuรŸenwelt in Nรคhe und Betroffensein abkippen zu lassen.

Wir sind auรŸer uns. Weil wir nicht mehr bei uns sind. So wie in der Skizze โ€žGesellschaftโ€œ, in der das Betrachten der Anderen geradezu auf die Spitze getrieben wird. Eben so, als wรคre die Erzรคhlerin gar nicht in dieser Welt, sondern betrachtete alles wie durch ein Mikroskop. Womit sich die These am Ende selbst bestรคtigt. Denn wer die gespaltene Gesellschaft sucht, sieht sie auch. Natรผrlich in den Anderen. โ€žAusgeschlossensein, Misstrauen, Abhรคngigkeit und Enttรคuschung als die notwendigen, aber nicht hinreichenden Begleiter einer gespaltenen Gesellschaft?โ€œ

Lauter Abgrรผnde

Da kann man grรผbeln. Und schauen. Was am Ende dominiert, ist das Gefรผhl der Abwesenheit. Was durchaus ein reales sein kann. Denn wenn eine Gesellschaft so sehr die Vermarktung (und Ausbeutung) des Individuums in den Mittelpunkt stellt, vereinsamen die Menschen. Ganz zwangslรคufig. Dann wird alles bewertet, werden selbst Beziehungen รถkonomisiert. Ist nichts mehr selbstverstรคndlich. Schon gar nicht Beziehungen zu anderen Menschen. Denn sachte wird sichtbar: Wer in einer solchen Welt, in der jede menschliche ร„uรŸerung permanent bewertet wird, die dadurch entstehende Abgrรผnde รผberwinden will, sieht nur noch die Schwierigkeiten. Jede menschliche Regung wird zu einem Akt voller Fragezeichen.

Verstรคndlich, dass da selbst Freundinnen auf Distanz bleiben, zwar gemeinsam das Wagnis eingehen, mit all ihrer Habe in die Tรผrkei umzuziehen, am Ende in ein geradezu verstรถrend unfertiges Touristendorf. Ein regelrechter Unort, an dem sie am Ende beschlieรŸen zu bleiben, obwohl man nicht erfรคhrt, was sie daran reizt. Oder was ihre Beziehung eigentlich wรคrmt.

Sind also auch Lebensentscheidungen einfach gleichgรผltig? Oder passieren sie uns, weil wir uns nicht mehr wirklich entscheiden wollen, einlassen wollen auf das, was uns passiert?

So bekommt man eine Ahnung davon, dass die Teilung der Welt eigentlich durch uns selbst stattfindet. Als blickten wir durch verschlossene Fenster auf die Welt. Und wรผssten gar nicht, wie wir uns darauf einlassen sollten. Oder kรถnnten. Ungefรคhr so, wie es viele in der Corona-Zeit erlebt haben, als Abstandhalten und Selbstisolierung das Gebot der Stunde waren. Und einige Texte sind unter diesen Corona-Erlebnissen entstanden.

Vermiedene Begegnungen

Wir kรถnnen zwar so isoliert voneinander nicht leben. Das macht uns krank. Und gleichzeitig haben gerade diese eigenartigen Zeiten des VerschlieรŸens Vielen erst recht vor Augen gefรผhrt, dass sie die Welt um sich herum auch vorher schon mit diesem leisen und allgegenwรคrtigen Misstrauen betrachtet haben. Als wenn von den Menschen ringsum immer nur eine Gefahr ausginge, manchmal benennbar, manchmal lieber verdrรคngt. Als fehlten uns fรผr Nรคhe und Weltvertrauen inzwischen sรคmtliche Worte. Als schauten wir dem Leben da drauรŸen nur zu.

So wie die Kreativsucherin in der ersten Geschichte, die dadurch, dass sie Duplikate fรผr die Dinge aufstรถbert, die die Menschen auf Aushรคngen als verloren bekannt geben, eine Art Erfรผllung findet. โ€žJemand sagte, ich tรคte das nur, weil ich einsam sei.โ€œ Am Ende aber ist es dennoch eine Geschichte der Nicht-Begegnung. Denn die Dinge haben ganz offensichtlich mehr Realitรคt als die Menschen: โ€žDoch nur das Ding wird unverwechselbar sein, wir sind es nach all den Jahren nicht.โ€œ

Dabei entstehen menschliche Begegnungen gerade, weil alle Menschen einzigartig sind. Nur so werden wir erkennbar. Was nicht heiรŸt, dass es nicht trotzdem grรผndlich in die Hose geht wie in โ€žDie Wohnwagenverkรคuferinโ€œ. Da erkennen zwei sich โ€“ vielleicht โ€“ wieder, aber es spielt keine Rolle. Sie kรถnnen die Distanz nicht รผberwinden, wรคhrend der Wohnwagenkauf letztlich daran scheitert, dass das Innenleben des Wohnwagens eine ganze bittere Familiengeschichte wieder wachruft. Auch das eine Geschichte von Entfremdung und Einsamsein, von Grenzen und Teilungen, die Menschen gezogen haben, die lieber einander aus ihrem Leben aussperren, als die Verunsicherungen zuzulassen, die Nรคhe immer mit sich bringt.

Als wรผrden wir es einfach nicht mehr aushalten, dass wir einander unperfekt und verstรถrend sein kรถnnen. Aber allein die Wohnwagengeschichte erzรคhlt etwas anderes, einfach durch ihre ganze ortlose Trostlosigkeit: Wir werden selbst ortlos, wenn wir uns nicht mehr einlassen aufeinander. Beziehungslos sowieso, wie Franz, der aus seiner traurigen Beobachterrolle einfach nicht herauskommt, obwohl er derjenige ist, der eigentlich ein Obdach braucht, und sei es eins auf vier Rรคdern: โ€žDas ist eben auch nicht deren Bier. Was wessen Biere รผberhaupt seien, fragt sich Franz und zieht seinen Kopf zwischen die Schulterblรคtter.โ€œ

So, wie es viele Franze immer wieder tun. Man sieht sie รผberall stehen โ€“ an der Supermarktkasse, auf Bรผrger- und Bahnsteigen, immerfort in ihr Grรผbeln vertieft und die Kรถpfe zwischen die Schulterblรคtter gezogen. Als wรคren sie gar nicht da.

Simone Hieber โ€žGeteilte Weltโ€œ, Thelem Universitรคtsverlag, Mรผnchen und Dresden 2023, 17,80 Euro

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