Ist Sachsen ein Land voller Geister und Gespenster? Gespenstisch ist es schon, nicht nur für den Leipziger Dichter John Sauter, der sich als Rapper Johnny Katharsis einen Namen gemacht hat. Daran erinnert schon das Gedicht, das der Verlag ganz bewusst auf den Umschlag von Sauters zweitem Gedichtband gesetzt hat: „Leipziger Tausend“. Denn an diesem Junitag 2023 haben über 1.000 vor allem junge Leipziger erlebt, wie schnell man in einem elfstündigen Polizeikessel landet.

Von einem „engen Land“ dichtet Sauter immer wieder. Dazu hat er mehr als genug Erfahrungen gesammelt. Denn immer wieder wurde er in seinem Leben Zielscheibe von Übergriffen von Leuten in Bomberjacke und in Springerstiefeln. Er hat gelernt, diese Verachtung zu erkennen, die ohne Vorwarnung in Gewalt umschlagen kann. Und das in einem Land, das sich eigentlich demokratisch nennt. Aber seine Mitbürger im Stich lässt, wenn es um die grassierende Homophobie geht, die Entstehung menschenverachtender Milieus.

Mittendrin: ein Onkel, der den in Freiberg aufgewachsenen Neffen mit ins Bierzelt beim Dorffest schleppt. Sind doch alles nur brave Jungs, Rocker vielleicht, mehr auch nicht. Doch dieser Onkel ist ganz offensichtlich blind für das, was sich da in den vergangenen Jahren verändert hat in sächsischen Provinzen und an den Peripherien der Großstädte. Ignoriert, kleingeredet von einer Politik, die sich seit 33 Jahren immer da weggeduckt hat, wo es wirklich um Aggression und Gewalt geht.

Und die sich alle Mühe gibt, selbst friedliche Proteste zu kriminalisieren.

Zonen der Angst

Es ist einfach nur noch peinlich, wenn heute in professoralen Runden darüber orakelt wird, warum die ostdeutsche Provinz derart abkippen konnte. So voller Wut und Verachtung ist, die sich nicht gegen die Stärkeren entlädt, sondern immer wieder nur gegen die Schwächeren und Außenseiter. Alles hat seine Anfänge. Und meistens beginnt es – wie bekannt – mit Schweigen, Wegsehen, Wegducken, feige den Kopf einziehen. Und mit einer verlogenen Kommunikation.

Denn wenn diejenigen, die zum Regieren gewählt sind, schweigen und drucksen und um den heißen Brei herumreden – was sie bis heute tun –, dann fühlen sich die Gewaltbereiten ermutigt. Dann nehmen sie sich den Raum und schaffen Zonen, in denen die Angst regiert. Eine Angst, von der John Sauter immer wieder zu erzählen weiß. Seine Gedichte sind wie Tagebucheinträge, Blitzlichter in den sächsischen Alltag, der sich aus der Sicht von Menschen, die ihre Erfahrungen mit den Gewaltbereiten gemacht haben, anders anfühlt als für jene, die glauben, mit ihrer Hautfarbe wären sie geschützt.

Sind ja erst einmal nur die Leute in Gefahr, die als fremd markiert werden. Auch wenn sie mitten in diesem schizophrenen Sachsen geboren wurden.

Wie sich da einschleicht in die Köpfe, erzählt Sauter zum Beispiel im Gedicht „Eltern“: „Auf dem Zentralfriedhof / Erzähle ich dir von meinen Eltern / Die jetzt rechts wählen wollen / Ich sage, wie absurd das ist / Und du, dass deine Mutter / Sich neulich aufgeregt hat, weil / Es in ihrer Serie plötzlich einen / Schwarzen Kommissar gab …“

Die Menschen verlieren sich, wie es aussieht, in immer falscheren Vorstellungen von der Wirklichkeit, lassen sich von den Parolen rechter Parteien dumm machen und halten an einem Bild von Sachsen fest, das schon lange nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun hat. Aggression als Ausdruck von Realitätsverweigerung. Wollen wir nicht. Muss weg. Und da stehen dann selbst die alten Narren an der Ampel und brüllen den in Freiberg Geborene an, wie er sich ihrer Meinung nach in diesem Land z verhalten habe.

Alte Zeichen für neue Pogrome

In gewisser Weise ist „Geister“ ein rückwärts zu lesendes Tagebuch, das etwa dort weiterschreibt, wo John Sauter 2021 seinen Gedichtband „Zone“ beendet hat. Mitsamt den zwei Corona-Jahren, die die menschlichen Begegnungen sowieso schon auf ein Minimum schrumpften. Noch mehr Einsamkeiten, in denen die Leute ihren Gewaltphantasien frönen konnten.

Ist wenigstens Leipzig anders? Wohl nicht unbedingt. Auch hier gibt es die Peripherien, die Räume am Rand, wo Leute in Lederjacken und mit kahlgeschorenen Köpfen glauben, ihre Gesetze machen zu können. Und anderen Angst machen zu dürfen. Denn sie dürfen das.

Die Justiz gibt sich watteweich, wenn sie mal vor dem Richter erscheinen müssen. Ruckzuck sind sie wieder da, haben nichts vergessen und machen weiter wie vorher: „Im Stadion krempeln sie die Bomberjacken auf Orange, auf Warnung / Üben alte Zeichen für neue Pogrome / Einer, der früher dabei war, steht mitten unter ihnen, dort im Ultrablock …“

Natürlich geht es nicht nur um die Grölenden unten auf der Straße. Das würden sie wohl wollen, dass einer sich ständig als gejagtes Wild sieht, flieht und zittert vor Angst.

Aber die Welt von John Sauter ist größer. Es gibt viel Liebe darin, Begegnungen in Bars, auf Wiesen, am Waldrand. Denn jenseits der Angst beginnen die eigentliche Gedichte, monderfüllt, voller Schatten und geisterhafter Tiere. Das, was den fantasievolleren Menschen noch als Traum begegnet. Als Begegnung von Wirklichkeit und Traumwelt.

Eine Welt, die sich manchmal hineinmischt in die scheinbar leere Gegenwart, wo auf einmal selbst verlassene Häuser, Flure, Straßenbahnen auf ihrem Weg durch die Nacht Bedeutung annehmen, etwas zu erzählen scheinen, was über diesen flackernden Moment hinausweist. Vielleicht ins Reich unserer Ahnungen.

Wem gehört eigentlich die Stadt?

Sauter hat diesen Blick fürs Traumhafte, nicht Alltägliche, die seltsame Situation, die auch davon erzählt, wie verloren sich Menschen fühlen in einer für sie unübersichtlich gewordenen Welt. So wie für den alten Mann an der Haltestelle, „mit alten Händern / Hält er sein Ticket hoch / Zitternd seit Wochen schon / Gilt es / Für keine der Fahrten“. Ein Moment, der ahnen lässt: Das könnte der Grund für so vieles sein, was hier passiert. Doch kaum einer redet über sein Verlorensein, sein Gefühl, dass die Dinge mit ihm nichts mehr zu tun haben. Oder dass er nicht mehr mitkommt.

Denn natürlich werden die Dinge unsicherer, zerbrechlicher, wenn die Schwachen nicht mehr geschützt werden, weil die Regierenden drucksen und lieber Kinder elf Stunden im Kessel halten. Macht kann so schäbig aussehen, wenn sie durch Gleichgültigkeit glänzt. Und die nicht schützt, die Schutz brauchen. Vielleicht ist das so, weil auch die Seele dieser Gesellschaft so denkt über Menschen.

Auf Wettbewerb getrimmt. Aber keinen fairen, sondern einen, in dem nur Geld und Gewalt zählen. „Wenn die Stadt fertig ist, wird kein Platz mehr für uns sein“, benennt Sauter ein Problem, das immer mehr Menschen haben, die sich sowieso schon immer mehr an den Rand gedrängt fühlen, weil sie sich für ihre kargen Einkünfte das Wesentliche nicht mehr leisten können.

Das Ergebnis ist aber keine lebendige, lebenswerte Stadt mehr, sondern eine verlassene Stadt der Gespenster: „Zeit dehnt sich im Delirium langsam zu Kugeln / Ein Mondkalb wird geopfert, in der Tiefe kleine Schreie / Wurzeln greifen durch die Felsen, bilden morsche Leitern“.

So entsteht – mitten im scheinbar effizienten Vermarkten der Welt – schon das Kaputte, Unhaltbare. In dem die Menschen kein Gefühl des Heimischseins mehr haben. Auch das gehört dazu. Geld hat keine Wärme und keine Rücksicht. Es zerreißt alle Zusammenhänge. Und die einen brüllen, schlagen Schaufenster ein, verbreiten Angst und Schrecken, damit sie wieder fühlen, dass sie irgendjemand wahrnimmt. Und die anderen bereiten sich auf die Flucht vor.

Alles, was man braucht, passt in einen Rucksack. Nur Aufkleber am Pfahl erinnern noch an diejenige, mit der der Dichter einst hier stand und auf die Straßenbahn wartete. Die Fahrer in ihren Kabinen führen Selbstgespräche.

Denn das Gefühl zu wissen, wohin man gehört, bekommt man nur mit Menschen, die einen berühren. „Die einzige Wärme / Wirklich nur deine Hand / Die dich verriet / In den vielen Nächten / In denen ich nicht wusste, wohin ich gehöre …“

Selbstbehauptung

Aber welches Geborgensein geben Menschen, die selbst nicht (mehr) geborgen sind? Eigentlich ein Motiv, das sich durch die meisten von Sauters Gedichten zieht, der sich nicht verschrecken lässt, nicht kleinmachen. Hier behauptet sich einer, weil er die Abwertung und Ausgrenzung durch die Schlägertypen nicht akzeptiert. Und das Schweigen der Menschen hinter ihren Gardinen nicht goutiert. Leute, die in der Corona-Zeit so gern zum Klatschen auf ihre Balkone traten.

Seine Gedichte hat Sauter in Zyklen gepackt, mit so sprechenden Titeln wie „Mondtiere“, „Gesänge der Fische“, „Gegend“. Titel, die das Traumhafte in den Texte anklingen lassen, das auch immer wieder ans Albtraumhafte grenzt. Auch beim Erkunden der „Gegend“. Oder besser: dem simplen Gewahrwerden von Gegend. Die schon durch die Bezeichnung zur Fremde wird, in der man irgendwie ausharrt. „In letzter Zeit habe ich viel gewartet / Regenschmiere, Neonlichtscheibe / Gäste, Bedienung an Nebentischen …“

Bilder, wie man sie zuhauf findet in einer Stadt, in der die Begegnungen immer schwerer werden. Und das Warten zum Dasein gehört: „… und jetzt / Warte ich / Einfach nur noch.“

Auf wen, verrät er nicht. Auch wenn in vielen Gedichten weibliche Gestalten durch die Verse schimmern, Abwesende. Auch das eine fühlbare Ortlosigkeit.

Jede Nähe wird zur Hoffnung, dass daraus etwas Belastbares werden könnte in einem engen Land: „Sag kein Wort, sag lieber Geistersprüche / die uns schützen …“ Denn in diesem engen Land ist nicht nur der Einzelne bedroht. Sondern auch alles Verbindende, das, was einer Gesellschaft Halt und Kitt gibt. Denn die Enge der kleinen Geister frisst auch die Freiheit. Alles, was Menschen wirklich das Gefühl gibt, frei zu sein: „… Ich möchte dich schmecken / Nichts was sonst / Im engen Land / Mich frei sein lässt.“

Für jedes Jahr 365 Seiten

Im Grunde komponiert Sauter dieses Motiv Zyklus für Zyklus durch. Erspürend, wie gerade dieses Gefühl ganzen Vertrauens und ganzer Hingabe das erst ergibt, was die Meisten so sehr vermissen: Freiheit. Wozu man vielleicht ein poetisches Gewissen haben muss, und keines aus Beton oder Leder. Denn um frei zu sein, müssen wir bei uns selbst ankommen. Und sei es nach endlosen Fahrten durch neonerleuchtete Nächte.

Denen Sauters Gedichte natürlich ähneln, erst recht, wenn er die Gegend seiner Herkunft besucht und die Großstadtgedichte folgen. Völlig verschiedene Welten – und beide trotzdem mit Szenerien, in denen das Verlassensein spukt. Oder das Klirren der Glasscheiben unten auf der Straße. Zuweilen mit der hoffnungsvollen Vermutung, dass es vielleicht auch nur Geister sind. Aber es sind keine.

„Ich könnte mit meinen rassistischen / Erfahrungen kein Buch füllen / Sondern mehrere / Neulich hörte ich, Johnny, naja / Vielleicht ziehst du gewisse Sachen ja auch an / Durch deine Art …“ Dieser Dichter kennt die Geister sehr wohl, die in diesem unserem Heimatlande herumspuken.

„Ich könnte kein Buch füllen, nein / Sondern mehrere / Für jedes Jahr 365 Seiten / Mal 40.“ So könnte sein Gedicht „Geister“ enden. Aber so klein lässt er sich nicht machen, denn er weiß, warum sie sich so fixieren auf die scheinbar Schwächeren. Und sagt deshalb nur: „Ihr Opfer“.

Und auf einmal hat man so einen Haken, an dem man anfangen kann nachzudenken. Denn die Enge dieses Landes hat mit Schwäche zu tun. Mit Feigheit und Selbstbetrug. Den Geistern eben, die niemand rief. Und die sich doch gefällig in Sesseln fläzen und Parteitagsreden schwingen. Selbstgefällig bis zum Abwinken. Geisterfahrer in einer Welt der falschen Geister.

Ein ans Elementare gehender Gedichtband, halb Tagebuch, halb Epos einer Welt, die ihre eigene Verlassenheit nicht zugeben mag, selbst dann nicht, wenn der Wind durch leere Landschaften streicht und geisterhafte Fahrer ihre Busse durch die Einöden lenken, pünktlich nach Fahrplan. In ruckende Bewegungen, in Selbstgespräche vertieft, damit sie nicht einschlafen am Steuer.

John Sauter„Geister“, edition AZUR, Dresden und Berlin 2023, 20 Euro.

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