Wie sind wir eigentlich dahin gekommen, wo wir heute sind? Warum bekommen wir unsere Probleme nicht gelöst? Was hindert uns daran, unser Verhalten zu ändern? All diese Fragen schwingen mit, wenn sich Siegfried Akkermann in diesem Buch auf die große Reise durch die Geschichte der Menschheit begibt. Er ist Mediziner, war Präsident des DRK der DDR. Aber selbst mit über 80 Jahren treibt ihn die Frage um: Was soll aus dieser Menschheit noch werden?

So ein ernsthaftes Nachfragen ist auch bei unseren heutigen Senioren eher die Ausnahme. Aber unter ihnen sind natürlich auch die Leute selten, die ihr Buchregal mit den einschlägigen Veröffentlichungen der Archäologie gefüllt haben. Bücher, aus denen Akkermann emsig zitiert. Denn natürlich ist es die Archäologie, die in den letzten Jahrzehnten ein immer konturenreicheres Bild von der Entwicklung dieses Wesens zeichnen konnte, das Akkermann immer wieder als Dignitatis bezeichnet: den Würdigen.

Denn um Würde geht es. Auch wenn Akkermann den Fokus auf die sichtbaren Grenzen und Konflikte in der Menschheitsgeschichte legt, die nicht erst mit Ackerbau, Sesshaftigkeit, Staatenbildung und kriegerischen Konflikten begannen. Auch die lange Entwicklung vom Homo habilis bis zum Homo sapiens war voller Gefahren und Flaschenhälse, die das Überleben der Spezies immer wieder gefährdeten.

Was auf den schönen Schaubildern der Archäologen so aussieht wie eine lineare Aufwärtsentwicklung, war in Wirklichkeit eine Reise durch rund 3 Millionen gefährliche Jahre, in denen etliche Vettern und Verwandte des werdenden Menschen auch ausstarben, in Sackgassen landeten oder Opfer von Katastrophen wurden.

Unser ganzes Bild von der Menschwerdung kann immer nur so vollständig sein, wie es die Fundlage hergibt. Genauso wie unsere Vorstellungen davon, welche neuen Eigenschaften dieser werdende Mensch zu welchem Zeitpunkt ausbildete und was die möglichen Ursachen davon waren. Eine Frage, mit der sich ja auch Werner Bätzing in seinem Buch „Homo destructor“ beschäftigte.

Leben in einer krisenreichen Welt

Wobei Akkermann den Blick eher auf die Probleme der sich entwickelnden Menschengruppen richtet, die durch Phänomene entstanden, die uns auch heute wieder beschäftigen: klimatische Veränderungen, die die Lebensbedingungen radikal veränderten, Übernutzung natürlicher Ressourcen, Überbevölkerung und Produktionskrisen.

Wenn man die Menschheitsgeschichte so betrachtet, sieht man auf einmal ein Lebewesen, das im Lauf seiner Entwicklung immer wieder mit Problemen und Herausforderungen konfrontiert war, bei denen die – ja noch immer vorhandenen – tierischen Instinkte überhaupt nicht halfen. Für die es aber auch keine Blaupause gab. Die betroffenen Menschen waren immer wieder gezwungen, für die akuten Krisen Lösungen zu finden, die ein Überleben irgendwie möglich machten.

Was nicht heißt, dass sie es immer geschafft haben. Wir sehen heute nur die Spur, welche die Menschen zeichneten, die die vielen Krisen überlebt haben. Krisen, die sie oft selbst erst ausgelöst haben, wenn man an die vielen Seuchen und Krankheiten denkt, die erst mit der Sesshaftigkeit und dem engen Zusammenleben mit domestizierten Tieren über die Menschen kamen.

Ein höchst aktuelles Thema, das uns mit dem Corona-Virus wieder begegnete. Und das gleichzeitig daran erinnerte, dass auch Masern, Pocken und Pest erst zu Plagen des Menschen wurden, seit er mit Tieren in engster Nähe lebte und wirtschaftete.

Aber in all diesen Krisen zeichnete sich schon früh etwas ab, was den Menschen radikal auch von seinen nächsten Verwandten, den Menschenaffen, unterscheidet: Er entwickelte eine soziale Kultur, in der er nicht nur Wissen anreicherte und weitergab, sondern auch Fantasie entwickelte und lernte, dass Probleme gemeinsam gelöst werden können. Das, was heute so gern Schwarmintelligenz genannt und oft völlig falsch verstanden wird. Der (Menschen-)Schwarm ist niemals intelligent. Er braucht Organisation und Kompetenz.

Meistens gut

Und – was erst recht vergessen wird, seit digitales Geschwätz als „Social Media“ bezeichnet wird – es braucht Gemeinschaftssinn. Wozu Moral und ein Verständnis von Richtig und Falsch genauso gehören wie ein Verständnis von Gut und Böse. Worauf Akkermann schon früh in seinem Buch im Kapitel „Gut und Böse“ eingeht. So weit wie Rutger Bregman, zu sagen, der Mensch sei im Grunde gut, geht er nicht. Wobei der deutsche Buchtitel auch wieder zuspitzt.

Im Niederländischen heißt dessen folgenreiches Buch von 2019 „De meeste mensen deugen“, also „Die meisten Menschen sind gut“.

Und so sieht es auch Akkermann, der im Grunde mit einemn großen Verständnis auf all die Probleme und Irrwege der Menschen sieht, die auch in der frühen Zivilisationsetappe nach der letzten Eiszeit und vor Beginn unserer Zeitrechnung sichtbar werden – mit abbrechenden Siedlungserfolgen, verschwindenden Reichen, erlöschenden Kulturen. So, wie es Harald Meller und Kai Michel in ihrem Buch „Die Himmelsscheibe von Nebra“ für das vor 4.000 Jahren in Mitteldeutschland existierende Fürstentum sichtbar gemacht haben.

Die Menschheitsgeschichte ist voller „verschwundener“ Völker – von den Illyrern bis zu den Kelten, mit denen sich Akkermann auch beschäftigt. Völker, die ihre Hochzeit hatten und ihre Spuren auch in den Schriften der frühen schriftkundigen Völker hinterließen. Und dann verschwanden sie wieder, gingen ihre Hochkulturen verloren.

Europas bewegte Geschichte

Und einer der Gründe, der sich schon früh abbildet in der Geschichte der Staatenbildung, waren die zunehmenden sozialen Unterschiede und die Konflikte innerhalb der Menschengemeinschaften und zwischen ihnen. Und als Hintergrund immer wieder: ökologische Probleme, versiegende Ressourcen oder – wie zur Zeit der Seevölker, als rund ums Mittelmeer die blühenden bronzezeitliche Kulturen zusammenbrachen – durch Naturkatastrophen ausgelöste Völkerwanderungen.

Wenn man diese Phänomene mitdenkt, kommt eine Menge Bewegung in die Geschichte, merkt man, dass die Menschen auch lernen mussten, mit anderen Kulturen und ihrer Konkurrenz umzugehen. Etwas, was gerade den Kontinent Europa massiv geprägt und verändert hat, was bis heute im Genom der heutigen Europäer nachweisbar ist.

Man merkt schon, wie Akkermann alles verschlungen hat, was er an entsprechenden Büchern in die Hände bekommen konnte. Immer wieder neugierig, wie neue Forschungsbefunde in sein Bild von der Menschwerdung passen würden.

Im letzten Teil des Buches, in dem er auf die Gegenwart zu sprechen kommt, versucht er daraus dann eben auch Lösungen herauszuarbeiten, wie wir nun mit unseren heutigen multiplen Krisen zurande kommen, die uns – als Menschheit – wieder einmal vor Probleme stellen, für die es einfach keine Blaupause zur Lösung gibt. Und eins ist ziemlich deutlich: Mit Gewalt lässt sich keine einzige dieser Krisen lösen, mit Krieg schon mal gar nicht. Und mit einem weiteren Verharren auf der propagierten Wachstums-Ideologie ebenfalls nicht.

Das riskante Weiter-so

„In jedem Fall dürfte das Fortbestehen der Dominanz von globalen ‚Selbstlauf-Ideologien‘ zunehmend riskant werden“, schreibt Akkermann konsequent in Versalien, die wir hier der Lesbarkeit wegen lieber weglassen. „Jeder radikale Paradigmenwechsel entlässt seine Gesellschaft in psychologisch-soziologisches Neuland!“

Eben das, was Akkermann im Lauf der Geschichte immer wieder gesehen hat. Und die Gesellschaften, die den neuen Problemen mit den alten Rezepten versuchten zu begegnen, gingen in der Regel unter. Während den neuen Platz dann jene Gesellschaften einnahmen, die neue Lösungen für sich fanden oder – wie die indogermanischen Steppenvölker – mit neuen Kulturtechniken auftauchten und damit die Ackerbauergesellschaften Europas völlig veränderten.

Aber weiter mit Akkermann: „Durch Fantasie und Schöpferdrang hat der Mensch inzwischen solche Machtmittel erlangt, deren Missbrauch seinen Untergang zur Folge haben könnte.“

Insbesondere geht er dabei auf die Atomwaffen ein, die auch heute noch die Menschheit bedrohen.

„Dieses jetzt erlangte Entwicklungsstadium macht erforderlich, dass es dem Menschen gelingen muss, seinen inneren Wesenskern grundlegend zu verändern. Der Mensch muss es lernen, auf absolute Machtentfaltung zu verzichten, desgleichen auf die bisherige Rücksichtslosigkeit gegenüber Umwelt und Natur“, schreibt Akkermann.

Denn viele Lösungen für Probleme der Vergangenheit waren nun einmal Lösungen auf Kosten von Natur und Umwelt. Und spätestens seit dem 1972 veröffentlichen Bericht des Club of Rome „Grenzen des Wachstums“ wissen wir alle, dass das grenzenlose Verbrauchen der Ressourcen, die uns auf der Erde zur Verfügung stehen, auch unsere Lebensgrundlagen zerstört.

Und zwar völlig gleichgültig, ob einige Vorhersagen aus dem Bericht inzwischen korrigiert werden mussten oder in einigen Bereichen das Gefühl um sich greifen durfte, dass wir ja doch wieder ein paar Lösungen gefunden haben, um noch länger so weiter machen zu können. An den Grundaussagen des Berichts ändert das nichts.

Das falsche Denken der Superreichen

Aber Akkermann hat sich auch intensiv mit der Frage beschäftigt, warum wir in den vergangenen 50 Jahren die Kurve nicht gekriegt haben. Was hat uns daran gehindert, auf ein umweltschonendes Wirtschaften umzuschalten? Logisch, dass er sich in diesem Kapitel dann recht ausführlich mit der entfesselten und deregulierten Finanzwirtschaft beschäftigt, die die Menschheit mittlerweile schon in einige tiefe Krisen gestürzt hat.

Und statt das wilde Geldmachen aus Geld endlich zu begrenzen und die Finanzwirtschaft wieder zu zähmen, wurden in der letzten Finanzkrise Banken mit Milliardensummen „gerettet“. Stets unter dem Label „to big to fail“. Eine Behauptung, die direkt aus den mit Milliarden aufmunitionierten Lobby- und Marketingabteilungen der riesigen Finanz-Konzerne stammt, die längst mehr Einfluss auf die Politik der Regierungen haben als alle Parlamente.

Das Geld beherrscht die Politik. Und damit kommt einer winzigen Gruppe von Milliardären eine politische Gestaltungsmacht zu, die man im täglichen Politikgeschehen kaum wahrnimmt – und die dennoch für den Großteil falscher Weichenstellungen verantwortlich sind. Nicht nur im Finanzsektor, sondern auch im Energiesektor, im Gesundheitssektor, im Bildungssektor usw. Überall geht es nur um maximale Profite, wachsende Renditen und Steuervermeidung.

Und da schält sich für Akkermann eben auch das Denken und die Weltsicht der winzigen Gruppe von Milliardären heraus, die diese Trusts und Konzerne lenken und die mit dem Leben normaler Menschen schon lange nichts mehr zu tun haben. Er kann mehrere Studien dazu zitieren, die sich mit dem Leben dieser Multimilliardäre beschäftigen.

Und Sorge um die Natur, die Lebensgrundlagen oder das Überleben der Menschheit gehört ganz offensichtlich nicht zum emotionalen Repertoire dieser abgehobenen Gruppe, die sich ihre eigenen Welten geschaffen hat und nur noch die Vermehrung ihres Reichtums als Lebenszweck verfolgt.

Macht und ein selbstbestimmtes Leben

Es klingt zumindest an, auch wenn es Akkermann nicht ausführlich erörtert: Solange man diesen Menschen und ihren oft kriminellen Tricks, ihren Reichtum auf Kosten der Länder weltweit zu erhöhen, nicht die Macht nimmt und ihr Handeln unterbindet, wird es einfach so weitergehen.

Und wir werden das, was jetzt nötig wäre, nicht schaffen. Nämlich auf gewalttätige Lösungen für unsere Probleme zu verzichten. Oder mit Akkermann gesprochen: unsere „Selbstvernichtungsimpulse unter einer zuverlässigen Kontrolle zu halten“. Denn Dank „Sonne und Licht“ steht uns allen genug Energie zur Verfügung, damit alle Menschen „ein tatsächlich selbstbestimmtes Leben führen können“.

Denn dass die Menschen auch in den wohlhabenden Ländern rebellieren, hat nun einmal auch mit dem Gefühl zu tun, fremdbestimmt zu sein und kein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Und auch keine Macht über die Zukunft zu haben. Was – Akkermann erwähnt es nicht extra – ja eben leider auch unsere Kultur anfüllt mit lauter (künstlichen) Gewaltfantasien.

Da tobt sich aus, was in den Köpfen der Menschen sowieso schon brodelt. Denn Ohnmacht mündet auch bei sonst braven Männern nun einmal meist in Aggression und Gewaltideen.

Eine Frage des Überlebens

Akkerman sieht die Lösung in einer umfassenden dialektischen Schulung für alle. Er zeigt sich zutiefst optimistisch, dass so „eine realitätsbezogene Lebensführung“ erreicht und ein „Entgleiten in destruktive Traumwelten, desgleichen in Gewaltphantasien“ verhindert werden kann.

Logisch ist das schon.

Aber dazu müsste sich unser Bildungssystem genauso gewaltig ändern wie unser Umgang mit der deregulierten Finanzwelt und einer vom Wachstumsdenken geradezu besessenen Ökonomie.

Aber die Analyse stimmt: Der Mensch hat die Belastungsgrenzen seines Planeten erreicht und muss nun lernen, mit diesen Grenzen hauszuhalten, um seine Lebensgrundlagen zu erhalten. Die Mittel dazu hat er. Die Frage ist nur, ob eine kleine Gruppe von Gier getriebener Milliardäre genau das verhindert und damit die ganze Menschheit an einen Punkt führt, an dem das Überleben nicht mehr gesichert ist.

Der Mentalitätswechsel, wie ihn sich Akkermann wünscht, ist überfällig. Und zwar auf allen Ebenen. Auch und gerade in der Politik.

Es ist ein Buch geworden, in dem eben nicht nur ein Senior versucht, sein Bild von der Entwicklung der Menschheit zu malen, sondern in dem er auch zu zeigen versucht, welche falschen Vorstellungen über Problemlösungen in das aktuelle Dilemma geführt haben. Und wie wir mit Realitätssinn und im Grunde auch Demut und einem Sinn für das richtige Maß aus der Misere kommen.

Das ist natürlich nicht einfach. Aber es schärft den Blick für all die falschen Töne von Dominanz, Macht und Radikalität, die heute derart viel Widerhall finden.

Siegfried Ackermann „Die ewige Sehnsucht“ Rediromaverlag, Remscheid 2023, 23,95 Euro.

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