Tรคtige Nรคchstenliebe. Damit beginnt die Geschichte des Leipziger Diakonissenhauses. Oder genauer: Die der Leipziger Schwesterschaft im Jahr 1891. Denn fรผr das Diakonissenkrankenhaus selbst wurde der Grundstein erst 1899 gelegt โ€“ Mutterhaus und Krankenhaus in einem Komplex. Und bis heute ist diese enge Verbindung der Diakonissen zu ihrem Krankenhaus erhalten. Auch wenn sich die Zeiten gewandelt haben. Und das Krankenhaus selbst natรผrlich auch.

Es ist deswegen auch eine Doppelgeschichte, die Frunzina Mรผller hier herausarbeitet. Auch wenn die Entstehung des Krankenhauses in Lindenau nicht zu trennen ist von der Schwesterschaft, die 1891 mit Unterstรผtzung des schon seit 1848 bestehenden Dresdner Mutterhauses entstand und von den Leipziger Oberbรผrgermeistern gefรถrdert wurde. Denn auch die wachsende GroรŸstadt Leipzig hatte die Sorgearbeit der Diakonissen bitter nรถtig. Gerade in den neu entstandenen Arbeiterquartieren im Leipziger Westen waren die hygienischen und gesundheitlichen Bedingungen katastrophal. Entstanden war das Diakonissenwesen 1836 in Kaiserswerth, wo der Pfarrer Theodor Fliedner die erste โ€žBildungsanstalt fรผr evangelische Pflegerinnenโ€œ grรผndete. Das war nicht nur eine Reaktion auf die dramatisch schlechten Verhรคltnisse in deutschen Krankenhรคusern.

Es war auch eine kleine Revolution fรผr weibliche Tรคtigkeitsfelder. Denn im Grunde entstand hier der Beruf der Pflegerin, auch wenn die Frauen, die sich bereit erklรคrten, in eine Schwesterschaft einzutreten, gleichzeitig darauf verzichteten, eine Familie zu grรผnden. Ihr Leben war die Schwesterschaft. Was nicht konfliktfrei war. Diesem Leben in der Schwesterschaft spรผrt Frunzsina Mรผller in mehreren Kapiteln nach. Immerhin wirkt das Leben der Diakonissen in heutigen Zeiten recht anachronistisch โ€“ auch weil die Krankenpflege in Deutschland lรคngst professionalisiert ist und auch konfessionelle Krankenhรคuser nicht mehr darauf angewiesen sind, dass sich Frauen ganz und gar nur dem Dienst an den Kranken widmen und dafรผr ein geradezu weltabgewandte Leben fรผhren.

Leben im Dienst an den Kranken

Aber Krankenpflege funktioniert eben nicht nur mit professionellen Handreichungen. Sie braucht die menschliche Zuwendung. Und die Diakonissen waren eben nicht nur im Diakonissenkrankenhaus eingesetzt, sondern lernten gerade in den ersten Jahren ihrer Ausbildung die ganze Bandbreite der Pflege von der Arbeit als Gemeindeschwester bis zur Betreuung von Alten und Waisen kennen. Sie wurden von ihrem Mutterhaus entsandt, wie es so schรถn heiรŸt. Was auch eine Menge Demut und Unterordnung verlangte, womit nicht alle jungen Frauen zurechtkamen, die die Haube nahmen.

Und glรผcklicherweise haben einige persรถnliche Berichte und Zeugnisse รผberlebt, sodass die Autorin einige dieser Frauen, die die Geschichte des Diakonissenhauses prรคgten, vorstellen kann, auch ihr Konflikte schildern kann und ihre Arbeit. Auch ihren โ€žEigen-Sinnโ€œ, wie sie schreibt. Denn natรผrlich fanden die Frauen in ihrer Arbeit auch Erfรผllung und reagierten auch mit Unverstรคndnis, wenn sie dann woanders hingeschickt wurden.

Und natรผrlich versucht Frunzsina Mรผller auch nachzuzeichnen, wie die Schwesternschaft auf die vielen gesellschaftlichen Verรคnderungen reagierte, von denen das 20. Jahrhundert geprรคgt war. Immer wieder war auch das Diakonissenkrankenhaus selbst in Frage gestellt, weil staatliche Geldgeber mit dem Ende der Finanzierung drohten. Denn natรผrlich trรคgt sich ein Krankenhaus nicht von allein. Es braucht immer kommunale und staatliche Finanzierung und reiht sich am Ende ein in eine Versorgungslandschaft, aus der man es nicht einfach wieder entfernen kann. Fรผr das Diakonissenkrankenhaus war der Standort in Lindenau kein zufรคlliger, denn hier waren in den Vorjahren einige der groรŸen Fabriken entstanden mitsamt den groรŸen Arbeitersiedlungen. Da brauchte es dringend ein nahe gelegenes Krankenhaus, um auch die vielen schweren Arbeitsunfรคlle auffangen zu kรถnnen.

Das Haus in schwierigen Zeiten

Aber die รผberlieferten Akten erzรคhlen eben auch von der Einmischung der Politik spรคtestens in der NS-Zeit, als auch im Diakonissenkrankenhaus das โ€žFรผhrerprinzipโ€œ eingefรผhrt werden musste und ร„rzte und Schwestern in die Mรผhlen der NS-Ideologie gerieten. Und wรคhrend die einen zu Opfern des NS-Regimes wurden โ€“ wie die Schwester Marie Runkel, โ€“ steht fรผr die anderen die Frage, inwieweit sie sich andienten oder gar selbst zu Helfershelfern des Regimes wurden. Eine Frage, die Frunzsina Mรผller ebenso untersucht wie die spรคteren Rahmenbedingungen in der Zeit der sowjetischen Besatzung bzw. der DDR. Immerhin eine Zeit, als die regierende SED massiv Druck auf sรคmtliche konfessionellen Einrichtungen ausรผbte und das Diakonissenhaus zeitweilig wieder in Frage gestellt wurde.

Am Ende aber war das Krankenhaus an der Georg-Schwarz-StraรŸe nie verzichtbar, genauso wenig wie die Poliklinik, die 1928 gebaut worden war. Diese wurde als Anpassung nach bundesdeutschem Recht erst nach 1990 geschlossen. Heute ist es ein ร„rztehaus. Und die Schar der Diakonissen und der Diakonischen Schwestern ist im groรŸen Krankenhausbetrieb รผberschaubar geworden, auch wenn das Haus sich nach wie vor als konfessionelle Einrichtung versteht.

Mittlerweile ist es freilich umfassend modernisiert. Die letzten 33 Jahre waren so arbeitsintensiv, dass es gar nicht verwundert, das niemand wirklich Zeit fand die Geschichte von Haus und Schwesternschaft umfassend aufzuarbeiten. Und auch offene Fragen zu klรคren โ€“ etwa zur Abwanderung von ร„rzten in den Westen, zum mรผhsamen Erhalt der Bausubstanz und der Arbeitsfรคhigkeit in Zeiten, als es dafรผr in der DDR gar keine Baukapazitรคten gab, oder den Konflikten eine konfessionell geleiteten Einrichtung mit den jeweiligen Ministern.

Ein besonderes Haus

Alles Fragen, die Frunzsina Mรผller aufgreift und anhand einer augenscheinlich sehr lรผckenhaften Aktenlage zu beleuchten versucht. Das Ergebnis ist trotzdem Buch geworden, das die Geschichte des Diakonissenhauses in รผber 130 Jahren erstmals greifbar werden lรคsst. Stark aus der Innenperspektive gesehen, was die Leserinnen und Leser ein wenig auch das Selbstverstรคndnis von Schwestern, Hausleitung, ร„rzten und Mitarbeitern spรผren lรคsst. Bis hin zur Rolle als kleine Rettungsinsel fรผr Menschen, die in der DDR zu AuรŸenseitern geworden waren und nur hier eine Arbeit finden konnten. Was dann die permanente Anwesenheit der Stasi auch nicht mehr รผberraschend erscheinen lรคsst.

Gestreift werden auch die beiden groรŸen Kriegszeiten. Im Ersten Weltkrieg wurden die Diakonissen hinter die Front geschickt, im zweiten wurde das Haus komplett zum Lazarett fรผr die Wehrmacht gemacht. Man stellt sich Krankenhausgeschichten meist immer nur als Geschichte emsig eilender ร„rzte und Pflegerinnen, ร„rztinnen und Pfleger vor, dienstbar einfach fรผr die Heilung ihrer Patienten. Aber das 20. Jahrhundert war eine Zeit, in der auch die Krankenhรคuser immer wieder zum Ziel staatlicher Einflussnahme wurden.

Die Zeit nach 1990 handelt Mรผller dann nur noch als Zeittafel ab. Das wird dann wohl spรคteren Arbeiten รผberlassen sein, auch diese Zeit der zunehmenden ร–konomisierung des Krankenhauswesens zu beschreiben. Aber wichtig war รผberhaupt erst einmal die Bestandsaufnahme fรผr die ersten 100 Jahre, sodass auch die heutigen Generationen ein Gefรผhl dafรผr bekommen, warum das Diakonissenkrankenhaus eine so besondere Einrichtung ist und welche Rolle die Diakonissen hier spielten. Dass sie in der DDR-Zeit immer weniger wurden und kaum noch Nachwuchs gewannen, ist bekannt. Aber es gibt sie noch, wie man ganz am Ende der Zeitleiste erfรคhrt: fรผnf Diakonissen und 23 Diakonische Schwestern.

Frunzsina Mรผller Das Leipziger Diakonissenhaus, Leipziger Universitรคtsverlag, Leipzig 2023, 32 Euro

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