Mit kühlerer Luft, wechselhaft in den Temperaturen, kündigt sich der Herbst an. Mal leicht, mal schwer. So kommt auch Harald Welzer (*1958), der Spitzen-Soziologe und Politikauskenner daher. Zuletzt geht es ihm aber immer um die „Fehlsteuerungen“ neoliberaler Politik der letzten Jahrzehnte, da bleibt er „hängen“. Wobei der Autor profundes Wissen und Äußerungen breiter gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Kreise analytisch zu verarbeiten versteht.
Ohne Scheu und ohne Dünkel berichtet Welzer auch von seinen Erfahrungen aus seiner Stammkneipe um die Ecke. Deshalb macht sein „Zeiten Ende“ Spaß und bietet Erkenntnisgewinn beim Lesen. Und seine Analysen und Ableitungen wirken auf eine beeindruckende Weise und im besten Sinne überzeugend und klar. Kostprobe gefällig?
„Was für eine merkwürdige Situation: Viele Menschen fühlen sich vom Angebot, das ihnen die politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten in Deutschland machen, nicht mehr angesprochen. Zugleich erhöhen die Polykrise und eine unzureichende Daseinsvorsorge den Stress der Bürgerinnen und Bürger und vermitteln ihnen das Gefühl, dass zunehmend außer Kontrolle gerät, was ihr Land sein sollte.“ (S. 254)
Wie sieht es nun aber mit seinen Schlussfolgerungen aus dem von ihm prophezeiten und apostrophierten „Zeiten Ende“ aus? Welzers Denkweise ist dabei – ich hoffe es – leicht nachvollziehbar: An die Stelle der „Fehlsteuerungen“ müssten „Korrekturen“ gesetzt werden. Wenn es nur so einfach wäre, würden Sie sicherlich sagen. Richtig. Es scheint eine schier unüberwindliche soziale und ökonomische Riesenhürde in Form des Konsumkapitalismus zu geben. (Warum der auch „postmodern“ bezeichnet wird, hat sich mir nie ganz erschlossen.)
Ein gesellschaftlicher Diskurs zu alternativen politischen und wirtschaftlichen Strategien oder gar Modellen fehlt, in den linken, untersten Schiffskabinen der deutschen „Titanic“ streitet man sich lieber darum, ob und wann man ans Oberdeck zum Restessen darf, anstatt sich zu überlegen, wie man Navigation und Kursbestimmung lernt und vor allem verändert …
Aber bleiben wir bei Welzers provokanter Streitschrift. Dieses Genre politischer Lang-Essayistik scheint gerade mehr und mehr an Bedeutung zu gewinnen, an Reichweite und sicherlich auch immer an heftig vorgetragener Kritik. Ganz richtig stellt auch Welzer fest, dass wir uns als Gesellschaft an einem kritischen Wendepunkt unserer demokratischen Reife oder Nicht-Reife befinden.
S. 255: „Wir sehen die Fahrlässigkeit und Arroganz von wirtschaftlichen, politischen und medialen Eliten, denen die gefährlich groß werdende Distanz zu den Leuten gleichgültig zu sein scheint und die die Fühlung für die soziale Wirklichkeit im Land weitgehend verloren haben. Diese Distanz ist keine Erfindung der AfD, die nimmt nur die Chance wahr, sie zu instrumentalisieren.“
Dort, bei den Eliten des Landes sieht Welzer das Übel sitzen, stehen, scheindebattieren und – vielleicht ergänzend – auch phrasenhaft zu „infantilisieren“, wie die rhetorische Kindergarten-Didaktik vom „Doppel-Wumms“ und „Respektrente“ eines Bundeskanzlers und seiner Minister/-innen zeigte und zeigt. Was in Wirtschaftskreisen „abläuft“ erklärt Welzer gewohnt souverän, man spürt und liest einen Pionier alternativer Modelle von Produktion und Konsumtion im 21. Jahrhundert aus beinahe jeder Zeile heraus. Mit der medialen „Selbststeuerung“ und selbst verordnetem Konformitätsdruck war Welzer gemeinsam mit dem Fernsehphilosophen Richard David Precht in seinem letzten – natürlich wieder „umstrittenen“
Werk „Die vierte Gewalt – wie Mehrheitsmeinung gemacht wird“ ja bereits ins harte Gericht gegangen. Sein neuestes Werk bietet keinen anderen Ton als der Vorgänger, kommt eher wie eine Generalabrechnung daher.
Da darf auch der „Kulturkampf“ der Werte und Formen nicht fehlen – der Ab- und Ausgrenzungsdrang von Formen, Haltungen, Ideen und nicht zuletzt Äußerungen. Kommunikativer Kanon „wertegeleiteter Innenpolitik“. Welzer kontert mit der ernsten Warnung, dass sich – mit entsprechendem Verweis auf Hannah Arendt – eine vitale Demokratie im regierungsamtlich verordneten Ritualen an Werten und Kommunikationsvorschriften eben nicht wohlfühlt bzw. stabil erhalten werden kann.
Fortsetzung S. 255: „Und im Hintergrund dieser Situation vollzieht sich eine radikale Veränderung in den Überlebensbedingungen der menschlichen Lebensform. Das ist die Bühne, auf der das absurde Theater einer Gegenwart aufgeführt wird, die sich vorspielt, es sei noch alles beim Alten. Die Bootsleute verheizen das Boot, das sie zum anderen Ufer bringen soll. Eine perfekte Metapher für die Gegenwart.“
Da scheinen auch Welzers sozial-philosophische „Abschweifungen“ plausibel und fügen sich nahtlos in die bereits erwähnte Generalabrechnung ein.
So wie der Münchener Soziologe Ulrich Beck bereits in den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts einen „diffusen spießbürgerlichen Individualismus“ diagnostizierte, Wilhelm Heitmeyer in seinen „Deutschen Zuständen“ vor der und abstiegsbedrohten und tendenziell verrohenden Mittelschicht warnte, ist auch Welzer mit dem Verweis auf Adorno und Arendt bei einem klaren Kausalschluss angelangt: Wenn durch zunehmenden sozialökonomischen Druck die Demokratie die Bereitschaft ihrer Träger (und Trägerinnen) verliert, sich mit ganzer integrativer und toleranter Kraft für deren Erhalt einzusetzen, dann …
Auch Welzer sollte zuallererst die ehrliche Sorge um den Zusammenhalt einer demokratischen und sozialen „Kohäsion“ unseres Landes und unserer Gesellschaft abgenommen werden. Dazu sind seine Verweise auf die Erosionserscheinungen in unseren Nachbarländern zu deutlich.
Der Neoliberalismus ist eben keine nationalökonomische Erscheinungsform – deswegen können auch nationalstaatlicher Egoismus und dauerhafte Rückführungen von Menschen, die die scheinbaren Dauersegnungen westlicher Sozialstaatsüberreste suchen, keine langfristige Strategie im Weltwirtschaftsrahmen sein.
Das wird auch der letzte „moralistische“ Linke einsehen müssen, dass damit nur Lohndruck und verschärfte Existenzängste und -aggressionen der unteren und mittleren Schichten das Resultat wären. („Moralismus“ – Dauerthema auch bei Welzer, wenn Vernunft einem dogmatischen „Vulgärhumanismus“ weicht. Aber das nur am Rande.)
Patentlösungen hat auch Welzer (natürlich) nicht in der Tasche. Aber Gedanken-Ansätze und Korrekturvorschläge. Vielleicht ist das auch zu weit gegriffen, ihm zu viel unterstellt. In seinen analytischen Befunden liest sich immer das Alternative. Der Aus-Weg nach dem Zeiten-ende. Oder vielmehr, um letzteren zu entkommen. „Eine »konsumorientierte Idee der Freiheit« der Wenigen hat die gemeinwohlorientierte Idee der Freiheit aller abgelöst und damit in gewissem Sinn die Idee der Demokratie selbst entwertet.“ (S. 258)
Das Alternative – ich verwende diesen Begriff ganz bewusst häufig, um ihn positiv zu besetzen – kann nicht in einem selbst optimierten Mehr an Ellenbogenkraft liegen. Auch nicht mit einem „Doppel-Wumms“ beim Zuschlagen und Drängeln im persönlICHen und alltäglICHen Leben. (Eine alte Postbank-Werbung, „ICH“ weiß.) Vielmehr im Schaffen von „Orten des Zusammenhalts“, von denen der Autor zu Recht schwärmt.
Diese Orte verrate ich Ihnen abschließend nicht. Lesen Sie selbst. Nur einen. Die Schule. Morgen erwartet sie mich wieder. Machen wir sie, wie Welzer es fordert, viel mehr zu einer Stätte der Begegnung und des sozialen Integrals, zu einem „Gemeinschaftszentrum“. Schön wäre es ja.
Harald Welzer, Zeiten Ende – Politik ohne Leitbild – Gesellschaft in Gefahr, Fischer-Verlag 2023, 304 S.
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