Was zerlegt eigentlich gerade unsere Gesellschaft? Was gibt eigentlich den radikalen und rรผcksichtslosen Krรคften so einen Auftrieb? Liegt es daran, dass die Menschen nicht mehr in die Kirche gehen? Fehlt ihnen dadurch ein moralisches Korsett, das ihnen eine atheistische Gesellschaft nicht mehr geben kann? Es ist keine unbegrรผndete Frage, die sich der junge sรคchsische Theologe Justus Geilhufe in diesem Buch stellt, das leicht schwankt zwischen Essay und Predigt.

Was wiederum nur zu verstรคndlich ist. Wer kann schon aus seiner Haut? Ist es nicht die Aufgabe der Kirche, die Menschen in ihrer Widersprรผchlichkeit zu trรถsten und auszusรถhnen mit der schlichten Tatsache, dass ein Leben nie vollkommen ist? Dass wir Fehler machen, versagen, verzagen und nie dem Anspruch genรผgen kรถnnen, ein โ€žrichtiges Lebenโ€œ zu leben?

Auch nicht im โ€žfalschenโ€œ, um an dieser Stelle den so oft falsch angewendeten Satz von Theodor Adorno zu zitieren: โ€žEs gibt kein richtiges Leben im falschen.โ€œ Ein Satz, der den Ostdeutschen nach 1990 immer wieder um die Ohren gehauen wurde als Vorwurf.

Und auch wenn ihn Geilhufe nicht zitiert, schwingt er mit, wenn er sich Gedanken darรผber macht, warum die heutige entfesselte Rรผcksichtslosigkeit so sehr an die Brutalitรคt der Baseballschlรคgerjahre erinnert, die er als Kind in Dresden erlebt hat. Mit einem entsprechend starken Bild steigt er auch ein in seinen Versuch, die Sache zu erklรคren.

Wobei er zugibt, dass es auch sein kรถnnte, dass er die Rolle der ostdeutschen Kirche vor 1990 in etwas zu schรถnem Licht sieht. Seine Grundthese: โ€žDie atheistische Gesellschaft von damals und jene von heute verdrรคngen beide die Widersprรผche. Die Kirche von damals hat diese Widersprรผche angenommen. Die Kirche von heute hat es mit den Widersprรผchen schwer.โ€œ

Der zerrissene Mensch

Widersprรผche, die nicht nur die Gesellschaft durchziehen, sondern auch jeden einzelnen Menschen. Keiner ist heil. Aber was passiert, wenn eine Gesellschaft ihren Mitgliedern immerfort einredet, es gebe ein โ€žrichtiges Lebenโ€œ? So wie es die eine Gesellschaft mit Propaganda tat, die andere tut es mit geballter Werbung. Alles kann man sich kaufen. Am Ende gar ein heiles Leben. Fragezeichen.

Genau das scheint nicht zu funktionieren. Konsum und Reichtum sind kein Ersatz fรผr die Trias, die Geilhufe in seinem Buch immer wieder beschwรถrt: Wahrheit, Schรถnheit und Gรผte.

Aber hat es die Kirche in der DDR geschafft, das auszustrahlen?

โ€žIch kann nicht genau sagen, ob meine Kirche im Osten in dieser Hinsicht wirklich anders war, aber ich habe das Gefรผhl, dass ich aufgewachsen bin unter Menschen, die es anders gemacht haben โ€“ oder zumindest anders machen wollten. Vielleicht ist dieses Gefรผhl auch verwischt, aber dennoch liegt in ihm โ€“ authentisch oder nicht โ€“ eine kleine Wahrheit versteckt von uns Menschen und unserem Zusammenleben, die zu erzรคhlen richtig, vielleicht gut und vielleicht sogar schรถn ist.โ€œ

Darin steckt, wie man bald merkt, da Geilhufe auch immer wieder Szenen aus seinem Leben erzรคhlt, auch der tiefe Wunsch eines Pfarrers, es kรถnne so gewesen sein. Und die Kirche kรถnnte wieder so eine Rolle finden. Also wieder ein Ort werden, an dem Menschen mit ihren Widersprรผchen angenommen werden. Sich damit wieder aussรถhnen kรถnnen. Ein Ort, der natรผrlich auch vor 1990 im Osten gebraucht wurde.

Denn richtigerweise stellt Geilhufe โ€“ der freilich erst 1990 geboren wurde โ€“ fest, dass es in der DDR eigentlich fรผr niemanden eine Chance gab, nicht schuldig zu werden. So war die Gesellschaft nun einmal angelegt, die ihre Bรผrger immerfort erziehen wollte, โ€žlenkteโ€œ, bevormundete und beobachtete.

Die pure Blรถdheit der Postmoderne

Doch was hat das mit der Moral der Menschen angerichtet? Welche Folgen hatte der massive Versuch, die Kirchen zurรผckzudrรคngen und die Menschen zu Atheisten zu machen? War es das, was Justus Geilhufe als Kind in Dresden beobachten konnte, wo auf einmal Nazis den รถffentlichen Raum besetzten und Angst und Schrecken verbreiteten?

Woher kamen die? Oder waren die vorher schon da, quasi als Produkt einer atheistischen Gesellschaft, die nicht begriff, wohin das fรผhrt, wenn man Gott einfach abschafft?

Es ist eine sehr persรถnliche Interpretation, die der Autor hier รผber den verordneten Atheismus und die Rolle der Kirche in der DDR legt. Aber sie hat einen Kern, der ein wesentliches Thema unserer Gegenwart anspricht. Denn wo finden Menschen eigentlich Trost und Akzeptanz, wenn sie die โ€“ eingestandenen und versteckten โ€“ Ansprรผche einer Gesellschaft nicht erfรผllen kรถnnen?

Und auch in Bezug auf unsere entfesselte Konsumgesellschaft stimmt ja Geilhufes Einschรคtzung, dass deren mit riesigen Werbebudgets verbreitete Vorstellungen vom โ€žrichtigen Lebenโ€œ (man darf ruhig auch an die verheerenden Folgen der รผber Tiktok & Co. verbreiteten Schรถnheitsideale denken) schlichtweg nicht erfรผllbar sind. Menschen scheitern daran, diese perfekten Vorstellungen vom โ€žrichtigen Lebenโ€œ zu erfรผllen.

Sie leben in Widersprรผchen und Zerrissenheit. Nur: Ist dann ausgerechnet die Kirche der Ort, wo sie Heimat finden? Man merkt, dass Justus Geilhufe sich das wรผnscht.

Aber wie ist das dann mit dem Atheismus?

Das ist der Punkt, den Geilhufe gar nicht wirklich zu erfassen versucht. Das wird deutlich, wenn er so schรถne Sรคtze schreibt wie diesen: โ€žDem Piefkesozialismus der DDR und der puren Blรถdheit der Postmoderne das bรผrgerliche Pfarrhaus und den unverรคnderlichen Protestantismus der Aufklรคrung entgegenzuhalten, ist der eigentliche und der eigentlich fruchtbringende Wahnsinn.โ€œ

Da hat man sofort ein Bild.

Wie hรคlt man Widersprรผche aus?

Aber es beantwortet nicht wirklich die Frage, wie das Pfarrhaus nun in die atheistische Gesellschaft hineinwirken oder gar zum Zufluchtsort der Atheisten werden soll. Oder kann. Wobei Geilhufe recht deutlich macht, dass seine protestantische Kirche, indem sie sich zu jedem politischen Thema รคuรŸert, eigentlich ihre Rolle verfehlt. Wรคhrend sie da, wo es um die seelische Zerrissenheit der Gesellschaft geht, schweigt. Als wรคre sie schon selbst โ€žrichtigโ€œ, wenn sie sich politisch richtig artikuliert.

Wรคhrend sie da, wo es um die Wahrnehmung und Benennung der gesellschaftlichen und menschlichen Zerrissenheit geht, schweigt. Und damit รผberhaupt keine Tรผren รถffnet fรผr Menschen, die in ihrer Zerrissenheit nicht mehr wissen wohin. Auch nicht wissen, dass die innerlich brodelnden Widersprรผche ganz und gar nicht falsch oder verboten sind. Sondern menschlich.

Aber auch keine Schuld und kein Makel, wie es Geilhufe teilweise religiรถs interpretiert.

Wir Menschen sind so. Und die Kategorien, die Geilhufe benennt, sind nun einmal kein Kircheneigentum, sondern der tatsรคchliche Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhรคlt: Wahrheit, Schรถnheit und Gรผte. Dinge, nach denen jeder streben kann, die das eigene Leben bereichern. Voraussetzung natรผrlich immer: die eigene Widersprรผchlichkeit auszuhalten. Niemand ist perfekt, auch wenn sich viele so geben: unerbittlich, gnadenlos, anklagend.

Oder ordnungspolitisch rabiat. Das heutige politische Gezรคnk berรผhrt Geilhufe gar nicht erst, aber es erzรคhlt genau von dieser Unversรถhnlichkeit, von Rechthaberei und Dรผnkel. Nur eins ist Mangelware geworden: das Verstรคndnis fรผreinander.

Eine Wirklichkeit ohne Sinn

Und das hat tatsรคchlich wenig mit Atheismus zu tun, sondern mit einer Gesellschaft, die den Egoismus propagiert und sich zunehmend auch verbal radikalisiert. Man hรถrt nicht mehr zu, sucht kein Verstรคndnis mehr fรผreinander. So wie das Landgericht in Mรผnchen, das lieber verurteilt als zu verstehen.

Und dass Justus Geilhufe eigentlich nicht den Atheismus selbst meint, sondern eine fรผr ihre eigenen Fehler blinde Gesellschaft, wird deutlicher, wenn er schreibt: โ€žDie atheistische Gesellschaft im Zeitalter des Geldes lรคsst die Widersprรผche als unrentabel einfach verschwinden, ignoriert sie und produziert eine sinnlose Wirklichkeit, in der die Ambivalenzen unserer Biografien nicht mehr vorkommen.โ€œ

Auf dieser Basis vergleicht er die atheistisch verordnete Gesellschaft der DDR mit unserer heutigen, in der sich selbst Richter zum Diener von Wirtschaftsinteressen und Nutzendenken machen. Und dabei den Blick verlieren fรผr die eigene Widersprรผchlichkeit.

Gut verstรคndlich, dass sich Justus Geilhufe eine Kirche wรผnscht, in der Menschen mit ihren Widersprรผchen wieder Zuspruch und Trost finden. Nur รคndert das eben nichts an einer โ€žblinden Gesellschaftโ€œ, die ihre Widersprรผche lieber wegurteilt, als sie wahrzunehmen und zu akzeptieren.

Und da hilft auch nicht โ€“ wie man lesen darf โ€“ dass die Kirche deutlich an die Mitmenschlichkeit appelliert. Denn das nutzt gar nichts, wenn die gerade Mรคchtigen ihr C nur am Revers tragen, die Schwachen, die da protestieren, aber verdammen und verurteilen.

Die Kirche ist schwach geworden. Das stimmt. Aber sie kรถnnte eine starke Stimme fรผr die Schwachen sein. Das kann man mitnehmen, auch wenn es Justus Geilhufe eher nur streift in seinen vielen รœberlegungen darรผber, wie es seiner protestantischen Kirche heute eigentlich geht. Und warum es sich lohnt, in einem Nest in Sachsen Pfarrer zu sein.

Justus Geilhufe โ€žDie atheistische Gesellschaft und ihre Kircheโ€œ Claudius Verlag, Mรผnchen 2023, 20 Euro.

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