Sie war von verschiedenen Leuten schon totgesagt. Denn in einer zunehmend säkularen Welt ergibt das Beleidigen von Göttern ja wenig Sinn. So wird Blasphemie ja in der Regel verstanden. Aber so war sie eigentlich nie gemeint. Auch nicht in ihrer mehr als 2.000 Jahre alten Geschichte. Eine Geschichte, in der auch der Philosoph Sokrates vorkommt, der genau wusste, warum ihn die Elite Athens zum Tode verurteilte. Die Götter waren immer nur ein Vorwand.
Oder die „Verderbnis der Jugend“, wie sie Sokates’ Ankläger Meletos vorbrachte, ein Mann, dem Sokrates noch während des Prozesses ins Gesicht sagte, dass er sich um die Besserung der Jugend nie gekümmert hatte.
Es kommt einem sehr viel vertraut und nur allzu bekannt vor an diesem Prozess gegen Sokrates, der den feinen Herren von Athen die Wahrheit ins Gesicht sagte. Und genau darum geht es eigentlich: Die Verdammung der Blasphemie war immer ein Herrschaftsmittel, unliebsame Wahrheiten zu kriminalisieren und Machtverhältnisse zu sichern.
Oder – wie es Yvonne Sherwood in ihrem Essay systematisch herausarbeitet: In erster Linie hatten Blasphemien immer eine soziale Dimension. Man kann es auch so formulieren: Ihre Verankerung in Gesetzen und Geboten diente dazu, den sozialen Frieden zu sichern.
Oder eben das, was Herrschende für Frieden halten. Denn der Vorwurf der Blasphemie endete in der Geschichte immer wieder tödlich, wurde als Angriff auf die Religion verstanden und entsprechend grausam bestraft. Man denke nur an Jesus, der genau deshalb hingerichtet wurde. Und der gerade deshalb so typisch ist für das, was Menschen passiert, die alte Glaubensvorstellungen und Herrschaftskonstellationen infrage stellen.
Obwohl alle wissen, dass es ohne diese Menschen keinen Fortschritt gibt. Erstarrte Verhältnisse löst man nur auf, indem man sie gerade infrage stellt – und zwar öffentlich, deutlich und ohne Kompromisse. Das gilt für alle Zeiten und für alle Gesellschaften.
Bilder als Waffe
Dass der Vorwurf der Blasphemie jahrhundertelang mit der Religion aufs engste verquickt war, hat seine Ursachen nicht in der Religion. Das ist ein Aspekt, den Yvonne Sherwood zumindest streift, den man aber gern vergisst: dass Religion ja auch nur von Menschen gemacht ist und Religionen über Jahrtausende hin der in Normen, Gleichnisse und Gebote gegossene Wertekanon der Gesellschaft waren. Und sind.
Nach wie vor sind säkulare Staaten wie Deutschland weltweit die Ausnahme.
Was auch Konflikte wie die um „Charlie Hebdo“ oder die Mohammed-Karikaturen in der dänische Zeitung „Jyllands-Posten“ in völlig andere Zusammenhänge stellt, je nachdem, ob jemand überzeugter Atheist ist und Religionen sowieso für Schnee von gestern, oder eben gläubiger Muslim. Was den einen nicht juckt, trifft den anderen mitten in seinen Überzeugungen und Glaubensvorstellungen.
Was dann auch eine sichtbare Veränderung des Umgangs mit Blasphemie in den letzten Jahrhunderten zeigt, wie die Professorin für Biblische Kulturen und Politik an der University of Kent in ihrem 2021 zuerst auf Englisch erschienenen Buch herausarbeitet. Denn gerade das 19. Jahrhundert war (in England) gekennzeichnet vom zunehmenden Protest gegen die geltenden Verbote der Blasphemie, mit denen vor allem die anglikanische Kirche geschützt wurde.
Und einsichtige Richter akzeptierten sehr wohl, dass die Männer, die sie wegen Blasphemie verurteilten, in wesentlichen Punkten recht hatten. Denn wenn man nicht an Götter glaubt und Religion für eine Privatsache hält, ist es schwierig zu beweisen, dass ein Mensch dann die Götter beleidigen könnte.
Wo endet Toleranz?
Manchmal braucht es erst ein paar Jahrhunderte, damit auch die Justiz versteht, dass es bei Blasphemie tatsächlich nicht um beleidigte Götter geht, sondern um Macht. Und noch um etwas: den respektvollen Umgang miteinander. Denn die Gefühle der Gläubigen verschwinden ja nicht einfach, wenn jemand für sich deklariert „Gott ist tot.“
Menschen hören nicht einfach auf, trotzdem nach ihren Wertvorstellungen und Gebräuchen zu leben. Und wer ehrlich zu sich ist, gibt auch zu, dass vieles davon von außen betrachtet seltsam wirken kann. Das gilt nicht nur für die Fasten- und Feierregeln der Anderen. Das gilt auch für einen selbst, ob gläubig oder ungläubig.
Weshalb zwar etliche Staaten die alten Blasphemie-Gesetze abgeschafft, viele aber solche Gesetze auch wieder eingeführt haben. Und nicht nur die Länder, die meistens mit ihren drakonischen Strafen für Blasphemie in den Zeitungen stehen. Auch und gerade Länder der Aufklärung. Denn zur Erkenntnis der eigenen Gesellschaft gehört irgendwann eben auch, dass es Religion in der Einzahl gar nicht gibt. Gerade dann, wenn Toleranz zu den obersten Geboten eines Landes gehört.
Dann wird die Existenz vieler religiöser Gruppen und Bewegungen nicht nur wahrgenommen, sondern auch respektiert. Und weil es dann trotzdem Leute gibt, die dann auf den Gefühlen und dem Glauben anderer Menschen herumtrampeln, bleibt dem Gesetzgeber gar nichts anderes übrig, als auch die Religionen der Minderheiten vor diesen permanenten Attacken zu schützen. Und zwar strafbewährt, um gerade den Leuten, die mit Hass und Aggression agieren, Grenzen zu setzen.
Und siehe da: Auf einmal berührt das Thema Blasphemie ein anderes Thema, das unsere modernen Gesellschaften zerreißt, seitdem die Debatten immer aufgeheizter, aggressiver und rücksichtsloser werden. Stichwort: Hatespech. Früher fast nur auf enge Kreise beschränkt, inzwischen durch a-soziale Netzwerke allgegenwärtig, deren Algorithmen genau diese Art Rücksichtslosigkeit, Hass und Verleumdung unterstützen und verbreiten.
Und auf einmal merkt man: Es gibt eigentlich keine wirkliche Abgrenzung zur Blasphemie. Das Verächtlichmachen, Erniedrigen und Beleidigen trifft alle. Es geht direkt ans Persönliche. Und: Es soll verletzen.
Bilder sind nicht nur Bilder
Während frühere religiöse Interpretationen immer auch für möglich hielten, dass Menschen Blasphemien auch passieren können, herausrutschen können im „Eifer der Erregung“, zielt Hassrede ganz bewusst auf die Verletzung persönlicher Grenzen, der Selbstachtung und des Respekts, ohne die eine friedliche Gesellschaft nicht möglich ist. Und mit den a-sozialen Medien wurden alle Schleusen für die Hassrede geöffnet.
Auch für Blasphemien, die jetzt sogar in voller Anonymität getätigt werden können und meist auch genau so gemeint sind: als Angriff auf die religiösen Gefühle anderer Menschen.
„Durch die Medienrevolutionen seit den 1880er-Jahren haben sich die Möglichkeitem der Herstellung, Verbreitung, Kontrolle und Verfolgung von ‚Blasphemien‘ stark vergrößert“, beschreibt Sherwood den Begleiteffekt. Denn gerade autokratische Regime haben dadurch ein völlig neues Instrumentarium in die Hände bekommen, Menschen zu disziplinieren und Widerspruch und Kritik gegen ihre Herrschaft rigoros zu unterbinden.
Und das oft genug unter religiösen Vorwänden gerade dort, wo sich auch die Herrschaft religiös kaschiert.
Und so wird das Thema sehr komplex. Was ja gerade der Streit um die Mohammed-Karikaturen sichtbar machte. Bilder können verletzen. Und Bilder sind eben nicht nur Bilder, wie Sherwood recht ausführlich diskutiert. Sie können Menschen „Schmerz zufügen“, gerade dann, wenn sie auf ihre religiösen Gefühle zielen.
Aber sie treffen auch die Selbstbilder von anderen Gruppen und Minderheiten, machen sie lächerlich oder schüren die Verachtung. Und noch komplexer wird das, wenn das von Mehrheitsgesellschaften auch noch systematisch und ganz bewusst so getrieben wird.
Heilige Symbole
Und auch da hört es nicht auf, denn selbst Minderheiten, die jahrhundertelang Verachtung und Ausgrenzung erlebt haben, können die Blasphemie als Mittel der Selbstbehauptung nutzen. Die jüngere Mediengeschichte ist voll davon. Bis hin zu Filmen, die ganz bewusst die heiligen Muster einer einst mächtigen Institution aufs Korn nehmen – wie der Monty-Python-Film „Das Leben des Brian“.
Ein Film, der aber vor 40 Jahren völlig anders blasphemisch wirkte als heute, wie Sherwood feststellen kann. Die Vorstellungen der Menschen davon, was blasphemisch ist, ändern sich fortwährend.
Und nicht nur Religionen und Staaten definieren, was aus ihrer Sicht geheiligt ist und nicht beleidigt werden darf (bis hin zu Staatssymbolen), sondern auch kleine Gruppen, die eine unheimliche Wirkmacht entfalten können – so wie die in den USA entstandene Woke-Bewegung, die ihrerseits definiert, wo die Grenzen des Sagbaren zu sein haben.
Auf einmal entwickeln Menschen selbst eine unheimliche Lust daran, Sittenwächter zu spielen. Oft sogar in der Haltung, quasi für andere Menschen sprechen und wachen zu dürfen.
Was eben auch heißt: Es ist uns viel mehr heilig als das, was Religionen für heilig erklären. Und wie vor 2.500 Jahren geht es letztlich um das Sagbare in einer Gesellschaft. Wer darf eigentlich richten über das Sagbare? Da schreibt Yvonne Sherwood einen sehr klaren Satz: „Eine Blasphemie kann per definitionem nur derjenige beurteilen, gegen den sie sich richtet.“
Und wenig später: „Daher beginnen wir, wenn wir über die Blasphemie nachdenken, automatisch über die Empfindungen und Gefühle andere Menschen – und vielleicht sogar Götter – zu spekulieren.“
Den Mächtigen die Wahrheit sagen
Wobei wir über die Götter nichts wissen. Über die anderen Menschen schon. Sogar sehr viel, wie Sokrates ganz öffentlich feststellen konnte. Am Ende ist er eigentlich nicht wegen Blasphemie zum Tode verurteilt worden, sondern weil er den eingebildeten Athenern ihre Scheinheiligkeit ins Gesicht gesagt hatte. Das vertragen Mächtige nie.
Und ihre Gesetze haben hunderte Namen, in denen neben Worten wie Blasphemie auch Majestätsbeleidigung und ähnliches steht. Weil sie eben auch wissen, dass Blasphemie das Bestehende infrage stellt – nicht immer boshaft oder verletzend. Aber wer erstarrte Verhältnisse verändern will, muss die Grenzen des erlaubten Sagbaren überschreiten. So, wie es Jesus tat und damit den Zorn der Mächtigen auf sich zog.
Es ist nicht das einzige Beispiel aus der Bibel, das Yvonne Sherwood heranzieht. Aber es erzählt quasi in aller Kürze, warum es bei Blasphemien niemals um die Götter geht, sondern fast immer um die Mächtigen, Machtungleichgewichte und die Grenzen des Sagbaren. Wobei es einen gewaltigen Unterschied macht, ob man anonym Menschen mit Hass und Drohungen überzieht (was schlichtweg feige ist und unehrlich), oder ob man dem Kaiser in aller Öffentlichkeit sagt, dass er nackt ist.
Dieses Beispiel bringt Yvonne Sherwood nicht. Aber man merkt schon, dass das Thema viel größer ist, als dass es in einem einzigen Essay Platz finden könnte.
Es begleitet die gesamte jüngere Menschheitsgeschichte (über die ältere wissen wir in dieser Beziehung einfach nichts). Und es ist immer Kern der Kritik europäischen Aufklärung gewesen – auch wenn Sherwood sich fast nur auf die englische Geschichte der Blasphemie und des Kampfes gegen die entsprechende Gesetzgebung bezieht.
Wobei sie eben auch auf die Geschichte des Umgangs mit Blasphemie in der Geschichte der großen Religionen eingeht – die oft eine völlig andere war, als sie aus heutiger Sicht meist interpretiert wird. Dabei nimmt sie mit einigem Recht auch das arme Mittelalter in Schutz, dem wir heute oft Grausamkeiten und Finsternisse zuschreiben, die eigentlich unsere eigenen sind.
Wir kommen uns ja ganz besonders hoch entwickelt und zivilisiert vor, obwohl ein simpler Blick in die a-sozialen Netzwerke genügt, um zu sehen, wie finster es da in den Gedankenwelten und Äußerungen vieler Menschen zugeht.
Geschäfte mit der Beleidigung
Statt dass Blasphemie als Tatbestand einfach aufgehört hat mit der Entstehung säkularer Staaten, ist sie heute in all ihren Extremen so lebendig wie immer. Sie ist längst auch zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell geworden, wie Sherwood feststellt: „Die für maximale Nutzerbindung optimierten Algorithmen von Google und Facebook wurden programmiert, um Konflikte zu befeuern, weil Studien belegen, dass Kontroversen die Mediennutzer viel länger bei der Stange halten als konstruktive Debatten.“
Sie plädiert für einen „differenzierten Umgang mit Blasphemien“.
Nur irgendwie klingt das ein bisschen hilflos, nachdem sie festgestellt hat, dass die Verunglimpfung anderer Menschen längst zum erfolgreichsten Geschäftsmodell der Gegenwart geworden ist. Das sorgt für die Eskalation der Debatte, macht aber einen respektvollen ujnd differenzierten Umgang miteinander, den Sherwood eigentlich anmahnt, fast unmöglich.
Und es hat – wie sie feststellt – auch zu einer Verschiebung geführt. Denn „früher gehörte die Mehrheit der ‚Blasphemie‘ -Aktivisten der politischen Linken an.“ Da ging es nämlich noch gegen die Heiligtümer von Staat und Kirche. Aber heute ist das „Blasphemieren“ zu einem Sport der Rechten geworden und richtet sich eben nicht mehr gegen die Mächtigen, sondern gegen Schwache und Minderheiten.
Sie ist also politisch instrumentiert. Und das passt so prima zu den Erlösmodellen von Facebook, X und Co., dass wir wahrscheinlich nicht mehr darauf hoffen können, dass diesem Wüten überhaupt noch eine Grenze gesetzt wird. Oder mit den Worten von Yvonne Sherwood: „Es ist egal, was das Wort ‚Blasphemie‘ bedeutet, solange es auf der affektiven Ebene der Gefühle seine Wirkung tut: blasphemy sells.“
Yvonne Sherwood „Blasphemie. Geschichte und Gegenwart des Frevels“, Claudius Verlag, München 2023, 22 Euro.
Keine Kommentare bisher