Alle Wege fรผhren nach Leipzig? Nein. Das ist vorbei. Im Dezember 1943 ging das Grafische Viertel in Flammen auf, verbrannten Millionen Bรผcher, verschwanden ganze Druckerei- und Verlagskomplexe in Trรผmmern. Das heutige Grafische Viertel ist nur noch ein Schatten des Vergangenen. Doch fรผr Kai Meyer ist es auch ein Ort der Sehnsucht und der Phantasie. Und ein magischer Ort, an dem sich die Schicksale kreuzen. Schicksale von Menschen, deren Welt die Bรผcher sind.

Vielleicht ist es eine besondere Spezies. Heute erst recht, wo immer mehr Menschen glauben, der Dauerblick auf ihr Taschentelefon wรผrde die intensive Beschรคftigung mit der Welt, ihren Gefahren, Schรถnheiten und Abgrรผnden ersetzen. Abgrรผnde, die immer wieder aufbrechen โ€“ mitten im Frieden, mitten hinein in eine eigentlich funktionierende Welt, die aber die einsamen Mรคnner an der Spitze nie interessiert.

Und so wetterleuchten auch die groรŸen Katastrophen des 20. Jahrhunderts immer wieder hinein in Kai Meyers Erzรคhlungen, die dann im Leipziger Grafischen Viertel kulminieren.

Mit โ€žDie Bibliothek im Nebelโ€œ legt er schon seinen zweiten Roman vor, in dem Leipzigs Buchdruckerviertel zur Bรผhne dramatischer Ereignisse wird. Der erste war vor einem Jahr โ€žDie Bรผcher, der Junge und die Nachtโ€œ.

Ein magischer Ort

Auch das war eigentlich schon ein Krimi, in dem sich die Jahrzehnte auseinander liegenden Zeitschichten durchdrangen und die Antworten tief verschรผttet in der Vergangenheit lagen. Eben in jenem Grafischen Viertel, das nicht nur in den farbreichen Schilderungen von Kai Meyer ein ungewรถhnlicher Ort ist. Und ein verschwundener.

Und damit eine Art magisches Land, an dem sich die Phantasie des Schriftstellers entzรผndet, der schon aus eigener Profession weiรŸ, wie unheimlich faszinierend Bรผcher, Bibliotheken und riesige, lรคrmende Druckereien sind. Denn sie leben immer vom Geheimnis der Geschichten, die zwischen den Buchdeckeln verschlossen sind.

Je mehr Bรผcher, umso mehr Geschichten. Und so entzรผndet sich auch Liettes Neugier an einer geheimnisvollen Bibliothek, eben jener Bibliothek im Nebel in einer Villa an der Cรดte dโ€™Azur, die sich Jahrzehnte zuvor der Leipziger Verleger Frederick Eisenhuth eingerichtet hat, dort, wo er mit seiner Familie regelmรครŸig den Urlaub verbrachte, bis der Erste Weltkrieg diesen Reisen ein Ende setzte.

Viele Jahre spรคter schaut die elfjรคhrige Liette durch die Milchglasscheiben der Villa in diese Bibliothek, ist vรถllig fasziniert, ahnt aber nicht, wie sehr sich ihr eigenes Leben schon in Kรผrze รคndern wird.

Und wie sie dabei in die Geschichte von Menschen geraten wird, die ihrerseits wieder mit dieser Villa und der Verlegerfamilie Eisenhuth zu tun haben und Ereignissen im fernen Leipzig im noch viel ferneren Jahr 1917. In Leipzig ein Hungerjahr. Seit drei Jahren herrscht Krieg und eigentlich ist schon lange klar, dass Deutschland diesen Krieg verloren hat. Die Verkrรผppelten und Ausgehungerten auf den StraรŸen Leipzigs erzรคhlen eine klare Botschaft.

Es ist das Leipzig, in dem der aus St. Petersburg geflรผchtete Artur nach einer gefรคhrlichen รœberfahrt รผber die Ostsee ankommt. In Russland ist Revolution und die Familie seines Onkels Alexej Kalinin, in der der von Bรผchern begeisterte Junge Aufnahme gefunden hat, wurde ermordet. Sein eigenes Leben ist in Gefahr, so dass die Flucht zur befreundeten Verlegerfamilie, wo Mara โ€“ die Adoptivtochter der Kalinins โ€“ seit drei Jahren lebt, wohl der beste Ratschlag ist, den Arturs Freund Spiridon ihm geben konnte.

Die unfassbare Mara

Mara, in die Artur verliebt ist, seit er sie auf der StraรŸe in St. Petersburg zum ersten Mal gesehen hat. Eigentlich ist es Maras Geschichte, die Kai Meyer erzรคhlt, auch wenn sie ihm im Winter 1917 regelrecht aus dem Bild gerรคt und wie ein Phantom durch die Jahre geistert โ€“ Heiratsschwindlerin? Giftmรถrderin? Malerin? Rรคcherin? Das wissen auch Liette, die Besitzerin des Hotels โ€žTrois grรขcesโ€œ und der eigentlich gar nicht mysteriรถse Thomas Jansen nicht, der sein Leben eigentlich schon der stillen Rache an den einstigen Tรคterinnen des deutschen NS-Regimes gewidmet hatte.

Nun aber hat ihn Liette geradezu ein bisschen erpresst dazu, mit ihr die geheimnisvolle Mara zu finden, um eine Geschichte zu Ende zu bringen, die nicht nur sie selbst seit Jahren umtreibt.

Man merkt schon, aus welchem Antrieb heraus ein Kai Meyer seine 70 Romane geschrieben hat: So einer will und muss erzรคhlen. Und er hรคlt es โ€“ wie seine Leserinnen und Leser โ€“ nicht aus, dass eine Geschichte ohne Ende bleibt. So wenig wie der gealterte Polizist, der Liette und Thomas dann doch noch auf die richtige Spur bringt.

Eigentlich das รคlteste Erzรคhlmotiv der Welt: Wir wollen immer wissen, wie die Sache ausgegangen ist. Sonst lรคsst sie uns keine Ruhe. Auch dann nicht, wenn wir schon ahnen, dass es dabei in tiefste menschliche Abgrรผnde hineingeht und eigentlich nur verhรคngnisvolle Vorgรคnge dafรผr gesorgt haben kรถnnen, dass irgendetwas in jenem fernen Leipzig von 1917 geschah, das die Schicksale der Personen, die nun im Jahr 1957 auf die Suche gehen, beeinflusst.

Alles hรคngt mit allem zusammen. Wer wรผsste das besser als ein Erzรคhler wie Kai Meyer, auch wenn es die Verlegerfamilien, die er auftreten lรคsst, so in Leipzig von 1917 nicht gab.

Den SpaรŸ kann man sich ja machen und findet auch tatsรคchlich drei Eisenhuths im Leipziger Adressbuch: einen Hilfsschaffner, einen Schriftsetzer und einen Gerichtsvollzieher.

Einmal durchs richtige Grafische Viertel laufen

Aber darum geht es ja auch nicht. Auch die Eisenhuths stehen fรผr Kai Meyer ja eher stellvertretend fรผr eine einst europaweit ausstrahlende Buchstadt mit Verlagsinhabern, die tatsรคchlich reich waren wie die Eisenhuths, zur noblen Gesellschaft der Stadt gehรถrten, Politik machten und ihre Bรผcher vom Eilenburger Bahnhof in alle Welt versendeten.

Man spรผrt den tief sitzenden Wunsch des Autors, er hรคtte damals durch dieses ganz besondere Leipziger Viertel laufen kรถnnen, mitten im Herz der Buchwelt, wo sich Druckereien, Verlage und Buchhandlungen eng aneinander drรคngten, wo die Druckerpressen auch die Nacht zum Schwingen brachten und die Schlote qualmten. Das war das Leipzig, das tatsรคchlich niemals schlief und das die Welt mit dem spannendsten Stoff versorgte, den Leserinnen und Leser kennen: immer neuen Bรผchern.

So wie โ€žUmbra vitaeโ€œ, den nachgelassenen Gedichten von Georg Heym. Die natรผrlich nicht 1917 bei Eisenhuth herauskamen, sondern 1912 bei Rowohlt โ€“ aber eben auch in Leipzig. Hier hatte ja Rowohlt seinen ersten Verlag gegrรผndet. Die tatsรคchlichen Verlegergeschichten Leipzigs sind als Blaupause immer prรคsent, wenn Kai Meyer seine eigenen Verlegerfamilien auftreten lรคsst โ€“ natรผrlich wesentlich dramatischer. Denn er weiรŸ auch, dass Bรผcher auch verhรคngnisvolle Ereignisse auslรถsen kรถnnen. So wie in dieser Geschichte ein uraltes Werk namens โ€žNarrenbibelโ€œ.

Aber es sind immer Menschen, die Grenzen รผberschreiten, die รผbergriffig werden und verhรคngnisvolle Ereignisketten in Gang setzen. In diesem Fall sogar im fernen, abgelegenen Karelien, woher Mara kommt, die hinter ihrer faszinierenden Fassade eine eigene Leidensgeschichte mit sich trรคgt, die sie im spรคteren Leben so handeln lรคsst, wie sie es tut. Auch weil sie wieder Menschen begegnet, die anderen fortwรคhrend versuchen ihren Willen aufzuzwingen.

Starke Frauengestalten

Auch darum geht es bei Meyer. Und deshalb stellt er auch starke Frauengestalten wie Mara, Liette und Arturs Cousine Ofelia in den Mittelpunkt der Handlung. Frauen, die sich nichts gefallen lassen wollen, die sich wehren gegen die รœbergriffigkeit von Mรคnnern und vor allem eines wollen: ein selbstbestimmtes Leben. Und die es dabei โ€“ wie Mara โ€“ immer wieder auch mit Mรคnnern zu tun bekommen, die das nicht akzeptieren wollen. Frauen, die aber eben auch ihre tatsรคchliche Liebe opfern.

So wie in diesem Roman, der eigentlich die lebenslange Liebesgeschichte von Mara und Artur erzรคhlt, die zuletzt mit einem gewaltigen Brand in einem verlassenen Kloster in Karelien endet.

Auch wenn es nicht ganz das letzte Kapitel ist, denn mit Grigori โ€“ den die Leser schon aus โ€žDie Bรผcher, der Junge und die Nachtโ€œ kennen โ€“ kehrt man am Ende in das noch unzerstรถrte Grafische Viertel zurรผck. Es beginnt also quasi schon die nรคchste Geschichte, auch wenn sie aus Sicht von Liette und Thomas in der Vergangenheit liegt.

das weiรŸ man ja nun, nachdem man praktisch immer wieder aus einem Zeitstrahl in den nรคchsten geworfen wurde, dass Geschichten immer miteinander verknรผpft sind. Und dass es die linearen Erzรคhlungen, mit denen die Politik ihr Publikum zumeist verwรถhnt, in der Realitรคt so nicht gibt.

Die Realitรคt ist verknรผpft, verzwickt und zwiespรคltig. Gut und Bรถse gehen manchmal eine teuflische Liaison ein. Oft genug faszinierten gerade die teuflischen Niedertrรคchtigkeiten der Menschen, noch viel mehr aber die Begegnungen, deren Anlรคsse den Handelnden verborgen bleiben. Erst spรคter begreifen sie โ€“ wie es Artur immer wieder passiert -, was wirklich geschehen ist. Was in seinem Fall noch viel beรคngstigender ist, weil auch die zaristische Ochrana in seinem Leben ihr Unwesen treibt.

Und wie das bei Geheimdiensten so ist: Ihre Rolle auรŸerhalb aller geltenden Gesetze macht sie auch zum Sammelbecken gefรผhlloser Charaktere, die im Mantel der Allmacht ihr eigenes Sรผppchen kochen und nur zu gern Schaden anrichten, der fรผr Generationen von Menschen รผble Folgen hat.

Was Bรผcher gar nicht vertragen

Es gibt also auch ein paar richtig finstere Gestalten in dieser vielschichtigen Geschichte, die mit dafรผr sorgen, dass die Dinge aus dem Ruder laufen oder gar Unschuldige ihren Tod finden, bevor etwa Liette und Thomas dann tatsรคchlich auf die Spur von Mara stoรŸen, ahnend, dass sie mรถglicherweise zu spรคt kommen.

Aber wie das so ist: Stellvertretend fรผr die Leserinnen und Leser mรผssen sie das Ende dieser Geschichte finden. Es liegt freilich nicht in der Bibliothek im Nebel, von der Buchliebhaber sowieso schon wissen, dass auch die beste Buchsammlung so viel Feuchtigkeit nicht รผberlebt. Das Ende liegt in Karelien. Aus Maras Sicht dort, wo alles anfing.

Wรคhrend Besucher des heutigen Grafischen Viertels nun wohl noch ein wenig misstrauischer durch die StraรŸen des Quartiers gehen werden, vielleicht auf der Suche nach einem Hausemblem mit Merkurflรผgeln und Eule. Vielleicht gab es die Eisenhuths ja doch?

Es ist das groรŸe Vielleicht, was vom Grafischen Viertel รผbrig geblieben ist. In dem lauter Geschichten Platz finden, die sich dann im Kopf eines Autors entfalten, der genau weiรŸ, dass Bรผcher magisch sind. Und Menschen sich danach sehnen, Teil eine richtigen, aufregenden Geschichte zu werden. Deshalb liest man ja Bรผcher, oder?

Kai Meyer โ€žDie Bibliothek im Nebelโ€œ, Knaur Verlag, Mรผnchen 2023, 24 Euro.

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