Eigentlich geht es gar nicht (nur) um Sex. Jedenfalls nicht nur. Aber es stimmt schon: Wer über Sex spricht, der spricht über den Kern einer Gesellschaft. Die Heimlichkeiten und die Lügen, das Verdrängte, Sanktionierte und Verbotene. Da kann eine Gesellschaft werbetechnisch noch so sehr mit Sex und Freizügigkeit protzen. Das ergibt weder guten Sex noch Liebe. Und so taucht Christine Koschmieder in ihrem neuen Buch ab in Bereiche, die wir alle schamhaft verbergen.
Es ist im Grunde die Fortsetzung von „Dry“, in dem die Autorin, Übersetzerin und Literaturagentin erzählte, warum sie sich freiwillig in eine Suchtklinik begeben hatte, um vom Alkohol wegzukommen. Alkohol spielt auch im „Schambereich“ eine Rolle. Denn er begleitete die Erzählerin über Jahre immer dann, wenn es eigentlich um Sex ging. Und um Nähe. Also um das, was notwendig ist, wenn dann am Ende ein paar quirlige Kinder entstehen sollen.
Auch wenn es die Vergnügten meist nicht wegen der Kinder machen, sondern des Vergnügens wegen, der Freude aneinander. Oder wegen des Alkohols, der noch immer hilft, Hemmschwellen abzubauen. Im Guten wie im Bösen.
Die Kontrollfunktion der Scham
Aber wenn eine beginnt, sich mit dem zu beschäftigen, worüber sie sich schämt überhaupt zu reden, dann geht es nicht nur um Sex. „Eine Funktion von Scham ist und war ganz klar, dafür zu sorgen, dass in unserer Gesellschaft niemand zu sehr aus der Reihe tanzt und alles seine Ordnung hat (und behält)“, schreibt sie und zitiert dann Wikipedia.
„In allen Gemeinschaften sind Formen der Demütigung, die ein gezieltes Auslösen von Schamgefühlen anderer Personen in erzieherischer oder feindseliger Absicht darstellen, eine scharfe soziale Sanktion. Bis ins 19. Jahrhundert wurden Beschämungen in Form von Schand- und Ehrenstrafen gezielt als Machtinstrument der Staatsgewalt eingesetzt. Verurteilte wurden an einen Pranger gefesselt und schutzlos den Schmähungen der Passanten ausgesetzt.
Heute ist die Redewendung, jemanden an den Pranger zu stellen, für öffentliche Bloßstellungen in den Sozialen Medien und der Presse gebräuchlich.“
Den nächsten Satz lässt sie dann aber weg: „Umgekehrt gilt das Schützen der Mitmenschen vor Scham und Verlegenheit als Form der Höflichkeit und ist ein Ausdruck von Respekt.“
Ein Zitat, das schon ahnen lässt, dass Scham nicht nur ein gesellschaftliches Produkt ist und sich auch nicht nur auf den Auftritt in der Öffentlichkeit reduziert. Denn diese Trennung gibt es ja für uns Menschen nicht. Uns wird früh der Blick auf uns anerzogen. Und das machen anfangs nicht die Richter, Polizisten, Lehrer und Vorgesetzte, sondern unsere Eltern.
Und zwar nachhaltig, wie auch Christine Koschmieder feststellen muss, als sie tiefer hinabsteigt in die „Sumpfgebiete der Seele“. Denn unsere Eltern sind es, die uns zuerst zurückspiegeln, wer wir sind und wie wir sind. Und das Wesentliche passiert in den ersten beiden Lebensjahren, in denen Kinder dieser Spiegelung zutiefst bedürftig sind.
Sie sind darauf angewiesen, auf alle ihre Signale und Kontaktaufnahmen ein Feedback zu bekommen. So lernen sie. So lernen sie aber auch, ob sie geliebt werden. Ob sie so, wie sie sind, akzeptabel sind.
Der Schutzpanzer des Ich
Als Menschen sind wir dringend darauf angewiesen. Aber dass die deutsche Gesellschaft darin einen gewaltigen Knacks hat, ist eigentlich bekannt. Es hat nicht nur – aber sehr viel – mit dem deutschen Faschismus zu tun. Im Kapitel „Gespräche, die niemand führen will“ kommt Koschmieder darauf zu sprechen.
„Das Erbe, um das weder unsere Väter noch unsere Mütter herumkommen, sind ihre eigenen Eltern, und die Erziehung, die sie ihnen verpasst haben. Fast alle sind Kriegs- und Nachkriegskinder, die pädagogischen Konzepte, die auf sie angewendet wurden, speisen sich aus der NS-Pädagogik …“
Eine Pädagogik, mit der sich ja bekanntlich auch Alice Miller auseinandersetze in Büchern wie „Am Anfang war Erziehung“.
Aber auch Alice Miller ist ja ein Beispiel dafür, wie selbst Menschen, die sich intensiv mit diesen frühen Prägungen beschäftigen, blind dafür sind, wie sie diese Prägungen selbst weiterleben. Weil es eben ganz tief unten liegt. In den Bereichen, in denen wir eigentlich geschützt und ganz wir selbst sein sollten. Bereiche, denen sich Christine Koschmieder auch in der psychologischen Beratung, die sie in Anspruch nimmt, nicht wirklich nähern kann.
Auch wenn sie so langsam ahnt, wie viel das mit ihren Eltern, besonders ihrer Mutter zu tun hat, die selbst zeitlebens in einem Kampf gegen den eigenen Körper verstrickt war.
Ablehnung und Annahme passieren nun einmal über das Körperliche. Und in den frühen Lebensjahren lernen wir, ob wir ganz angenommen werden. Hier entstehen unser Körpergefühl und unser Selbstverständnis dafür, dass wir genau so, wie wir sind, geliebt und gemocht werden. Oder lernen es eben nicht, weil es auch unsere Eltern nicht leben konnten.
Und selbst nicht leben durften, weil das über Generationen nicht üblich war, nicht erwünscht und nicht akzeptiert. Wer die Wurzeln dafür sucht, darf bei den Nazis nicht stehenbleiben. Die sind mit ihrer auf Härte zielenden Erziehung selbst auch nur die Produkte einer von Verboten, Gewalt und Zucht geprägten bürgerlichen Gesellschaft, die sich ihre Gefühllosigkeit nie eingestehen konnte. Eigentlich bis heute nicht.
Es geht nicht nur um Sex
Das ist ein Seitenstrang, den Christine Koschmieder nicht weiter aufspult. Das wäre ein eigenes dickes Buch mit historischen Belegen wert. Aber wer mag, kann ja einfach die Kindheitsszenen in Heinrich Manns „Der Untertan“ nachlesen. Szenen, die schon sehr plastisch zeigen, wie aus diesem Knaben Diederich am Ende ein Mann wird, der Nähe nicht aushält, Menschen nicht respektiert und seine Unfähigkeit zur Liebe hinter Bramarbasieren und Dicketun versteckt.
Und das pflanzt sich fort. Auch dann, wenn junge Eltern alles anders machen wollen. Die 1968er-Revolte war ja auch ein Aufstand gegen diese verklemmte, zu Härte und Verdrängung erzogene Elterngeneration. Aber Christine Koschmieder erzählt eben auch davon, dass damit eine Revolte nicht abgetan ist. Denn unsere Gesellschaft hat bis heute nicht aufgehört, reglementierend in unseren Schambereich einzugreifen.
Und damit auch in die Selbstbestimmung des Menschen, insbesondere der Frauen. Das Gezerre um den § 218 ist dafür bis heute das eklatanteste Beispiel. Natürlich geht Christine Koschmieder darauf ein. Als Frau und Mensch – richtig wütend.
Eine Wut, die natürlich direkt mit ihrer eigenen, alten Wut zu tun hat, die sie ja mit dem Besuch im Schambereich auch wieder frei lässt. Denn was hat sie eigentlich all die Jahre wirklich gehindert daran, Nähe wirklich zuzulassen? Sich auf Menschen einzulassen? Die Freude am Geliebtwerden tatsächlich zu empfinden? Es geht nicht nur um Sex.
Beim Sex wird es eben nur allzu offensichtlich, wie die Kontrollleuchten in unserem Kopf anschalten, die vor allem auf einen selbst gerichtet sind und das eigene Erscheinungsbild, das eigene Dasein und Erleben unter strengste Observanz stellen. Weshalb eine Menge Deutsche schlechten Sex haben. Oder gar keinen.
Die kontrollierte Gesellschaft
Und meine Vermutung ist auch: Deshalb haben wir auch eine derart verknöcherte Sozial- und Familienpolitik. Und wählen auch jedes Mal, wenn Wahlen sind, die konservativen Kontrolleure, Aufpasser, Bevormunder und Ordnungsmacher. Die alten Aufpasser, die für alles erst einmal eine Genehmigung in x-facher Ausfertigung ausreichen und Grenzkontrollen für das Mittel der Wahl halten. Wir leben in einer kontrollierten Gesellschaft.
Und das hat eine Menge damit zu tun, dass eine Menge von uns nie, niemals bereit sind, die Kontrolle aufzugeben. Auch nicht, wenn es zum Beischlaf kommt. Da, wo man als Mensch am verletzlichsten ist, wo ein falsches Wort, eine falsche Reaktion genügen. Erst recht dann, wenn man – wie Christine Koschmieder – gelernt hat, jede Reaktion der anderen zu werten und auf sich zu beziehen. Und damit als Bewertung (und Abwertung) der eigenen Person zu begreifen.
In vielen Passagen hat man natürlich das Gefühl – jetzt zieht sie wieder eine Schleife. Wahrscheinlich, weil es zu hart wird, zu sehr an die innersten Gefühle geht. Die man ja tief in sich verschließt, wenn man so mit einem völlig verkorksten Selbstbild ins Leben entlassen wurde. Es passiert ja dann nicht nur beim Sex, dass der innere Aufpasser die Scham-Klaviatur spielt und die Geplagten mit dem Gefühl kämpfen müssen, immerzu bewertet, kritisch beäugt und nicht wirklich akzeptiert zu werden.
Auch dann, wenn es beim Partner/der Partnerin gar nicht so ist. Die ihrerseits vielleicht sogar mit denselben Hemmungen und Unsicherheiten kämpfen.
Es passiert eben auch im Alltag, wo man sich dann alle Äußerungen, die einen verraten können, tunlichst verkneift. Am Beispiel ihrer Mutter kann es Christine Koschmieder sehr genau beschreiben. Und eben auch, was das mit ihr selbst gemacht hat. Denn wenn man das, wofür einen andere vielleicht kritisieren, ablehnen, verachten könnten, immerfort versteckt, dann wird man zur Maske.
Dann zensiert man sich selbst. Und wird – logische Folge – für andere unsichtbar. Jedenfalls was diesen innersten, um Liebe ringenden Teil unserer Seele betrifft. Statt gesehen und geliebt zu werden, sorgt man für Irritationen und Distanz.
Unsichtbar
Da ahnt die Autorin schon, woran sie eigentlich zu knabbern hat. Denn gerade nach der Suchttherapie wurde ihr auch klar, wie viel Intensität in ihrem Leben fehlte. Der Schutzpanzer schützt nur scheinbar vor Verletzungen, auch wenn er in der distanzierten Kindheit vielleicht sogar geholfen hat. Und auch danach. Es gibt ja genug Situationen, in denen man es tatsächlich mit übergriffigen Menschen zu tun hat – und sich wehren muss.
Oder wenigstens sein Innerstes beschützen, damit zumindest das möglichst unbeschadet aus der Sache hervorgeht.
Aber gleichzeitig verhindert dieser Schutzpanzer eben auch, dass man sich geliebten Mitmenschen tatsächlich zeigen und öffnen kann. Und am Ende dasteht, mit dem blöden Gefühl, dass man nicht gesehen wird. Ignoriert wird gerade dann, wenn man das größte Bedürfnis nach Wahrgenommenwerden hat.
„Ich dagegen will mich nicht zum Verschwinden bringen, ich will sichtbar sein“, schreibt Christine Koschmieder.
„Will berühren und berührt werden. Ich will Raum beanspruchen. Ich will, dass man bei und mit mir sein will, meine Nähe sucht, sich mit mir auseinandersetzt. Trotzdem schreibt sich das großmütterliche und mütterliche Erbe in mir fort. Auch ich habe Teile dieser Selbstzensur verinnerlicht, den tief sitzenden Zweifel daran, mich nach selbstverständlichen Dingen sehnen zu dürfen.“
Verklemmte Gesellschaft
Und es ist eben nicht nur das Erbe der Mütter und Großmütter. Es ist auch die Verklemmtheit einer Gesellschaft, die mit Sex (und schönen Frauen) zwar alles Mögliche verkauft, das aber, wonach sich die meisten Menschen sehnen, mit Scham und Zensur belegt: richtige menschliche Nähe, Vertrauen, Akzeptanz.
Und das Bodyshaming ist nur die oberste Schaumschicht auf dieser Kultur des Schambelegten, dessen, was man nicht zeigen darf, wenn man sich nicht verletzlich und angreifbar machen will.
Und das betrifft eben Frauen genauso wie Männer, falsche weibliche und männliche Rollenmuster. Und die Not, die sich lebenslang fortpflanzt, wenn Kinder schon in frühesten Jahren erleben, dass sie eigentlich stören, zu viel Aufmerksamkeit wollen. Oder gar die volle Akzeptanz durch ihre Eltern.
Man kann wie Christine Koschmieder bei sich selbst anfangen und versuchen, die Kruste aufzubrechen. Und auch selbst anfangen, sich anderen offen, verletzlich und berührbar zu zeigen.
Wie eine Gesellschaft aussehen könnte, in der das normal wäre, können wir uns noch gar nicht vorstellen. Respektvoller auf jeden Fall. Denn Respekt erwächst mit dem Wissen und Fühlen, dass der andere Mensch immer auch selbst verletzlich ist und – auch verbale – Grenzüberschreitungen immer verletzten, verstören und zerstören.
Man muss sich nur umschauen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie weit wir von einer respektvollen Gesellschaft noch entfernt sind.
Christine Koschmieder „Schambereich. Über Sex sprechen“, Kanon Verlag, Berlin 2023, 20 Euro.
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