Auf den Freitag, 20. Oktober, können sich alle freuen, die schon 2021 mit Witold Szabłowski neugierig in die Speisepläne diverser weltberühmter Diktatoren geschaut haben. Parallel erschien da in Polen schon sein nächster Band, von dem selbst Witold Szabłowski nicht ahnen konnte, wie brandaktuell er sein würde. Oder vielleicht doch. Denn wer einen Blick in die Kreml-Küche wirft, bekommt die blutige russische Geschichte quasi obendrauf.
Zumindest die des vergangenen Jahrhunderts. „Heute wäre das Schreiben dieses Buches nicht mehr möglich“, schreibt Witold Szabłowski im Vorwort. „Ich dürfte weder nach Russland noch nach Belarus einreisen. Und wenn man mich hineinließe, dann nur, um mich zu verhaften, weil ich das schreiben würde, was Sie hier lesen.“
Mit der russischen Polizei und dem Geheimdienst bekam er es trotzdem des Öfteren zu tun. „Ich habe ‚Die Köche des Kreml‘ nur zu Ende bringen können, weil sich niemand in Wladimir Putins Land vorstellen konnte, dass die Mechanismen der Macht – Putins und seiner Vorgänger – so gut anhand der Küche dargestellt werden können.“
Und damit 100 Jahre brutaler russischer Geschichte, in der Menschenleben keinen Wert hatten, die Herrscher im Kreml oft fürstlich auftafeln ließen, auch dann, wenn das ganze Land hungerte, und mit Essen nicht nur Politik gemacht wurde, sondern auch immer wieder aufs Neue versucht wurde, ganze Völker zu dezimieren.
Die Ukrainer können nicht nur ein Lied davon singen, sondern mehrere. Denn mehrfach hat die Moskauer Regierung versucht, das Land auszuhungern. Der Holodomor ist nur die größte und bekannteste Hungerkatastrophe, die die Moskauer Machthaber in der Ukraine organisiert haben.
Was nicht in den Geschichtsbüchern steht
Und Szabłowski ist es tatsächlich gelungen, ein paar hochbetagte Frauen zu finden, die den Holodomor noch als Kind erlebt haben und erzählen können, wie das Unheil damals über die Ukrainer kam. Überhaupt ist es Szabłowskis Stärke, Menschen zum Reden zu bringen und erzählen zu lassen. Denn sie wissen, was nicht in den Zeitungen und Geschichtsbüchern steht.
Im besten Fall waren sie selbst mit dabei und man bekommt die authentische Sicht auf Ereignisse, deren Schrecken in historischen Abhandlungen nicht wirklich zu erfassen ist. Und Schrecken gab es jede Menge in diesem riesigen Land, meist ordentlich verbrämt von großen Parolen und falschen Legenden.
So wie die um Wladimir Putins Großvater, Spiridon Putin, den der gelernte KGB-Mann in einem Interview, als es darum ging, die Nachfolge Jelzins anzutreten, gleich mal zu einem der Köche Stalins machte. Eine Legende, die wohl genauso wenig stimmt wie das meiste andere, was Moskauer Propagandisten dem Volk und der Welt erzählen.
Szabłowski weiß das und sucht deshalb auch keine offiziellen Stellen auf. Er sucht die Leute, die als Köchinnen und Köche selbst dabei waren. Köche wissen, was die Mächtigen auftafeln – und was sie tatsächlich essen. Sie wissen aber auch, wie es der Mannschaft geht.
So wie die Köchin, die aus ihrer Zeit in Afghanistan berichtet, oder die Köchinnen, die gleich nach dem Reaktorunfall nach Tschornobyl geschickt wurden, um die Aufräummannschaften zu bewirten – Menschen, die dem Tod geweiht waren und das auch wussten. Und auch von den Köchinnen überlebten viele diesen Einsatz nicht.
Und doch begegnet Szabłowski herzlichen, offenen Frauen, die ihm erzählen, mit wie viel Herzblut sie ihre Kantine betrieben und versuchten, den Arbeitern wenigstens das Essen zu einer kleinen Freude im Grauen zu machen. Wo die Mächtigen versagen, sind es die Menschen vor Ort, die dann mit Liebe und großem Einsatz das Beste versuchen draus zu machen für diejenigen, die dann ihre Suppe essen, ihre Teigtaschen und Salate.
Das große Fressen von Jalta
Das ist quasi die große Dreingabe in Szabłowskis Buch, dass er zu jedem Kapitel russischer Geschichte auch ein paar Rezepte beisteuert, meist direkt von den Frauen und Männern, die damals gekocht haben. Manchmal auch aus zweiter Hand, denn einige der Köche und Köchinnen aus dem innersten Zirkel der Macht, die Szabłowski vorstellt, sind natürlich schon lange tot – so wie Iwan Charitonow, der Koch des letzten Zaren, der der Zarenfamilie so ergeben war, dass er sich mit den Romanows zusammen hat erschießen lassen.
Oder wie Schura Worobjowa, Lenins Köchin, von der nur noch ein verwaschenes Foto existiert. Um sie herum erzählt Szabłowski freilich auch von Lenins Ernährung, die über Jahrzehnte schlecht gewesen sein muss und möglicherweise Grund für seine schwere Erkrankung und den frühen Tod war.
Ein Aspekt, der in den üblichen Lenin-Biogtrafien selten bis nie erwähnt wird. Um das Menschliche, das uns alle verbindet, kümmern sich die Historiker in der Regel nie. Also auch nicht um die Ernährung der ach so historischen Großen.
Dafür thematisiert es Szabłowski – nicht nur bei Lenin, sondern auch bei Stalin, Chruschtschow, Breschnew, Gorbatschow. Er erzählt von Leibköchen, die es bis heute gibt, weil es beim Bekochen der Mächtigen auch um ihren Schutz geht. Man erfährt von den verschiedenen Kreml-Küchen, die es gab, von den vertraglich gebundenen Gütern, die sie mit Zutaten belieferten.
Aber auch von jenem Moment in Jalta, als Stalin seine alliierten Gäste mit einer überladenen Tafel so beeindruckte, dass sie im Anschluss nur zu bereit waren, ihm alle Zugeständnisse zu machen. Eine üppige Tafel als historischer Moment, der dann nicht nur die Zukunft der Polen und der anderen Osteuropäer für 45 Jahre bestimmte, sondern auch die der Ostdeutschen.
„Festessen auf Jalta“ hat Szabłowski dieses Kapitel genannt, in dem Stalins Koch Sascha Egnetaschili die wichtigste Rolle spielt. Den hat Szabłowski schon in einem vorhergehenden Kapitel vorgestellt und seine Geschichte erzählt, wie er aus Georgien in den Kreml kam. Was ihm Leid nicht ersparte.
Denn seine Frau wurde schon mit Kriegsbeginn eines der Opfer des blutigen Geheimdienstchefs Beria. Wer in Stalins Nähe arbeitete, war nicht geschützt. Aber gerade weil Szabłowski das so detailliert erzählt, wird auch deutlich, warum Macht in Russland so brutal und herzlos ausgeübt wird.
Was aßen die Soldaten und was die Kosmonauten?
Manchmal auch ohne jedes Nachdenken über die Folgen – so wie bei dem Versuch, in Afghanistan einen Regime Change zu organisieren. Da war auch Moskau nicht die Spur klüger als Washington. Ausbaden müssen es die Soldaten, die in den Krieg geschickt werden, der schon damals nicht Krieg heißen durfte.
Das Herumgeeier mit „Spezialoperationen“ hat eine lange Tradition. Und das Verheizen junger Männer im Krieg ebenso. Im Kapitel „Exhumierung“ begleitet Szabłowski Männer aus Russland auf der Suche nach den Resten russischer Gefallener aus dem Zweiten Weltkrieg – und lässt sich dabei auch gleich noch die Geschichte der Mannschaftsversorgung im Krieg erzählen.
Wie ernährt sich eine Militäreinheit mitten im Vormarsch? Und was müssen die Köche alles wissen, wenn die Einheit nicht hungern soll?
Nicht alle Geschichten beschäftigen sich direkt mit den bitteren Herrschern im Kreml. Mit Fejna Kasetskaja stellt Szabłowski auch die Köchin vor, die einst nicht nur Juri Gagarin, den ersten Kosmonauten, sondern die ganze Mannschaft der frühen Kosmonautengarde bekochte.
Auch Weltraumfahrer müssen essen. Auch im Orbit. Und die Russen waren logischerweise auch die ersten, die sich professionell mit der Verpflegung in der Schwerelosigkeit beschäftigen mussten und als erste auch eine Fabrik auf die Beine stellten, die nach und nach immer mehr Gerichte für die Weltraumfahrer herstellte.
Russland ist ein in seinen Extremen zutiefst verstörendes Land. Auf der einen Seite erobert es mit dem Wissen eines Ziolkowski und des (lange im Gulag eingesperrten) Koroljow den Weltraum. Und dann wieder treffen sich drei trinkfreudige frisch gewählte Präsidenten einstiger sowjetischer Teilrepubliken zum Jagdausflug im Białowieża-Urwald, wo einst auch Chruschtschow jagte.
Doch was sie am Ende unterzeichnen, ist der Leichenschein für die Sowjetunion. Ein Moment, der am Ende der Anfang all der Kriege und Konflikte war, die heute rund um Russland brennen. War das gewollt? Oder war es das Ergebnis von zu viel Alkohol?
Jedenfalls ist man mit Witold Szabłowski immer wieder mitten im Brennpunkt politischen Geschehens – gesehen aus der Sicht der Köchinnen und Köche, die den Mächtigen das Essen zubereiteten. Oder die immer wieder neu anfangen mussten, wenn sie zuvor in die Mühlen sowjetisch-russischer Politik geraten waren, so wie die Krimtataren.
Das Misstrauen der Mächtigen
Witold Szabłowski hat schon recht, dass er die Mechanismen der Macht offenlegt, wenn er einfach losfährt und nach den Köchen sucht, die die Mächtigen bekochten. Die manchmal ein Leben lang im Kreml lebten, manchmal auch auf den Landsitzen agierten, auf denen sich Stalin, Breschnew und Lenin erholten. Und man erfährt auch, wie weit die Tradition der Kreml-Küche in die zaristische Vergangenheit reicht. Und wie mit überladenen Tafeln historische Entscheidungen forciert wurden wie in Jalta.
So nebenbei erfährt man aber eben auch, wie ein ganzes Riesenreich immerfort in falsche Träume gewiegt wurde, die Menschen lange und innigst an den Kommunismus glaubten – und damit auch an die Lügen, mit denen die Untaten der Mächtigen nur zu gern zu „Kinderkrankheiten“ erklärt wurden.
Die Macht der Männer im Kreml baute nie auf Vertrauen auf. Wer dort an die Hebel kam, vertraute niemandem. Konnte auch niemandem vertrauen. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Wer dem Volk, das er alle Nase lang im Mund führt, nicht vertraut, ist auf seine Schergen, Bulldoggen und Zöllner angewiesen, die rücksichtslos durchsetzen, was ihnen befohlen ist.
Und nicht nur einmal bekommt Witold Szabłowski so einen Satz zu hören: „Der Kommunismus ist wegen Leuten wie diesem Zöllner mit dem Bulldoggengesicht untergegangen.“ Die das sagt, war bis zum Afghanistan-Krieg selbst überzeugte Kommunistin. Und hat alles geglaubt, was die Propaganda in die Welt posaunte.
Die Botschaft gedeckter Tische
Und so nebenbei merkt man, wenn Witold Szabłowski erzählt und erzählen lässt, dass es in diesem riesigen Reich nie wirklich um Kommunismus ging, sondern stets nur um die Macht einiger Männer im Kreml, die ihr Misstrauen als Stahlglocke über das ganze Land gelegt haben und für die es nie etwas Wichtigeres gab als ihren Machterhalt und die Durchsetzung ihrer Interessen. Die Leute da draußen waren ihnen immer herzlich egal.
Es ist ein an vielen Stellen erschütterndes Buch, das seine Leserinnen und Leser mitnimmt in Momente der russischen Geschichte, die selbst beim Lesen nur schwer auszuhalten sind. Es zeigt Geschichte aus einer Perspektive, die mit den Lobhudeleien für die Mächtigen nichts zu tun hat.
Es zeigt die Mächtigen eher von ihrer anderen Seite, manchmal sogar menschlich. Aber vor allem zeigt es die Perspektive der Menschen, die Geschichte immer aushalten müssen und die wissen, was Hunger ist und welch eine Bedeutung eine reich gedeckte Tafel hat, mit der man Gäste bewirtet. Eine Tafel, wie sie Witold Szabłowski immer wieder vorgesetzt bekam.
Die nach jedem Kapitel zu findenden Rezepte laden regelrecht dazu ein, nicht nur die Küche des Kreml und einige ihrer Stargerichte kennenzulernen, sondern auch die unvergleichlichen Gerichte all der Nationalitäten, die mit Szabłowskis Reise ins Bild kommen.
Es sind jetzt nur noch zwei Tage, bis das Buch in die Buchläden kommt. Offizieller Erscheinungstermin ist der 20. Oktober.
Witold Szablowski Die Köche des Kreml Katapult Verlag, Greifswald 2023, 26 Euro.
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