Die Erfindung des Meißner Porzellans war eine Team-Leistung, auch wenn meist nur Johann Friedrich Böttger im Zentrum dieser Sachsen-Geschichte steht, manchmal wird auch noch Ehrenfried Walther von Tschirnhaus genannt. Aber wer entwickelte die Glasuren? Die Farben? Verfeinerte die Rezepturen? Verbesserte die Öfen? Annick Klug versucht in ihrem Roman, die Geschichte eines dieser Männer zu erzählen, die des ehemaligen Bergmanns Samuel Stöltzel.

Er gehörte zu den sechs verpflichteten Freiberger Bergknappen, die 1706 auf die Meißner Albrechtsburg kamen, um bei Böttger zu arbeiten. Im Lauf der Zeit eignete er sich selbst das nötige Wissen um die Porzellanherstellung an, sodass er nach seiner Flucht 1719 aus Meißen nach Wien selbst eine Manufaktur aufbauen konnte. Freilich kehrte er bald wieder nach Dresden zurück, denn nach Böttgers Tod brauchte es für die Manufaktur erfahrene Leute.

Wirklich viel weiß man über sein Leben nicht. Dazu lag der Fokus der Überlieferung viel zu lange auf dem verhinderten Goldmacher Böttger, der erst ganz zum Schluss eine gewisse Freiheit wiedererlangte und sich unter den völlig ungenügenden Arbeitsbedingungen auf dem Königstein, der Dresdner Bastei und der Albrechtsburg eine schwere Erkrankung einhandelte. Die ließ ihn schon mit 37 Jahren sterben.

Berge glorioser Sachsen-Geschichten

Inzwischen liegen nicht nur Berge von Büchern, die sich an der Geschichte des vom sächsischen König August gefangen gehaltenen Goldmachers ergötzen, da wie Ballast. Längst sind auch Filme und Dokumentationen dazugekommen, welche die sächsische Erfindergeschichte in meist düsteren, geheimnisvollen Rauchschwaden zeigen. Wie aber war es wirklich?

Da wird es kompliziert. Auch wenn es um das Schicksal von Samuel Stöltzel geht. Annick Klug strickt seine Lebensgeschichte ganz in der Tradition vieler historischer Romane um eine Liebesgeschichte – die Liebe zur Kammerzofe Sophie, die er im Haus des Bergrats Gottfried Pabst von Oheim kennenlernt, der wiederum in der Porzellangeschichte eine tragende Rolle spielt.

Aber sie können zusammen nicht kommen. Denn Samuel lässt sich überreden, nach Meißen zu gehen. Das Versprechen gegenüber Sophie bleibt uneingelöst. Doch wenig später geht auch Sophie nach Meißen, wo eine Verwandte ein kleines Gasthaus betreibt. Doch immer wieder verfehlen sich die beiden. Und wenn sie sich doch wiedersehen, ist es doch nicht der richtige Zeitpunkt.

Wobei immer auch die ungeklärte Situation in der Manufaktur eine Rolle spielt. Denn es dauert ewig, bis das Porzellan tatsächlich auf der Leipziger Messe ausgestellt wird und die Manufaktur beginnt, Geld abzuwerfen. Eigentlich ein andauerndes Zuschussgeschäft, wo doch König August erwartet hatte, dass das Porzellan ihm die Mittel in die Kassen spült, die er dringend braucht. Vor allem für seine Kriegszüge.

Kriegerische Zeiten

Denn das alles überlappte sich. Böttger und sein Laboratorium mussten auch deshalb immer wieder umziehen, weil Sachsen im Krieg mit den Schweden war und das Königreich immer wieder auch von schwedischen Truppen besetzt wurde. August der Starke war kein wirklich erfolgreicher Kriegsherr. Und seine Ambitionen auf den polnischen Königsthron waren teuer, sodass er ja den aus Preußen geflohenen vermeintlichen Goldmacher Böttger extra aus Wittenberg entführen ließ, damit der für ihn ein paar Millionen Goldtaler produzierte.

Eigentlich eine Geschichte der Narretei und der schummrigen Abwege der frühen Aufklärung, die auch die alten Legenden der Alchemie noch lange Zeit ernst nahm – bis wirklich endlich die Grundlagen der modernen Chemie gelegt wurden. Und dass Böttger seinen Lebensrest nicht mit völlig sinnlosen Goldexperimenten vertrödelte, war eigentlich Tschirnhaus zu verdanken, dem es tatsächlich um nützliche Materialien ging, die man in Manufakturen herstellen konnte.

Das klingt nur beiläufig an. Und hat wahrscheinlich in der Begegnung mit Böttger völlig anders stattgefunden, als es Annick Klug schildert. Es ist eine hohe Kunst, historische Romane so zu schreiben, dass auch die Auftritte historisch verbürgter Persönlichkeiten glaubwürdig herüberkommen und man den Atem der Geschichte tatsächlich spürt.

Falscher Glanz

Und gleichzeitig auch merkt, wie das Leben tatsächlich war. Auch in jenem frühen 18. Jahrhundert, das in der sächsischen Selbstdarstellung immer wieder glorifiziert wird, natürlich auf der Königsebene, das „goldene Zeitalter August des Starken“. Das aber seine Untertanen als hartes Zeitalter erlebten – von den 80.000 sächsischen Soldaten, die aus seinen Kriegen nicht zurückkamen, ganz zu schweigen.

Der Glanz des barocken Dresdens, das unter August dem Starken entstand, trügt über die tatsächlichen gesellschaftlichen Klüfte hinweg. Annick Klug reduziert diese Distanzen. Lässt den König gar samt Gräfin Cosel in das rußige Laboratorium Böttgers spazieren, um quasi der Entstehung des ersten richtigen Porzellans beizuwohnen (und eine sehr heutige partnerschaftliche Verstimmung zu erleben).

Die Autorin lässt Böttger gar direkt mit der Cosel korrespondieren, was für weitere Verwicklungen in der königlichen Liebe sorgt.

Während Constantia von Cosel in dieser Zeit auch noch den tiefen Sturz erlebt, der aus der Mätresse des König die Gefangene auf Burg Stolpen macht. Eine Geschichte weiblichen Selbstbewusstseins in einer Zeit, da selbstbewusste Frauenrollen eigentlich noch nicht vorgesehen waren. Auch nicht am Hof Augusts des Starken, den die Nachwelt bis heute verklärt.

Job frisst Liebe

Aber eigentlich erzählt Annick Klug eine heutige Geschichte, wenn sie die Liebesgeschichte von Samuel und Sophie als eine Geschichte des Nicht-zueinander-Kommens erzählt. Und schuld daran ist ausgerechnet Samuels Arbeit als Porzellaner, sein inniges Verhältnis zu Böttger – und immer kommt etwas dazwischen, ist noch irgendetwas zu machen in dieser Manufaktur, die aus undurchschaubaren Gründen einfach nicht auf die Beine kommt.

Mal fehlen die richtigen Rohstoffe. Dann wieder sind Rechnungen nicht bezahlt, liegt der ganze Betrieb still, scheint einer der Aufseher sein eigenes Süppchen zu kochen.

Ausreden über Ausreden. Es verblüfft schon, dass sich Sophie das 13 Jahre lang gefallen lässt. Und ausharrt. Und am Ende einen anderenMann heiratetet. Eigentlich ist Samuel ein Workaholic ganz im modernen Sinn, einer, dem das Arbeiten an seinem großen Projekt immer wichtiger ist als das schlichte Bekenntnis zu Sophie und die Gründung einer eigenen Familie.

Das ist heutiges Denken. Man vergisst das so leicht, dass Arbeit erst mit der modernen, kapitalistischen Wirtschaftsweise diese seltsame Stellung in unserem Leben bekommen hat und viele Männer tatsächlich glauben, sie bräuchten diese komplette Aufopferung für ihren Job, um sich selbst zu bestätigen.

Da fällt dann schon auf, dass Klug ihren Böttger am Ende einsam sterben lässt, obwohl er in Wirklichkeit Familie hatte und diese auch nach Sachsen nachkommen ließ. Es ist im Grunde ein Riss in der Geschichte, der sichtbar macht, wie schwer es uns aus 300 Jahren Distanz inzwischen fällt, uns in die Menschen und ihr Denken im Augusteischen Zeitalter hineinzuversetzen.

Ein Denken, in dem viel Menschliches viel selbstverständlicher war als heute, wo wir tatsächlich unsere ganze menschliche Nähe und Geborgenheit einem Mythos opfern, einem falschen Glück, könnte man auch sagen.

Kein Happyend

Sodass dieser Roman eigentlich eine traurige Geschichte ist, eine, die ahnen lässt, was unsere moderne Welt und die Beziehungen der Menschen zueinander so kaputt gemacht hat. Denn dass sich Sophie 13 Jahre lang derart vertrösten lässt, das fasst man nicht. Nicht wirklich. Denn hier steckt die Frage nach dem, worum es im Leben eigentlich geht.

Und die Antwort lautet schlicht: nicht ums Goldmachen.

Und auch nicht um die falschen Träume der Könige von Glanz und Gloria. Eigentlich ist es an der Zeit, all die vergoldeten König-August-Geschichten gründlich auseinanderzunehmen, die bis heute als glänzende Tünche über der sächsischen Selbstvergewisserung liegen. Und über der Geschichte vom sächsischen Porzellan, das sich eigentlich nur Könige leisten können. Geht man tatsächlich andächtig durch Augusts überbordende Porzellansammlungen?

Wohl eher nicht. Nicht nur fleißige Hausfrauen fragen sich da eher: Wer putzt das eigentlich alles? Wer wäscht das alles ab? Eine Brechtsche Frage, so betrachtet. Wer fütterte bei Böttger die Brennöfen? Wer zermörserte die Erden? Wer fertigte die Gefäße? Wer bemalte sie?

Ein wenig versucht das Annick Klug mit der Geschichte um Samuel Stöltzel zu beleuchten. Wenngleich wenn man spürt: Auch Fantasie hat ihre Genzen. Was die Zeitgenossen nicht akribisch in Akten und Briefen aufgezeichnet haben, müssen sich Romanautorinnen und -autoren dann irgendwie ausmalen, die Lücken der Überlieferung füllen und sich irgendwie einfühlen in das Leben einer Zeit, die tatsächlich sehr weit weg ist.

Und überformt sowieso, von Legenden, von denen eigentlich erst einmal das Blattgold abgeschabt werden muss, um wenigstens eine Ahnung von den tatsächlichen Ereignissen in Sachsen zwischen 1706 und 1720 zu bekommen. Das wohl eher – um mit Mark Twain zu sprechen – ein vergoldetes Zeitalter war und kein goldenes.

Und mit Geld umgehen konnte auch August der Vielgepriesene nicht wirklich. Da wäre ihm ein Goldmacher schon recht gewesen. Aber dieses Denken ist auch so vergangen nicht, wie wir wissen. Im Angesicht heutiger Krypto-Börsen und ihrer dubiosen Macher merkt man schnell, dass, wenn es ums Goldmachen geht, die Narren in Scharen gerannt kommen, die Könige begierig werden und die Projektemacher ihre Laboratorien beheizen.

Der goldene Schein einer falschen Welt …

Obwohl das, wovon Menschen träumen, etwas ganz anderes ist. Auch wenn es Samuel am Ende nur noch im Konjunktiv denkt. Irgendwann werde Sophie ihn bewundern …

Der Arme, möchte man sagen.

Aber die Narretei ist ganz unsere heutige, wie wir wissen.

Annick Klug „Der Porzellaner“, Lübbe, Köln 2023, 18 Euro.

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