Das Gejammer über den wirtschaftlichen Niedergang ist ja derzeit überall zu lesen. Es korrespondiert so schön mit der politischen Frustration, die sich allgemein breitmacht. Dass ausgerechnet die Ampel-Regierung daran schuld sein soll, daran glauben nur noch die konservativen Glaubensbrüder im Land. Aber woran liegt das Gefühl des Stillstands tatsächlich? Genau damit beschäftigen sich Philip Banse und Ulf Buermeyer in diesem Buch.
Tatsächlich befassen sich der langjährige Reporter und der Jurist schon seit mehreren Jahren mit diesem Thema in ihrem wöchentlichen Podcast „Lage der Nation“.
Da machen sie das, was gute Journalisten eigentlich immerzu machen müssten: Sie versuchen herauszubekommen, warum Dinge nicht funktionieren. Elementare Dinge, die unser Leben beeinflussen, unsere Gesellschaft, die Funktionsweise unseres Staates.
Und da sie sich Woche für Woche thematisch fokussieren, kommen sie auch vielen Ursachen auf den Grund, die dafür sorgen, dass wir heute im Grunde vor dem Scherbenhaufen deutscher Politik stehen. Das sind jetzt meine Worte.
Aber das Buch ist nicht grundlos sofort in die „Spiegel“-Bestseller-Liste aufgestiegen, wo es nur einem anderen Buch den Vortritt lassen muss: Dirk Oschmanns „Der Osten, eine westdeutsche Erfindung“. Und das ist kein Zufall.
Demolierte Demokratie
Das hat alles miteinander zu tun, denn es sind falsche Bilder und Frames, die dafür sorgen, dass sich die ganze Nation jahrelang mit falschen Lorbeeren geschmückt und die Augen verschlossen hat vor den Folgen falschen Tuns.
Und politischer Eitelkeiten und Machtverliebtheit. Das kommt quasi noch obendrauf, ist aber für vieles der Grund. Wenn auch nicht so, wie es die immer mehr zum Boulevard gewordenen Medien täglich erzählen.
Denn was wir heute an scheinbar dilettierendem Politiktheater erleben, ist das Ergebnis einer Fehlentwicklung, die auch 1958 schon begann, als das Bundesverfassungsgericht – so interpretieren es nicht nur Banse und Buermeyer – eine fatale Fehlentscheidung traf und die Kompetenzen des Bundesrates massiv überdehnte.
Eigentlich räumte das Grundgesetz dem Bundesrat (wo die Länderregierungen zusammensitzen und über ihre föderalen Rechte wachen) nur ein Mitspracherecht in allen Gesetzesbelangen ein, die direkt auf Handlungshoheit der Länder einwirken.
Das sollte mal verhindern, dass der Bund in die Hoheit der Länder hineinregiert. Weshalb alle Gesetze, die auch in Länderbelange eingreifen, vom Bundesrat bestätigt werden müssen. Und zwar mit einem mehrheitlichen „Ja“.
Doch immer mehr hat sich der Bundesrat nicht nur zum Blockierer von Bundesgesetzen entwickelt und sich ein regelrechtes Vetorecht angeeignet (das es so im Grundgesetz gar nicht gibt).
Und das hat deutsche Politik zu einem seltsamen Konstrukt gemacht, in dem inzwischen nicht mehr erkennbar ist, wer eigentlich für die aktuelle Politik verantwortlich ist.
Wie dieser Mechanismus im Bundesrat funktioniert, bei dem selbst Minderheiten, die in diversen Landesregierungen mitregieren, in der Lage sind, Bundesgesetze zu stoppen, erklären die beiden Autoren im Kapitel „Mehr Macht wagen“.
Eigentlich ein Kapitel, das ein eigenes Buch wert gewesen wäre. Denn in diesem Kapitel schildern die beiden, wie die Stimmabgabe der Deutschen bei Bundestagswahlen regelrecht entwertet wird, weil über den Bundesrat immer auch die Opposition mitregiert und in der Lage ist, durch ihr – angewöhntes – Vetorecht sämtliche Gesetze der gerade regierenden Koalition zahnlos zu machen oder in ihr Gegenteil zu verkehren.
Denn wenn die Regierungskoalition Gesetze überhaupt noch durchbekommen will, muss sie sich auf mühsam ausgehandelte „Kompromisse“ mit dem Bundesrat einlasen, die aber in Wirklichkeit dazu führen, dass die gar nicht in die Regierung gewählten Parteien ihre Interessen trotzdem durchdrücken können.
Als Beispiele nennen die Autoren die seinerzeit radikal verschärfte „Hartz IV“-Gesetzgebung, welche die damalige Schröder-Regierung so ursprünglich gar nicht vorhatte. Und dasselbe ist jetzt wieder mit dem Bürgergeld passiert.
Frustrierte Wähler
Nur dass die Wähler die „faulen“ Gesetze dann ausgerechnet den Parteien anlasten, die gerade regieren. Die Einmischung der Opposition wird unsichtbar.
Der Makel bleibt an der jeweiligen Regierung hängen. Die Blockierer und heimlichen Mitregierer sieht man nicht.
Was dann eben nicht nur eine regelrecht in faulen Kompromissen versumpfte Politik ergibt, sondern auch das nur zu berechtigte Gefühl der Wähler bestätigt, dass Wählen nichts bringt.
Man bekommt doch keinen richtigen Politikwechsel serviert, sondern immer wieder dasselbe fade Gericht, mit dem die eigentlich nicht in die Regierung gewählte Opposition trotzdem rücksichtslos ihre Interessen durchsetzt.
Schon allein für dieses Kapitel hätte sich das Buch gelohnt. Sie hätten auch noch viel mehr Baustellen thematisieren können, schreiben Banse und Buermeyer.
Aber das hätte das Buch völlig gesprengt. Deshalb haben sie sich auf einige Baustellen beschränkt, die gerade hochaktuell sind und dringend, wirklich dringend einer Lösung bedürfen.
Das geht mit der zerbröselnden Infrastruktur in Deutschland los (Straßen, Brücken, Schulen …), weil das ach so reiche Deutschland seit über 30 Jahren zu wenig Geld in Infrastruktur investiert.
Lieber haben reihenweise Finanzminister in Bund und Ländern den Wählern das Jammerlied von der „schwäbischen Hausfrau“ vorgesungen, Neuverschuldungsverbote erlassen und das schäbige Lied von der „Schwarzen Null“ gesungen und den Bürgern eingeredet, es wäre einfach nicht genug Geld da, um all das zu bezahlen.
Stattdessen habe man einen Berg von zwei Billionen Euro an Schulden. Man müsse also sparen, sparen, kürzen.
Ein Lied, das der im Buch mehrfach befragte aktuelle Bundesfinanzminister auch singt. Während er den beiden durchaus neugierigen Autoren im Gespräch erklärt, warum man reichen Leuten in Deutschland keine Vermögens- und Erbschaftssteuern zumuten könne.
A-soziale Vermögen
Doch dabei sprechen sämtliche statistischen Erhebungen zu diesem Thema eine andere Sprache, denn seit der Abschaffung der Vermögenssteuer, der Senkung des Spitzensteuersatzes und den vielen Ausweichtatbeständen bei der Erbschaftssteuer tragen die Reichen und Superreichen im Land immer weniger zum Allgemeinwohl bei.
Dafür sind die Vermögen in Deutschland in astronomische Höhe gewachsen – über 9 Billionen Euro, die aber eben nicht der Allgemeinheit gehören, sondern zu über 60 Prozent dem reichsten Zehntel an der Spitze. Die Hälfte der Deutschen besitzt quasi nichts – außer vielleicht noch einen Berg an Schulden.
Die meisten Bundesbürger leben also eher von der Hand in den Mund, sind froh, wenn das Geld nicht vor Monatsende alle ist – und schauen natürlich frustriert auf eine Politik, die mit ihnen quasi nichts mehr zu tun hat.
Das – so stellen Banse und Buermeyer zu Recht fest – untergräbt das Vertrauen in die Demokratie dauerhaft. Denn alle diese Frustrierten sind das ideale Wählerpotenzial für populistische Parteien.
Und nicht nur die. Denn mittlerweile bröselt auch der Mittelstand. Und da wird es brandgefährlich, denn diese Menschen haben dann echte Abstiegsängste.
„Ein Land hat Schlagseite“ haben die beiden das Kapitel überschrieben, in dem sie die zunehmende Ungleichheit thematisieren. Und natürlich fordern sie, dass es – wie unter Adenauer – wieder deutlich höhere Abgaben für die Reichen gibt.
Denn wenn sie ihre Reichtümer der Gesellschaft entziehen, dann fehlt dieses Geld allerorten. Die Finanzminister tun so, als wäre Deutschland kurz vorm Bankrott.
Und die Menschen erleben vor ihren Augen, wie Verwaltungsleistungen immer schlechter werden, ihre Kommune in die Schulden gerät, Straßen und Brücken bröckeln oder gleich gesperrt werden, weil sie nach 60, 70 Jahren Betrieb eigentlich neu gebaut oder saniert werden müssten.
Land der bröselnden Brücken
Das wird gleich in Kapitel eins thematisiert: „Das Land der bröselnden Brücken“. Denn wenn ein Land seit Jahrzehnten die Steuerabgaben der Reichen gesenkt hat und damit auf Milliarden Euro im Haushalt verzichtet in der – letztlich falschen – Annahme, die Reichen würden das zusätzliche Geld dann von selbst wieder investieren, dann summieren sich die Minderausgaben in Infrastrukturen.
Dann fehlen Jahr für Jahr hunderte Milliarden, die ein reiches Land wie Deutschland eigentlich permanent investieren müsste, um die Infrastrukturen auf neuestem Stand zu halten. Vom flächendeckendem schnellen Internet ganz zu schweigen.
Und das hat auch Auswirkungen auf unsere Verwaltungen, über die sich mittlerweile nicht nur deutsche Witz-Sendungen lustig machen, wenn Kleintransporter gebraucht werden, um Bauanträge für Windkraftanlagen von einem Amt zum nächsten zu verfrachten oder selbst Ehen, Ummeldungen oder Unternehmensanmeldungen in einem bürokratischen Papiermarathon enden, weil deutsche Verwaltungen über keine einheitliche Verwaltungs- und Archivsoftware verfügen.
Was dann wieder mit dem Föderalismus zu tun hat, wie ihn deutsche Landesregierungen verstehen.
Und keineswegs überraschend bietet die Deutsche Bahn ein ähnliches Bild. Hier war der Grund die völlig verpeilte Privatisierung in der Kohl-Ära, die aus einem auf Subventionen angewiesenen Staatsbetrieb einen privatrechtlichen Moloch gemacht hat, der sich aber inzwischen – wie die Autoren feststellen können – völlig jeder Kontrolle und Steuerung durch den Eigentümer entzieht.
Der nach wie vor der Bund ist, nachdem mehrere Versuche, das defizitäre Unternehmen an die Börse zu bringen, noch knapp vor Schluss gestoppt werden mussten.
Die Fitmachung für die Börse hat vor nämlichallem zu einem geführt: dem Rückbau ganzer Gleistrassen, der Stilllegung von Bahnhöfen und einem rigiden Sparen bei Personal und Material.
Mit dem Ergebnis, dass heute riesige Teile des Gleisnetzes marode sind und die Bahn tatsächlich einen Investitionsstau von fast 90 Milliarden Euro angehäuft hat.
Ein eklatantes Beispiel dafür, wohin neoliberales Wirtschaftsdenken führt. Es demoliert die Güter, die eigentlich der Allgemeinheit nutzen sollen und – wie die Bahn – nun in der Mobilitätswende dringend gebraucht werden.
Komplettversagen bei Bildung und Windkraft
Falsches Denken hat dann auch unter den diversen Merkel-Regierungen dazu geführt, dass der Windkraftausbau in Deutschland fast zum Erliegen gekommen ist.
Auch dem widmen die Autoren ein eigenes Kapitel. Und es überrascht auch nicht, dass auch das Bildungssystem in den Fokus rückt, auch das über Jahre kaputtgespart und zu einem System verkommen, in dem Kinder aus armen, sogenannten „bildungsfernen“ Familien kaum noch Chancen haben, in überfüllte Schulen gehen, mit überforderten und ausgebrannten Lehrerinnen und Lehrern.
Und eigentlich schon mit der „Bildungs“-Empfehlung nach der vierten Klasse erleben, wie sie aussortiert und ihnen im Leben immer größere Steine in den Weg gelegt werden.
Und das in einem Land, das keine großen Rohstoffvorkommen hat und dringend auf jeden klugen Kopf und jede gut ausgebildete Fachkraft angewiesen ist. So demoliert Deutschland seine eigene Zukunft.
Und zwar systematisch, wie dann im Kapitel „Arbeiten bis zum Umfallen“ geschildert wird, wo Banse und Buermeyer einfach erzählen, wie eine Regierung nach der anderen mit faulen Kompromissen zur Rente dafür gesorgt hat, dass das deutsche Rentensystem gerade dabei ist, uns allen um die Ohren zu fliegen.
Das geschieht, während diejenigen, die sowieso nach 40, 45 Jahren Maloche in mies bezahlten Jobs damit rechnen können, dass sie im Alter betteln müssen. Oder weiterarbeiten, bis sie im letzten Job dann tot umfallen.
Ein wenig aus dem Rahmen fällt dann das letzte Kapitel „Bye, bye Happyland“, das direkt an die Leser appelliert und in dem sich die beiden mit dem latenten Rassismus in Deutschland beschäftigen, der heute ja ganze Wahlkämpfe bestimmt, weil nicht nur eine Partei glaubt, ihre Wahlkämpfe ausgerechnet mit dem Thema Flüchtlinge und Migration bestreiten zu müssen.
Obwohl selbst der letzte Handwerksmeister längst begriffen hat, dass er ohne namhafte Zuwanderung keine Lehrlinge und Gesellen mehr bekommt.
Wenn Deutschland nicht wirklich lernt, sich als ein echtes Zuwanderungsland zu begreifen, wird es einfach vergreisen und ziemlich bald in keinem Wettbewerb mehr mithalten können, weil überall, wirklich überall, der Nachwuchs fehlt.
Die Zeit drängt
Was bleibt?
Eigentlich eine große Verstörung, auch wenn man aus der eigenen journalistischen Arbeit weiß, dass das alles nichts Neues ist, was die beiden Autoren hier aufblättern.
Auch ihre Vorschläge, wie alle diese gravierenden Probleme sofort angepackt werden könnten, sind nicht neu.
Nur fehlt es ganz offensichtlich an mutigen Politikerinnen und Politikern, die all diese Dinge tatsächlich anpacken und umsetzen.
Lieber lassen sie sich durch Gejammer von Wirtschaftsbossen vor sich her treiben, die all die vergangenen Jahre bewiesen haben, dass sie im Kopf nicht mehr beweglich sind und nur noch an veralteten Technologien festhalten und glauben, damit würden sie die Zukunft der Nation sichern.
Aber auch dieses Signal senden Banse und Buermeyer mit ihrem Buch aus: Es wird höchste Zeit, dass Politik wieder die Führung übernimmt und aufhört, das falsche Lied vom „Primat der Wirtschaft“ zu singen.
Denn die finanzielle Ausblutung unseres Staates ist längst der Hauptgrund dafür, dass immer mehr Prozesse nicht mehr funktionieren und immer mehr Menschen das lähmende Gefühl bekommen haben, dass Wählen sinnlos ist, weil man ja doch jedes Mal dieselbe alte Soße bekommt.
Während die Superreichen mit ihren riesigen Vermögen schon lange nicht mehr wissen, wohin damit.
Aber das ist dann schon ein anderes Buch, das beschreiben muss, welche verheerenden Schäden verantwortungslos umherirrendes Kapital anrichtet, das sich den Belangen der Allgemeinheit nicht mehr verpflichtet fühlt.
Das Buch kommt bestimmt noch. Aber bis dahin lesen – hoffentlich – möglichst viele gewählte Politikerinnen und Politiker dieses Buch und überlegen sich, was davon als nächstes – und zwar bald – angepackt wird.
Denn auch das spürt man: wie die Uhr tickt und die Zeit abläuft, in der auch nur diese Baustellen in Ordnung gebracht werden können.
Philip Banse, Ulf Buermeyer „Baustellen der Nation“, Ullstein, Berlin 2023, 22,99 Euro.
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