Jedes Jahr eine neue Geschichte. Weihnachtsgeschichte möchte man schon gar nicht sagen, weil das, was in der Edition Chrismon nun seit 2018 erscheint, mit dem, was sonst so als Weihnachtsgeschichte (süß, mit Rosinen, Engeln und Besinnlichkeit) verkauft wird, nichts zu tun hat. Dafür eine Menge mit der Ratlosigkeit, mit der die Bewohner dieses vom Konsum und Geld verstörten Landes diesen Tagen der Besinnung mittlerweile begegnen.

Und das Erstaunliche ist: Es werden jedes Mal faszinierende Geschichten. Die zwar von lauter Menschen erzählen, die mit den Traditionen des von der Werbung gekaperten Weihnachtsfestes nicht mehr viel anfangen können. Die aber dennoch gerade diese seltsamen Tage dazu nutzen, um sich auf die Suche zu begeben nach dem, was immer mehr Menschen wirklich fehlt im Leben.

Und so macht es auch Alice in Susanne Niemeyers Geschichte, die eins auf keinen Fall will: den Weihnachtsabend wieder im Kreis der Familie zu verbringen. Dieselbe Prozedur wie jedes Jahr.
„Ihr Kinderlein kommet – wie alle Jahre am 23.?“ schreibt ihre Mutter. Und bevor sie es sich anders überlegen kann, antwortet Alice: „Dieses Jahr ohne mich. Ich suche den Stall.“

Ihr ist nicht nach Gemütlichkeit.

Die Lüge von der Gemütlichkeit

Ein Wort, das die Deutschen seit 200 Jahren in eine zuckersüße Watte packt. Eigentlich mal ganz anders gemeint, als die Leser noch wussten, was ein Gemüt ist. Und was mit dem heutigen Weihnachtsklimbim wirklich nichts zu tun hat. „Nie hält das Fest, was es verspricht. Alles ist eine Nummer zu groß, die ganze Sehnsucht genauso wie der Topf mit dem Rotkohl und der aufgeblasene Weihnachtsmann, der am Nachbarhaus hängt wie ein Einbrecher.“

Alice will nicht schon wieder zu einem „schlechtgelaunten Klischee“ werden. Und als sie beim Frühstück die Anzeige liest: „Mitreisende gesucht. Bring deinen Rucksack mit. Kein Lametta. C+M+B“, sagt sie zu. Auch wenn sie nicht weiß, wohin die Reise gehen soll und wer die drei eigentlich sind, die sich dann – als Alice mit Rücksack in ihrer Küche aufkreuzt, als Balthasar, Melchior und Caspa entpuppen.

Auch wenn wir in der Geschichte nie wirklich viel über die drei erfahren, die sich als zwei etwas pummelige Männer und eben Caspa erweisen, ohne r bitte, eint die vier dennoch dieselbe Unruhe: Es ist Zeit, etwas zu suchen. Wenigstens loszugehen, immer in Richtung auf das Licht zu. Natürlich so ein bisschen wie in der biblischen Geschichte selbst. Aber sie sind nicht mit Myrrhe und Weihrauch unterwegs. Und dass der eine oder andere tatsächlich ein Kind sucht, kommt auch erst später zur Sprache, als sie schon einige Tage unterwegs sind, an Landstraßen und durch Wälder marschiert sind. Ohne große Worte.

Losgehen ins Ungewisse

Einmal schlafen sie sogar in einem Unterstand für Tiere. Sogar ein Wolf begleitet sie, den Susanne Niemeyer auch zum Sprechen bringt. Es wird also wirklich ein bisschen märchenhaft. Auch wenn es Alice nach und nach ein wenig so geht wie dem Eumel in Sarah A. Besics „Der Eumel auf Abwegen“. Obgleich der Eumel auf dem Jakobsweg unterwegs ist.

Aber wenn der Mensch sich wirklich auf die Socken macht, bestimmt der Weg, wohin es geht. Und er verändert auch die Gedanken. Man kommt nicht nur raus. Man merkt auch, dass das manchmal ein schmerzhafter Prozess ist, einfach aufzuhören, die ganzen Routinen des Alltags zu verlassen. Sich auf das Ungewisse einzulassen. Denn man weiß ja nicht, wo man unterkommen wird, ob es überhaupt eine Herberge am Wegrand gibt.

Deswegen ist ja die Geschichte der drei Könige bis heute so lebendig. Die einfach einem Stern folgen, ohne zu wissen, was am Ziel auf sie wartet. Was eigentlich eins der treffendsten Bilder für unser Leben ist. Denn gerade deshalb gehen so viele los – selbst dann, wenn sie nicht die Bohne gläubig sind. Aber wenn das Gefühl alles verschlingt, dass das eigene Leben keinen Sinn mehr hat, dass man selbst nicht mehr weiß, wohin es jetzt gehen soll, was man eigentlich (noch) will vom Leben – dann packt man am besten den Rucksack und geht los. Und wenn man Begleiter wie Balthasar, Melchior und Caspa findet, ist es umso besser.

Dann ist man nicht allein mit der Suche und hat Begleiter, die genauso wenig wissen, was sie erwarten und befürchten. So wie es im Leben ja auch immerzu ist. Nur dass wir in unserer vom Sitzen und Fahren besessenen Gesellschaft auch gern vergessen, dass wir als Menschen zum Laufen geboren wurden. Wenn wir zu Fuß unterwegs sind, kommt auch unser Kopf wieder ins Gehen, verlässt die eingefahrenen Denkbahnen und das ewige „Du musst! Du musst! Du musst!“

Falsche Versprechen

Wir müssen gar nichts. Egal wie vorwurfsvoll die Prediger des „Du musst“ ihre dummen Sprüche anbringen. Wir müssen auch nicht am Heiligabend unterm Weihnachtsbaum sitzen und Fröhlichkeit vortäuschen, wenn wir nicht froh sind.

Und so begleiten die Leser nicht nur Alice und ihre drei Begleiter durch eine ziemlich verlassene ländliche Landschaft, sondern auch Jockel, den Wirt des Gasthofs „Zur halben Nacht“, der eigentlich nicht wirklich weiß, was er mit seinen Tagen anfangen soll, seit er den Gasthof geschlossen hat. Und den Optiker aus der nahen Stadt, bei dem Jockel eine neue Brille bestellt hat. Nicht zu vergessen die Busfahrerin, die seit Menschengedenken den Bus durch diese einsame Landschaft fährt, auch wenn kaum noch einer mitfährt, seit die Leute sich alle ein Auto gekauft haben.

Und irgendwie hat Jockel das komische Gefühl, dass die Frau schon am Steuer des Busses saß, als er selbst noch ein Schulkind war und mit dem Bus zur Schule fuhr.

Man ahnt schon: Das läuft alles aufeinander zu. Wenn auch mit Ab- und Umwegen. Denn eigentlich hat sich ja jeder in seiner Weihnachtseinsamkeit eingerichtet. Und damit auch beschieden: Diese Gesellschaft wird einem mehr nicht geben. Vielleicht ist das sogar der Grundton der mittlerweile sechs bei Chrismon erschienenen Weihnachtsbücher: Dass die Einsamkeit, die immer mehr Menschen erleben, Produkt einer Gesellschaft ist, in der soziale Beziehungen wertlos erscheinen, nicht vermarktbar – auch wenn es Kuppelsendungen im Fernsehen und Dating-Plattformen suggerieren.

Und natürlich können das auch die teuersten Weihnachtsgeschenke nicht ersetzen. Wie denn? Da gilt bis heute die alte Geschichte vom König Midas. Auch wenn ganz offensichtlich eine Menge Leute nicht verstehen wollen, welche Botschaft in der König-Midas-Geschichte steckt. Geld und Reichtum machen blind. Sie sättigen aber nicht. Und schon gar nicht geben sie dem Leben einen Sinn. So einen, nach dem es sich in den dunklen Tagen am Jahresende zu suchen lohnt.

Kein Kind in der Krippe

Am Ende gibt es auch kein Kind in der Krippe. Daran ist Jockel schuld, der sich zerknirscht daran erinnert, wie er das Paar mit der sichtlich schwangeren Frau vor ein paar Tagen weggeschickt hat. Nicht mal aus Angst, denn die ganze Angstmacherei unserer falschen Prediger, Fremde seien sowieso gefährlich und kriminell, geht ihm erst später durch den Kopf, als er darüber nachdenkt, warum er die beiden eigentlich weggeschickt hat. Ein warmes Plätzchen hätte sich doch gefunden.

Und so ist das, was am Ende alle Akteure in dieser Geschichte zusammenführt (außer den Wolf und die vorlauten Krähen) auch das Resultat von Jockels Verunsicherung über sich selbst und sein Handeln, das er im Nachhinein auch nicht so richtig versteht. Da wird es dann erst recht märchenhaft.

Nicht zu vergessen Herrn Zweifel, der Alice begleitet hat, obwohl sie hoffte, er würde ihr diesmal nicht auf die Nerven gehen. Denn das weiß sie ja irgendwie: dass der Bursche mit seinen ewigen Bedenken zu einem nicht geringen Teil schuld ist an ihrer Ratlosigkeit. Und daran, dass ihr Leben festzustecken schien in einem Alle-Jahre-Wieder. Denn seine besten Argumente holt er immer dann hervor, wenn es mal ein bisschen riskant, ungewiss und unabsehbar wird. Also das passiert, was das Leben tatsächlich erst aufregend und gehaltvoll macht, weil man da was lernt, was Neues kennenlernt und merkt, dass man keine Auster und keine Schnecke ist.

Aber wer die flimmernde Werbewelt jeden Tag wahrnimmt, weiß, dass die Hälfte davon falsche Versprechen sind, und die andere Hälfte ist Angstmacherei. Die natürlich dazu da ist, die Menschen zu ängstlichen Austern zu machen, die sich mit lauter dicken Schutzpanzern aus Versicherungen und Besitz umgeben, nur um dann – unverhofft – in eine Burgmentaltät zu rutschen. Und jede Veränderung da draußen vor der Burg für den Untergang halten. Eine Bedrohung, gegen die man sich nur mit Kopfeinziehen und dem Verrammeln aller Türen, Tore und Grenzen wehren kann.

Ende oder Anfang?

Ja, auch das steckt als Thema am Rand irgendwie mit in dieser Geschichte. Die Leute, die sich selbst belügen, nennen das beschönigend Komfortzone. Und Alice weiß, dass sie das nicht (mehr) will. Dass sie lieber mit den drei anderen losziehen will. Vielleicht weiß ja einer von denen, wo es lang geht und was sich zu suchen lohnt.

Und am Ende findet man dann eben meist etwas anderes und nicht das, was man gesucht hat. Ist die Suche nach dem Kind also nur eine Krücke? Gut möglich. „Wäre das so schlimm?“, fragt Melchior.

Die Frage darf sich dann die Leserin selbst beantworten. Genauso wie die, ob das Ende der Geschichte im Gasthof „Zur halben Nacht“ nun das Ende ist und alle angekommen sind, wo sie hinwollten. Oder es vielleicht gut wäre, auch noch über Silvester weiterzuwandern. Immer nach Osten. Dem Licht entgegen.

Denn eigentlich steckt der Anfang von allem ja tatsächlich in diesem kurzentschlossenen Moment, als Alice sich entschloss, die Weihnachtsroutinen abzusagen und sich ihren Füßen anzuvertrauen. Und drei fremden Menschen, die ihr am Ende vertraut sind, ohne dass alle besonders viel geredet hätten. Denn so beginnt unser Leben. Auch dafür steht die Geschichte. Wir laufen los und wissen die ganze Zeit nicht, wo wir einmal herauskommen und was wir alles finden. Nichts ist verlogener an der Werbung als das Versprechen, unsere Sehnsüchte und Wünsche erfüllen zu können.

Oder gar jenen Sinn stiften zu können, mit dem wir – mit wundgelaufene Füßen, nassen Klamotten und hundemüde – irgendwo auf unserem Weg stehen und merken, wi eviel wir schon erlebt haben. Und dass all das unser Leben war und ist. Und wenn wir uns nicht einlullen lassen, auch weiter bleiben wird. Mit all den umwerfenden Momenten, in denen wir irgendwo ein Dach über dem Kopf finden und Menschen, die uns so nehmen, wir wir sind.

Aber dazu muss man losgehen und sich einlassen auf Wege und Sterne. Und vor allem das Menschliche in den Menschen, die einem die Tür öffnen. Was irgendwie biblisch klingt. Aber manches in der Bibel ist eine Geschichte, die für jedes Leben gilt.

Wer nicht losgeht, wird den Stall nie finden.

Susanne Niemeyer „Zur halben Nacht. Eine Weihnachtserzählung“, Edition Chrismon in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig, Leipzig 2023, 15 Euro.

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