Zuletzt veröffentlichte Wieland Kiess so ein Buch 2018 zum 125. Jubiläum der Universitätskinderklinik. Prof. Dr. Wieland Kiess ist Professor für Allgemeine Pädiatrie der Universität Leipzig und Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin. Doch die drei Corona-Jahre haben ihm noch einmal drastisch vor Augen geführt, wie demoliert das deutsche Gesundheitssystem mittlerweile ist. Das neue Buch ist im Kern eine vehemente Streitschrift.

Denn aus heiterem Himmel kam die Überforderung des deutschen Gesundheitswesens 2020 ganz und gar nicht. Überlastete Krankenhäuser und Intensivstationen, verschobene Operationen, überfordertes Pflegepersonal … all das war absehbar. Denn es ist das Ergebnis von über 30 Jahren falscher Gesundheitsreformen, in denen vor allem lukrative Teile des Gesundheitssystems privatisiert wurden und den für die Grundversorgung benötigten Kliniken eine regelrechte Sparorgie unter dem Label „effizienter“ Betriebsabläufe auferlegt wurde.

Das behauptete Ziel war dabei immer, sogenannte Überkapazitäten abzubauen und „unrentable“ Kliniken zu schließen. Also die Grundversorgung letztlich zunehmend auszudünnen und zu zentralisieren, mit dem bis heute nicht hinterfragten Vorsatz, dabei Kosten einzusparen.

Doch jede neue Jahreserhebung ergab, dass mitnichten Kosten eingespart wurden. Im Gegenteil: Die Gesundheitskosten steigen in Deutschland Jahr für Jahr. Das Gesundheitswesen ist mit über 474 Milliarden Euro Umsatz (2021, 33 Milliarden mehr als 2020) einer der stärksten und profitabelsten Wirtschaftszweige. Nur eben nicht für alle.

Unterfinanzierte Kinderkliniken

Trotzdem erleben die Patienten überfüllte Wartezimmer, langes Warten auf Termine und dringend benötigte Operationen, neuerdings auch Mangel an wichtigen Medikamenten und das zunehmende Verschwinden von Allgemeinärzten aus den Regionen des Landes. Immer mehr Geld – und zwar vor allem das Beitragszahlergeld der Patienten selbst – fließt ins System – doch die Versorgung verschlechtert sich an vielen Orten immer mehr.

Wieland Kiess, der seit über 25 Jahren die Uni-Kinderklinik leitet, betrachtet dieses systematische Problem aus einem sehr speziellen Blickwinkel – nämlich dem der Kindermedizin. Die schon vor Corona völlig unterfinanziert war, was auch die Uni-Kinderklinik innerhalb des Uniklinikums in eine schwierige Situation bringt, denn die hier angebotene Versorgung der jungen Patienten ist seit Jahren „defizitär“.

Ein Wort, das eigentlich nicht passt, weil das Minus in der Bilanz einfach dadurch entsteht, dass die Behandlung der jungen Patienten durch das Budget-System der deutschen Krankenkassen nicht kostendeckend abgebildet wird.

Ganz zu schweigen davon, dass hier noch viel stärker ins Gewicht fällt, was schon in der Erwachsenenmedizin eine Katastrophe mit Ansage ist – dass nämlich all die menschlichen Bestandteile ärztlicher Versorgung nicht in den vorgegebene Budgets enthalten sind. Nicht die Beratungszeit des Arztes, die Zeit, die es braucht, um sich in die Probleme des Patienten einzufühlen und Vertrauen aufzubauen. Aber auch nicht der erhöhte Betreuungsaufwand für die Kinder, die man – anders als Erwachsene – nicht einfach stundenlang sich selbst überlassen kann.

Sie brauchen deutlich mehr menschliche Betreuung, damit sie während der Behandlung nicht die Zuversicht verlieren. Meist bedürfen sie auch der Nähe ihrer nächsten Verwandten, die möglichst auch in der Nähe der Klinik oder gar der Krankenzimmer untergebracht werden müssen.

Teure Lobbys, teure Bürokratie

Es ist zwar ein alter Hut und wissenschaftlich längst erwiesen, stellt Kiess fest, dass alle diese scheinbar kostenlosen Bestandteile der ärztlichen Fürsorge wesentlicher Teil einer guten Therapie und des Behandlungserfolges sind. Aber mit der Budgetierung ärztlicher Leistungen wurde gerade diese wertvolle Zeit der ärztlichen Beratung „unwirtschaftlich“ gemacht. Ärztliche Beratungen wurden zur Fließbandarbeit im Minutentakt. Patienten erleben das als ein Abgehandeltwerden. Und selbst niedergelassene Ärzte verzweifeln an diesem unmenschlichen BWL-Denken in der täglichen Praxis, wie 2019 der Leipziger Arzt Göran Wild in seinem Buch „111 Gründe, kein Arzt zu werden“ emotional niederschrieb.

Das Problem aber, wie Wieland Kiess feststellt: Es ist so, dass eben nicht die eigentlich betroffenen Mediziner die Strukturen des deutschen Gesundhheitssystems bestimmen, sondern finanzstarke Lobbyverbände, die unberatenen Politikern seit Jahren die falschen Rezepte für eine „effiziente“ Medizin einreden. Dazu kommen einflussreiche Großkonzerne, die immer neue teure Technik und eine für den Arzt unüberschaubare Zahl immer neuer Medikamente in den Markt drücken, ein Heer von über 500 verschiedenen Krankenkassen, die alle einen eigenen Verwaltungsapparat unterhalten. Und – nicht zu vergessen – teure Kassenärztliche Vereinigungen, die ihrerseits wieder Pfründe zu verteidigen haben.

Also geht es die ganze Zeit – wie auch in der aktuell wieder gestarteten Kampagne zur „Krankenhausreform“, bei der das Netz der Kliniken weiter ausgedünnt werden soll – um simple Effizienzparameter, weitere „Verschlankungen“ der Grundversorgung. Und damit eine deutliche Verschlechterung der Versorgung, ohne dass am Ende wirklich Geld eingespart wird. Denn darum geht es ja nicht. Es geht um Umverteilung.

Oder um Wieland Kiess in einem seiner Beiträge in diesem Buch direkt zu zitieren: „Anstatt aber über Ergebnisqualität und das medizinisch und gesellschaftlich notwendige Maß der Versorgung zu diskutieren, soll das Krankenhauswesen weiter über rein ökonomische Aspekte durch Unterfinanzierung des Systems reformiert werden. Frei nach dem Prinzip des ‚Survival of the fittest‘ soll erhalten bleiben, was sich trägt und refinanziert.“

Kaputtgesparte Grundversorgung

Nur sorgt das aktuelle System schon dafür, dass selbst die großen, zentralen Kliniken – wie das Uniklinikum oder das Städtische Klinikum Sankt Georg – nicht mehr kostendeckend arbeiten. Der Grund ist simpel: Sie sichern die Grundversorgung der Region und das eben mit Behandlungen, deren Budget klein ist und keine Profite abwirft. Manche Kliniken haben sich deshalb auf die richtig teuren und von den Kassen gut bezahlten Behandlungen spezialisiert.

Aber alle Kliniken, die sich um die abgesicherte Grundversorgung kümmern, machen auf diese Weise Jahr für Jahr „Rote Zahlen“. Das triff auch auf die Kindermedizin zu – wo noch hinzu kommt, dass die kleinen Patienten eben in der Regel keine Privatpatienten sind, mit denen Kliniken gutes Geld verdienen können, sondern von Natur aus Kassenpatienten.

Und da wird das Ganze auf einmal zum moralischen Problem für Ärztinnen, Ärzte und Pflegepersonal, denn man kann und darf die nötige medizinische Versorgung für die Kinder nicht einschränken. Das geht einfach nicht.

Und man verbessert die Situation auch nicht, wenn man kleine, scheinbar „unrentable“ Kinderkliniken schließt und die Eltern dann zwingt, das Kind in der großen zentralen Klinik zu besuchen, die auch nur unrentabel arbeitet, weil man an Kindern keine überteuerten Medikamte ausprobieren sollte, die vielen teuren technischen Geräte lieber sparsam einsetzt und überteuerte Behandlungen, bei denen im Grunde überflüssige Eingriffe praktiziert werden, am besten bleiben lässt.

Wenn es nur noch um Profite geht – und nicht um das Patientenwohl

Und nicht nur für Bürokratie und überflüssige Behandlungen wird in Deutschland Geld verschwendet. Auch wissenschaftlich nie erprobte Behandlungsmethoden wie Homöopathie werden von einigen Kassen bezahlt und entziehen dem System weitere Geldmittel – und zwar in gehörigem Umfang.

Während das medizinische Personal längst auf Kante gespart wurde. Und logischerweise hatten dann in der Corona-Zeit immer mehr Pflegerinnen und Pfleger, aber auch Ärzte und Ärztinnen die Nase voll. Es ist auch seelisch kaum zu ertragen, wenn man in einem heruntergesparten System arbeiten muss, in dem es nur noch um den Profit geht, während das Wohl der Patienten und ihre bestmögliche Versorgung bei der Finanzausstattung schon lange keine Rolle mehr spielen.

Und weil Wieland Kiess das schon 2007 in einem geharnischten Artikel beschrieben hat, hat er ihn auch in dieses Buch mit aufgenommen. Samt einem Bilanzartikel zur Corona-Zeit mit dem deutlichen Titel „Kindermedizin kaputtgespart – Leerbettpauschale“. Denn weil es für das Bereithalten von (Intensiv-)Betten in der Corona-Zeit Geld gab, wurden auch in Kinderkliniken viele Abteilungen lieber stillgelegt, weil es fürs Stilllegen (=Bereithalten) sogar Geld gab, während eine Behandlung der kleinen Patienten defizitär war und weiter ist.

Gewsundheitspolitik in Deutschland …

Es könnte auch anders sein …

Aber Kiess hat sich zusammen mit den Co-Autorinnen und Co-Autoren dieses Buches natürlich auch Gedanken darüber gemacht, wie die entstandenen Probleme gelöst werden könnten. Im Buch findet man eine ganze Liste solcher Vorschläge für Veränderungen, die wirklich gut beratene Gesundheitsminister auch umsetzen können.

Gesundheitsminister, die sich vielleicht auch einmal Gedanken machen über die Folgen von schlechter Gesundheitsversorgung im Kleinkindalter – und nicht lieber von Talkshow zu Talkshow seppeln, um einem eh nur auf Zirkus bedachten Publikum irgendwelche Parolen und falschen Lehrsätze zu vermitteln.

In Leipzig gibt es mitterweile eine breit aufgestellte Forschung zur Kindergesundheit, die sich auch explizit mit der Frage beschäftigt, welche Folge die „ungleiche Verteilung von Risiken und Chancen im Kindesalter“ für das Leben der jungen Menschen hat. Denn so ziemlich alle schweren Leiden, die Menschen im Leben plagen und meist zu früherem Tod führen, werden in der Kindheit angelegt – durch falsche Ernährung, fehlende Bewegung, nicht wahrgenommene Untersuchungen und Arztbesuche.

Und damit auch einem nicht ausgeprägten Wissen um die eigene Gesunderhaltung.

Nachweisbare Folge selbst in der Corona-Zeit: Gerade Kinder aus sozial benachteiligten Familien zeigten noch höhere Anfälligkeit für Übergewicht, für Konzentrationsschwierigkeiten und seelische Belastungsstörungen. Was vorher schon in einer unguten Entwicklung war, weil immer mehr Kinder in einer ungesunden Mediennutzung gefangen sind, hat sich durch Corona und den Zwang, zu Hause ausharren zu müssen, noch verstärkt.

Der Klimawandel kommt jetzt obendrauf

Dazu gibt es natürlich einen genauso ausführlichen Beitrag wie zu den absehbaren Gesundheitsfolgen durch die Klimaerwärmung. Denn die bringt nicht nur alle unsere Ökosysteme an die Belastungsgrenzen, sondern hat auch massive Folgen für die Gesundheit der Menschen – angefangen von den extremen Hitzebelastungen, die schon jetzt die Zahl der Hitzetoten im Sommer steigen lässt, bis hin zu den eindringenden tropischen Krankheitsüberträgern.

Und auch das wird an den – krankheitlich geschwächten – Kindern nicht vorbeigehen. Ganz zu schweigen davon, dass die meisten Kliniken überhaupt nicht darauf eingerichtet sind und Milliarden investiert werden müssten, um die Krankenhäuser klimaneutral und klimaresistent zu machen. Nur: Von welchem Geld, wenn die öffentlichen Kliniken heute schon unterfinanziert sind?

Mir der „LIFE Child Studie“, dem Deutschen Zentrum für Kinder- und Jugendgesundheit und dem Pädiatrischen Forschungszentrum werden auch noch drei Leipziger Projekte zur Forschung in der Kinder- und Jugendgesundheit gesondert vorgestellt. Am Wissen um die nötige und richtige Gesundheitsversorgung für die jungen Patienten fehlt es nicht. Nur an Politikern, die tatsächlich mit den medizinischen Praktikern sprechen und nicht immer nur mit den aufdringlichen Lobbyisten, die aus dem Gesundheitstopf noch mehr Geld für sich und ihre Aktionäre herausholen wollen.

Und dass sich auch die Kindermedizin verstärkt mit dem Thema „Migration und Kindergesundheit“ beschäftigen muss, wird genauso thematisiert wie der jetzt schon spürbare Fachkräftemangel, der sich auch in der Kindermedizin noch verschärfen wird.

Beliebte Berufe systematisch unattraktiv gemacht

Wobei auch dieses Thema mit den vielen völlig verpeilten „Reformen“ zu tun hat. Denn Berufsgruppen wie die der Ärzte, der Apotheker und der Pflegekräfte genießen in Deutschland die höchste Wertschätzung. Diese Berufsgruppen sind so menschlich, dass sie eigentlich Bewerber in Scharen anziehen müssten. Nur genau da, wo es dann tatsächlich ums Wirksamwerden für die kleinen und großen Patienten geht, da wurden die medizinischen Helfer zu Fließbandarbeitern gemacht, wurde ihnen die Zeit und der Raum genommen, sich wirklich um ihre Patienten kümmern zu können, weil sich das „nicht rechnet“ und es dafür kein Budget gibt.

(Obwohl das Gegenteil der Fall ist, denn schlechte Gesundheitsversorgung sorgt eben dann an anderer Stelle für milliardenteure Folgekosten.)

Sodass sich diese beliebten Berufe in Hamsterradberufe verwandelt haben, die gerade Frauen, die diese Berufe eigentlich bevorzugen, abschrecken. Auch weil sie mit hoher physischer und psychischer Belastung einhergehen, sodass gerade Pflegerinnen diesen Job oft nur wenige Jahre aushalten.

Und so erinnert der Titel „Zukunft hat Herkunft“ eben nicht nur daran, wie wichtig eine gute medizinische Versorgung der Kinder für ihre Zukunft ist, sondern auch daran, dass wirklich sinnvolle Reformen im Gesundheitswesen schon lange überfällig sind. Denn es wird Jahre brauchen, die Verbauungen der alten „Reformen“ aufzulösen und wieder den Patienten ins Zentrum der medizinischen Versorgung zu stellen – und nicht die Aktionäre von Großkonzernen, die sich auf dem deutschen Gesundheitsmarkt goldene Nasen und Wasserhähne verdienen.

Wieland Kiess (Hrsg.) „Zukunft hat Herkunft“, Universitätsverlag Leipzig, Leipzig 2023, 36 Euro.

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