Die 14-jährige Etty ist tot. Ermordet. Herausgerissen aus einem Leben, das noch gar nicht richtig angefangen hat. Herausgerissen aber auch aus dem Leben ihrer Mutter Heide und ihrer Freundinnen, die ihr jetzt beizustehen versuchen in einem Moment, in dem gar nichts mehr richtig ist. Es ist das wohl traurigste und erschütterndste Buch, das dieser Tage auf den Buchmarkt kommt. Aber viele werden sich in dieser Geschichte wiederfinden.
Denn es ist auch eine Geschichte über das Unsagbare, die Wortlosigkeit, welche die Betroffenen immer wieder sprachlos macht, auch die Erzählerin. Obwohl sie erzählt. Das ist das Magische, das die Leser in diese Erzählung hineinzieht, die eben weitab vom Krimi-Genre zeigt, was den Menschen passiert, die nun auf einmal mit dem Unfassbaren umgehen müssen. Und das Meiste passiert im Kopf. All jene Unsicherheiten, das Zögern beim Sprechen, weil man nicht nur selbst Haltung bewahren will, nicht selbst den Halt verlieren möchte, weil einem die Trauer den Boden unter den Füßen entzieht. Sondern auch der anderen wegen.
Immerhin ist Heide doch diejenige, die es am schlimmsten getroffen hat, die regelrecht erstarrt in ihrem Schmerz. Was kann man ihr zumuten? Was kann man da sagen, ohne erneut Wunden aufzureißen oder gar zu verletzen?
Eine kaputte Stadt
Dass es Menschen gibt, die nicht einmal merken, wie sie mit dummen, unüberlegte Fragen alle Grenzen der Rücksicht überschreiten, erlebt die Erzählerin später noch am Tag der Beerdigung des Kindes, das – auch das wird klar – für die direkt Beteiligten immer eine Freude, eine Feier des Lebens war. Schon ein bisschen rebellisch, so wie man es mit 14 Jahren nun einmal wird, ein bisschen leichtsinnig. Das Leben ist das Leben. Berlin ist Berlin. Und die schlimmen Nachrichten aus den Medien müssen einen ja nicht selbst betreffen. Oder eine.
Darum geht es letztlich auch. Denn die Erzählerin ist auch wütend. Von diesem schäbigen, abgewrackten Berlin mit den viele kaputten Typen auf der Straße hat sie genauso die Nase voll wie von den viel zu vielen Übergriffen auf Frauen und Mädchen. Als tobte sich hinter der Kulisse dieser Möchtegernweltstadt das alte, gewalttätige und dumme Patriarchat aus, das seine Macht immer nur daraus gewonnen hat, dass es Frauen unterdrückte, vergewaltigte, ermordete. Als stünde es den Männern zu, derart mit Frauen (und Schwächeren sowieso) umzugehen.
Und so tauchen Männer auch eher nur am Rande auf. In keinen wirklich positiven Rollen. Da braucht es eigentlich auch nicht die Aufklärung durch die Polizei, um zu wissen, dass ein Mann der Mörder Ettys war. Ein Typ, der augenscheinlich riesige Probleme im Umgang mit Menschen hat.
Männer, möchte man sagen …
Männer, möchte man sagen. Aber es stimmt ja: Auch Männer spüren, wie rabiat, dumm und dreist sich das nach wie vor in der ganzen Gesellschaft breit macht, was man so leichthin unter dem Wort Patriarchat summiert. Auch wenn es nur all die Eigenschaften sammelt, mit denen zu kleinen und großen Egomanen erzogene Männer auf den Gefühlen anderer Menschen herumtrampeln, beratungsresistent, kaum zur Kommunikation fähig, letztlich verpanzert wie Panzernashörner – und ihre Konfliktlösungen fast immer in Drohung. Eskalation und Gewalt aller Art suchend. Weil ihnen ein anderer Umgang mit Menschen als Schwäche erscheint.
Und das trifft auf die großen „Macher“ zu, die sich im Rampenlicht als die Löser aller Konflikte gerieren. Und es trifft auf die vielen kleinen Lichter zu, die ihre Angst vor Nähe und Gefühlen hinter einer Maske aus Kraft und billiger Unbelehrbarkeit verstecken.
Ein kleiner Abschweif. Aber das gehört dazu. Denn es hat auch mit den vielen kaputten Beziehungen unserer Zeit zu tun, den vielen brutalen Übergriffen von Männern auf Frauen – bis hinein in den Nicht-Schutzraum der Familie. Und das spiegelt Marlen Pelny auch, die ihre Erzählerin als Realisatorin für die Fernsehsendung „Bauer sucht Frau“ arbeiten lässt, wo sie natürlich auf Männer trifft, die ganz offensichtlich gewaltige Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Lebewesen haben, Frauen insbesondere. Zutiefst verschüchtert, aber auch zutiefst unfähig, über sich selbst, ihre Wünsche und Gefühle zu sprechen.
Daraus kann man natürlich Fernsehsendungen machen.
Faule Ausreden
Aber was richtet das mit einer Gesellschaft an, in der es überall solche Männer gibt? Männer, denen bei ihren Wünschen an eine Frau vor allem einfällt, dass sie gut kochen kann und einen großen Busen hat?
Und die dann, wenn es einfach darum geht, Nähe und Mitgefühl zu zeigen, kneifen? Sich lieber mit der Arbeit herausreden. Oder einer blödsinnigen Fernsehsendung, die sie noch sehen müssen?
Und dass das ein historisch gewachsenes Problem ist, wird noch deutlicher, als die Erzählerin ihre Großmutter danach fragt, wie eigentlich der Sex mit Großvater war. Beides passiert parallel – die große Trauer mit Heide und ihrer Schwester Sophie in Berlin, und die Fahrten der Erzählerin zu ihrer Großmutter nach Halle, die für sie so etwas ist wie die letzte wirkliche Verbindung zur Kindheit. Beide verbindet ein sehr inniges Verhältnis. Inklusive einer liebenswerten Burschikosität.
Auch wenn mit dem Besuch am Grab des Großvaters dann der Tod der Großmutter zum Thema wird. Wie nimmt man Abschied vom Leben? Nimmt man es leichter, wenn man so alt geworden ist?
Die beiden schaffen es jedenfalls, auch über Themen zu reden, die für gewöhnlich tabu sind. Und für die Erzählerin sind die Fahrten zur Großmutter auch jedes Mal wie eine kleine Flucht vor der großen Trauer um Etty, die sie in sich verschließt. Irgendwie funktioniert man weiter. Und die drei Freundinnen helfen einander, die notwendigen Dinge zu organisieren – den Termin im Bestattungsinstitut, die Organisation der Trauerfeier, den Termin mit der Psychologin, die Heide in ihrer schweren Trauerbewältigung helfen soll.
All das geschieht einfühlsam. Fortlaufend reflektiert durch die Erzählerin, die eigentlich gerade selbst in einem Lebensumbruch steckt. In ihrer neuen (teuren) Wohnung stehen die Umzugskartons noch unausgepackt. An sich will sie wieder weg aus diesem Moloch Berlin, der die Frauen verschlingt und die Angst, dass übergriffige Täter in der Dunkelheit lauern, allgegenwärtig macht.
Die schlimmen Tage
Und man trauert mit ihr. Taucht – während sie erzählt – ein in die dunklen Tiefen der Ratlosigkeit, der Wut und der eigenen Betroffenheit. Marlen Pelny macht miterlebbar., wie das ist, wenn ein geliebter Mensch aus der eigenen Umgebung einfach verschwindet, ein junges Leben so sinnlos endet. Dann sitzt nicht nur die Mutter da mit all ihrer bleiernen Verlorenheit, sondern auch die Freundinnen. Und eigentlich auch die Leser. Denn indem man quasi der inneren Stimme der Erzählerin zuhört, ist man selbst mittendrin. Und kämpft in Gedanken dieselben Kämpfe aus, zögert, beißt sich auf die Zunge und merkt, dass es manchmal wirklich keine Worte gibt.
Nur noch das unbedingte Füreinander-da-Sein, das über die schlimmsten Tage hilft.
Auch wenn die schlimmen Tage noch nicht wirklich vorbei sind, wenn die Erzählerin trocken feststellt: „Gleichzeitig werden wir viel zu wach sein für Dinge, die andere gar nicht bemerken. Wir werden sehen, wenn ein Mann ein Kind falsch ansieht oder gar berührt. Überhaupt werden wir Männer schwer ertragen.“
Die zutiefst persönliche Geschichte ist auch eine Geschichte über den miserablen Zustand unserer Gesellschaft, in der die alten, übergriffigen Vorstellungen des Patriarchats noch immer lebendig sind und weiter gären. Nicht nur in tiefen, hässlichen Provinzen. Sondern auch gleich nebenan.
Doch gerade, weil es ein zuweilen sehr wütendes Buch ist, ist es auch ein tröstliches. Eins vom Überstehen und Nicht-Aufgeben. Obgleich die Trauer bleischwer im Kopf sitzt. Wer trauert, lebt.
Marlen Pelny „Warum wir noch hier sind“, Haymon Verlag, Innsbruck 2023, 19,90 Euro.
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