Vielleicht macht die Generation Z alles richtig, wenn die jungen Leute immer öfter sagen: Nicht mit uns. Ich bin nicht zum Totarbeiten auf der Welt. Diese Arbeitswelt ist krank. Und Burnout ist garantiert nichts, auf das einer stolz sein kann. Dabei gehört der Buchautor Thomas Curran gar nicht zur Generation Z. Er ist Assistant Professor an der London School of Economics. Und sein Forschungsgebiet ist der Perfektionismus, die verheerendste Krankheit unserer Tage.

Eine Krankheit. Ja. Eindeutig. Ein anderes Ergebnis bleibt gar nicht übrig, wenn Thomas Curran sich ausgiebig und sehr detailliert mit unserer „Lieblingsschwäche“ beschäftigt hat, mit der Menschen auch in Bewerbungsgesprächen kokettieren. Als wäre es wirklich nur eine kleine Schwäche. Ist es aber nicht. Was man aber nicht gleich sieht, wenn man davon betroffen ist. Denn wie so viele menschliche Eigenschaften hat auch diese zum Teil eine genetische Grundlage. Es steckt teilweise in uns, dass wir alles, was wir tun, unbedingt perfekt tun wollen. Es ist menschlich. Und damit auch manipulierbar.

Wenn alles nie genügt

Sehr ausführlich und genau und auf Grundlage von vielen Studien, die in den vergangenen Jahrzehnten vor allem mit Studierenden durchgeführt wurden, deckt Curran für die Leser auf, wie Perfektion Menschen nicht nur in den Burnout treibt und an ihren eigenen Maßstäben verzweifeln lässt, sondern wie genau diese Diskrepanz zwischen dem Guten und dem Perfekten das Einfallstor für eine vom Wachstum besessene Wirtschaft und ihre PR-Branche ist, die Menschen in einen Dauerzustand des permanenten Ungenügens zu versetzen.

Denn wenn Perfektion als etwas Positives gesehen wird, als das Ziel, das wir als Mitglieder dieser Gesellschaft permanent anstreben sollen und erreichen müssen, dann ist auch nur das Gefühl, die vollkommene Perfektion nicht erreicht zu haben, schon eine Katastrophe und stürzt uns in psychologisch unlösbare Konflikte. Es entsteht eine „Tyrannei des Sollens und Müssens“.

Insbesondere Studierende an angelsächsischen Hochschulen bilden ein ideales Forschungspublikum. Sie repräsentieren bereits eine Elite, die sich durch ihren unbedingten Drang nach Perfektion und durch erstklassige Noten und Abschlüsse den Zugang zu renommierten Bildungseinrichtungen erkämpft hat.

Bewerten und Aussieben

Es ist kein Zufall, dass Curran auch sehr ausführlich auf das Bildungssystem zu sprechen kommt. Nicht nur, weil er als Professor direkt beobachten kann, wie es seinen Studierenden geht in diesem Kochtopf, in dem sowieso schon die „Besten der Besten“ miteinander im harten Wettbewerb um die besten Studienabschlüsse stehen. Denn die wirklich gut bezahlten Top-Jobs bekommt man auch als Akademiker nur mit „perfekten“ Leistungen. Auf einmal taucht ein Ausleseprinzip auf, das die ganze Gesellschaft durchzieht und das schon in der Schule beginnt, denn mit hunderten Testaten und Vergleichsarbeiten und dem Diktat der Zensuren geschieht genau das, was am Ende Menschen in die Perfektions-Spirale zwingt: Es wird fortwährend ausgesiebt. Wer nicht perfekt ist, wer kein perfektes Zeugnis erreicht, schafft die nächste Stufe nicht, dem sind die Wege in die Spitze der Gesellschafft, zu Reichtum und Wohlstand verbaut. Der fliegt aus dem Rennen.

Die Kehrseite aber zeigen die Studien und auch die Befragungen zum psychischem Wohlergehen der Studierenden: Der Zwang zur Perfektion führt zu Depressionen und Burnout. Immer mehr Studierende – nicht nur in den angelsächsischen Ländern – brauchen psychologische Betreuung. Oder geben auf, weil der Druck ihres eigenen Perfektionismus sie in Situationen gebracht hat, in denen sie nicht mehr weiterkommen.

Curran hat sich auch intensiv mit den Vorgängen beschäftigt, die da in den Köpfen der Menschen vor sich gehen, die perfekt sein wollen. Denn es betrifft ihn selbst. Er ist nicht zufällig auf dieses Forschungsfeld gestoßen. Er weiß nur zu gut, wie ihm sein eigener Perfektionismus geholfen hat, den Weg nach oben auf einen der begehrten Lehrstühle zu schaffen. Und dass ihn der Perfektionismus nie losgelassen hat. Denn dazu gibt es in unserer Gesellschaft keinen Raum. Wer sich auf seinen Lorbeeren ausruht, wer aufhört zu strampeln, der ist schnell weg vom Fenster. Denn der Wettbewerb ist unerbittlich. Und: Er ist fest eingebaut in unsere Gesellschaft.

So fest eingebaut, dass ihn die meisten Menschen für etwas Natürliches halten, genauso wie sie Ungleichheit und unerbittliche Auslese für etwas Natürliches halten. Ohne zu ahnen, dass der Mechanismus ihnen selbst überhaupt nicht hilft.

Niemals gut genug

Kapitel um Kapitel taucht Curran tiefer ein in die Materie, untersucht, wie – zusätzlich zum angeborenen Perfektionismus, unter dem fast jeder Dritte sowieso schon leidet – unsere Umwelt dafür sorgt, dass zwei weitere Formen des Perfektionismus dazu kommen: der sozial vorgeschriebene Perfektionismus und der fremdorientierte Perfektionismus. Die alle beide darauf aufbauen, dass wir soziale Wesen sind, die in ihrer Mitwelt Akzeptanz und Anerkennung suchen.

Und genau das ist missbrauchbar. Nicht nur durch fiese Chefs und falsche Lebenspartner, die einem das Gefühl geben, nie gut genug zu sein. Sondern durch eine ganze Wirtschaftslehre, die den Menschen einredet, sie würden sich stets zu wenig anstrengen, zu wenig Leistung erbringen, nicht perfekt genug sein. Und zwar nicht nur im Arbeitsleben, wo Menschen bereit sind, selbst Gesundheit, Freizeit und Familienleben zu opfern, um den – oft unausgesprochenen – Erwartungen zu genügen (nur um irgendwann völlig ausgebrannt auf der Strecke zu bleiben), sondern auch im Privatleben.

Denn in einer Gesellschaft, wo alle perfekt sein sollen, muss auch das Privatleben perfekt sein, herrscht ein unerbittlicher Wettbewerb um Statussymbole, gutes Aussehen, die richtigen Partner und die neuesten Lifestyle-Produkte.

Davon lebt Werbung: den Menschen immerfort einzureden, sie wären nicht auf der Höhe der Zeit, besäßen nicht den nötigen Chic, wären nicht schön genug, nicht clever genug, nicht reich genug, nicht erfolgreich genug. Es ist eine Gesellschaft des permanenten Ungenügens. Und die Werbung ist allgegenwärtig. Und wie stark sie längst ins Leben der Menschen eingreift, zeigen die „Social Media“.

Jene riesigen Plattformen, von denen die Meisten immer noch glauben, sie würden die Kommunikation der Menschen verbessern. Obwohl ein genauer Blick genügt, um zu sehen, dass es einfach mit Algorithmen optimierte Werbeplattformen sind, die den werbetreibenden Firmen, die ihre Produkte loswerden wollen, die ideale Basis bieten. Denn hier steht nichts mehr zwischen ihnen und den potenziellen Kunden. Hier prasseln die Botschaften des „Das musst du haben“ direkt auf die Menschen ein, die sich mit ihren Daten auch noch selbst zur Zielscheibe machen.

Wessen Leben führen wir eigentlich?

Und hier ist auch die Welt all der Menschen, die sich als „Influencer“ selbst zum Produkt gemacht haben und von den Unternehmen bezahlen lassen dafür, dass sie anderen Menschen ein perfektes Leben mit perfekten Produkten vorgaukeln.

Bis auch sie vom Burnout und der Verzweiflung am eigenen Leben niedergestreckt werden. Dafür gibt es längst Beispiele genug. Denn das halten Menschen nicht lange aus – ein völlig falsches Leben zu führen, das nicht ihr eigenes ist. Aus dem riesigen Wunsch, aller Welt zu zeigen, wie perfekt man den Vorstellungen vom perfekten Leben genügt, wird eine ganz persönliche Hölle. Denn wirkliche Liebe und Anerkennung gibt es in dieser Welt nicht. Ein falsches Wort, ein kleiner Fehler genügen, und die ganze Show fällt in sich zusammen.

Manchmal reicht auch nur das Erschrecken darüber, dass es in dieser Welt des perfekten Scheins keine wirkliche Wärme gibt, kein Vertrauen, keinen sicheren Ort.

Curran ist selbst erschrocken, wie der eigentlich doch sehr persönliche Perfektionismus, den er selbst erfahren hat, die ganze (westliche) Gesellschaft durchzieht. Und vor allem, wie extrem gerade in den letzten beiden Jahrzehnten die Zahl derer angestiegen ist, die unter Perfektionismus in all seinen Spielarten leiden. Und wie schwer es fällt, diesem Leidensdruck zu entgehen. Denn dahinter steckt ein knallhartes wirtschaftliches System, das darauf aufgebaut ist, immerzu immer mehr zu produzieren und immer mehr Profit zu machen, um die Wachstumsmaschinerie am Laufen zu halten.

Der Wachstumswahn

Mal ganz von den Ökonomen, Politikern und hochbezahlten Journalisten zu schweigen, die den Menschen immerfort einreden, die Welt brauche ein ungebremstes Wachstum – selbst jetzt noch, wo alle sehen können, wie dieses ungebremste Wachstum unsere Lebensgrundlagen zerstört.

Aber es ist nicht die Welt, die ein ungebremstes Wachstum braucht. Es sind die Reichen, die Aktionäre, die Profiteure dieser Art völlig entfesselter Wirtschaft, die das „Wachstum“ brauchen, das sich am Ende in immer riesigeren Geldbergen in der Hand von immer weniger Menschen zeigt, die mit ihrem Geld schon lange nichts Gescheites mehr anfangen können.

Darauf, dass wir dringend gewaltige gesellschaftliche Veränderungen brauchen, um diesen Teufelskreis zu verlassen, kommt Curran am Ende auch noch. Wo man eigentlich schon völlig erschöpft ist, weil er ja recht hat. Denn all die Wirkungsmechanismen, mit denen Menschen dazu getrieben werden, nach Perfektionismus zu streben und sich völlig aufzuopfern – oft in Bullshit-Jobs, die normalerweise kein Mensch mit wachem Verstand machen würde – gibt es ja. Curran zeigt, wie sie funktionieren und wie unbarmherzig der Druck ist, den sie in immer mehr Bereichen des menschlichen Lebens entfalten.

Und er zeigt auch, dass dahinter vor allem eine gnadenlose Philosophie der Ausbeutung steckt. Denn wenn man Menschen beibringt, sich immerfort als ungenügend zu empfinden und sie immerzu dazu bringt, noch mehr Leistung zu bringen, um ihren Job zu behalten und ihren hart erarbeiteten Wohlstand aufrechtzuerhalten, dann machen sich die Menschen selbst zu ihren eigenen Aufsehern und Anpeitschern. Dann steckt das Gefühl, vielleicht nur ein Betrüger zu sein und den Job gar nicht verdient zu haben, in ihrem eigenen Kopf. Und sie strengen sich noch mehr an, um noch perfekter zu sein. Erst recht in Unternehmen, die gleich mal in ihr Firmenprofil schreiben, dass sie nur mit perfekten Leuten arbeiten.

Perfektionismus macht gar nichts besser

Es ist überall. Das lernt man mit Curran Kapitel um Kapitel. Und das, obwohl Studien genauso zeigen, dass dieser entfesselte Perfektionismus gar nicht die Ergebnisse bringt, die er verspricht. Denn die meisten Perfektionisten scheiterten früher oder später an ihrem Perfektionszwang, bekommen Aufgaben nicht mehr beendet oder gehen psychisch in die Knie. Denn natürlich ist die menschliche Psyche auf so einen Drill zur Perfektion nicht eingerichtet. Auch nicht bei den Menschen, die von Haus aus den Perfektionsdrang mitbringen.

Denn natürlich wollen Menschen Dinge so gut wie möglich machen. Aber das ist am Ende ein gewaltiger Unterschied zum Perfektmachen. Denn wer genauer hinschaut, der sieht: Perfektion gibt es nicht. Kann es auch nicht geben. Viele Perfektionisten scheitern genau in dem Moment, in dem sie beginnen, das Gelungene noch weiter zu verbessern, immer weiter, weil immer noch da etwas verbessert werden kann und dort etwas noch nicht perfekt ist.

So, wie es auch Thomas Curran erging, der sich ja seines Perfektionismus nur zu bewusst ist. Aber selbst in der zweijährigen Arbeit am diesem Buch erwischte ihn dieser Zwang zum Immer-noch-besser-Machen. Bis ihn dann gute Freunde tatsächlich bremsten und aus seiner Perfektionsspirale wieder herunterholten. Sonst wäre dieses Buch nicht 2023 unter dem Titel „The Perfection Trap“ in London erschienen und noch dieses Jahr übersetzt worden.

Ein Buch, das an die „Seele“ unserer Angebotswirtschaft geht, die sich längst verfahren hat in ihrer Besessenheit vom unaufhaltsamen Wachstum, in dem selbst schon die Perfektionsspirale sitzt. Denn auch dieser Wachstums-Glaube heißt: Es kann nie genügen. Nie ist es genug.

Raus aus der Panikspirale

Und die panischen Reaktionen aus den Think Tanks der Wirtschaft zeigen es ja aktuell überdeutlich, dass es den Leuten dort völlig unmöglich ist, sich eine Wirtschaft zu denken, die aus der tödlichen Wachstumsspirale ausbricht. Und die den Menschen statt immer neuer überflüssige Produkte etwas gibt, was die Menschen tatsächlich brauchen: Geborgenheit, Nähe, Wärme, ein sozial reiches Leben, in dem alle genug zum Leben haben, ein Dach über dem Kopf und Zeit und Kraft für die Menschen, mit denen sie gern zusammen sind.

So ein ähnliches Bild malt auch Curran zum Schluss, nachdem er sich auch noch Gedanken darüber gemacht hat, wie eigentlich eine andere Wirtschaft aussehen könnte.

Und letztlich müsste. Denn wenn wir aus der Spirale von Wachstum und Perfektion nicht aussteigen, gehen wir alle vor die Hunde. Und unsere Welt wird für uns Menschen unbewohnbar. Das hat alles miteinander zu tun.

Und Curran benennt auch, worum es eigentlich geht: „Das bringt mich auf etwas, woran ich während meiner eigenen Genesung so manches Mal denken musste: Akzeptanz. Zu akzeptieren, dass schon simple Dinge wie sich zu bewegen, zu atmen, einfach nur zu existieren bedeuten, dass wir wichtig sind – dass wir genug sind. Und zu akzeptieren, dass wir überhaupt nichts dafür können, dass unser Wirtschaftssystem immer wieder versuchen wird, uns Unsicherheit einzuimpfen.“

Genug kann tatsächlich genügen

Es geht um dieses Genügen, das erdende Gefühl, dass wir als Mensch völlig genügen. Und dass es auch völlig genügt, Dinge so gut zu tun, wie wir es vermögen. Wir müssen nicht perfekt sein. Keiner von uns. Weshalb sich – das sei noch gesagt – auch unser Bildungssystem gewaltig ändern muss, denn hier wird den Kindern das Denken in die Köpfe getrichtert, sie müssten immer perfekte Leistungen bringen, Fehler seien inakzeptabel (obwohl man eigentlich nur aus Fehlern wirklich lernt) und wenn sie nicht zu den Besten gehören, wären sie ungenügend und damit minderwertig.

Und die, die im Perfektions-Rennen oben landen, wären besser als sie. Was nicht stimmt und was noch nie gestimmt hat. Aber Menschen, denen derart eingetrichtert wurde, sie würden nicht genügen, kann man herrlich manipulieren, beschämen, indoktrinieren. Und man kann so ein ungerechtes System am Leben erhalten, in dem sogar die, die man betrogen und belogen hat, glauben, der Reichtum an der Spitze wäre irgendwie durch Leistung erarbeitet und verdient.

Ein weiterer Aspekt in Currans Buch, der aber schon die Grenzen sprengt.

Vielen Lesern wird schon helfen, wenn sie sich in den dargestellten Perfektionismen wiedererkennen und merken, dass sie selbst in ihren eigenen Leben schon etwas dafür tun können, den Druck rauszunehmen und langsam zu verinnerlichen, dass es im Leben tatsächlich einen erfüllenden Moment gibt – oder ganz viele solcher Momente, in denen man einfach sagen kann: Genug ist genug. Gut ist gut. Mehr erwartet eigentlich keiner von uns. Und gerade weil das gut Gemachte völlig genügt, können wir jedes Mal stolz sein, es geschafft zu haben. Denn so werden Dinge fertig, Projekte beendet, schafft man das, was man sich vorgenommen hat. Und kann aufatmen und sich tatsächlich erleichtert sagen: „Ich hab’s geschafft.“

Und dann? Dann hat man wieder Zeit für sich und die Dinge, die man gern tut.

Thomas Curran „Nie gut genug“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2023, 17 Euro.

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