Es ist selten geworden in deutschen Romanwelten, dass Autorinnen und Autoren nicht nur zu ihren Figuren eine freundlich listenreiche Distanz wahren, sondern auch zu ihrem Erzählstil. Dabei war das einmal eine Tugend und hat begnadeten Autoren eine begeisterte Leserschaft gebracht. Und es ist wie ein Aufatmen, wenn man mit Annette Hildebrandts „ostpreußischer Familiengeschichte“ nun diese Tugenden neu entdecken darf.

Es geht also noch. Und vielleicht geht es auch, weil Annette Hildebrandt belesen ist in der großen Welt der deutschen Romanciers, bei Autoren wie Thomas und Heinrich Mann, Theodor Fontane und Kurt Tucholsky. Den Literaturtheoretiker hier zwar nicht nennen würden, weil sie seine beiden Liebes-und-Ferien-Bücher „Rheinsberg“ und „Schloss Gripsholm“ nicht für schwergewichtig genug erachten, als echte Romane durchzugehen. Oft stört sie auch diese zirzensische Leichtigkeit, mit der Tucholsky seine Figuren auftreten und parlieren lässt.

Aber wer belesen ist gerade in der großen Literatur der oben Genannten, findet dasselbe Stilmittel auch bei Thomas und Heinrich Mann und andeutungsweise auch schon bei Fontane. Gerade diese humoristische Distanz zu den eigenen Heldinnen und Helden öffnet erst den Raum, der Leserinnen und Lesern die Möglichkeit gibt, sich ganz einzufühlen in die agierenden Gestalten. Mit allen ihren Macken und Krummheiten, Narreteien und Vorurteilen.

In größeren Zusammenhängen

Und dass Annette Hildebrandt das genau so auch denkt, macht sie eher beiläufig deutlich, wenn sie einen ihrer Lieblingsautoren auch auftreten lässt – fast beiläufig: Thomas Mann. Mal als zufällige Begegnung am Strand der Kurischen Nehrung, wo die Manns ihr Ferienhaus hatten, das mit dem Nobelpreisgeld von 1929 bezahlt worden war. Einen von Hildebrandts Helden – der Lehrersohn und angehende Pfarrer Arthur Preuß, begegnet dem Berühmten beim Spaziergang, traut sich aber natürlich nicht, ihn anzusprechen. So leicht vermischen sich Leben und Literatur nicht.

Denn Hildebrandts Buch ist eben nicht nur Literatur. Es steckt eine tatsächliche Familiengeschichte dahinter – ihre eigene, die der Familie Hildebrandt, eigentlich ihrer Eltern Helmut und Erna Hildebrandt, die in diesem Buch als Arthur und Käthe Preuß aufleben. Liebevoll beatmet von der Autorin, die sich sehr wohl bewusst ist, dass ihre Eltern – insbesondere ihr Vater – vieles lieber beschwiegen haben. „Ich habe die Geschichten aufgesammelt, nachrecherchiert, ergänzt, in einen größeren Zusammenhang gestellt und versucht, sie in Romanform wiederzugeben“, schreibt sie im Nachwort.

Glück für die Pfarrerstochter: Pfarrer legen viel Wert auf Geschriebenes. Und so hat auch vieles zusätzlich zu dem, was die Eltern lieber nicht erzählten, doch überdauert – als Brief, als Tagebucheintrag, als Predigt-Skript, als Gedicht. Und wer Annette Hildebrandts Generation angehört (geboren 1954), der weiß, wie wenig die Eltern über die schlimme Zeit davor erzählten, wie sehr sich das auf einige herzhafte Anekdoten beschränkte, gerade dann, wenn sie mitten in die Kriegshandlungen gerieten, denunziert wurden, flüchten mussten und dann im heutigen Ostdeutschland neu beginnen mussten in Hunger und ein bisschen Hoffnung.

Mit Unernst liebäugeln

Wobei Annette Hildebrandts Vater auch eine besondere Art hatte, mit dem Erinnerten umzugehen: „Mein Vater war jemand, der Schlimmes verschwieg, mit Ernst haderte und mit Unernst liebäugelte. So verfuhr er auch mit seinen Geschichten. Er haderte, liebäugelte und verschwieg.“

Womit er ja nicht die Ausnahme war, sondern eher die Regel. Oder sollte man besser schreiben: Womit er ja auch heute nicht die Ausnahme ist. Nur dass ihn von vielen Mitmenschen unterscheidet, dass er sich seiner Fehler, Krummheiten, Unvollkommenheiten sehr bewusst ist. Zumindest in diesem Roman als Arthur Preuß, mit dem die Geschichte gar nicht beginnt. Denn Annette Hildebrandt taucht noch viel tiefer ein in die Familiengeschichte, bis in die Zeit, in der der durchaus dickfellige Lehrer Karl Preuß sich nach dem frühen Tod seiner Frau eine neue Braut sucht – die handfeste Schifferstochter Hedwig.

Die ostpreußische Landschaft mit dem Frischen Haff, der Frischen Nehrung und dem Städtchen Elbing sind von Anfang an präsent im Buch. Eine Landschaft, die man lieben kann. Lieben konnte. Wäre da nicht die Politik gewesen, die es dem Einzelnen immer wieder schwer macht.

Auch diesem Theologielehrer Karl Preuß, der sich weigert zu akzeptieren, dass die Religion auf einmal nicht mehr Bestandteil des Schulunterrichts sein soll. Andere geben bei so etwas klein bei, nicken, fügen sich. Nur dieser Karl Preuß wird widerborstig und renitent und verliert am Ende auch seine Arbeit als Lehrer. Es ist also schon früh angelegt in dieser Familie, was sich an ganz menschlicher Renitenz immer wieder zeigt. Auch wenn das tragische Schicksal von Karls Tochter aus erster Ehe, Agathe, nicht vorgezeichnet ist. Denn auch sie wurde Lehrerin, geriet aber in eine andere politische Entwicklung, nachdem die Weimarer Republik erst das Zölibat für Lehrerinnen aufhob und es dann wieder einführte, weil Männer gern zu Rückschritten greifen, wenn es um Machtinteressen geht.

Und mindestens zwei ihrer Lehrerkollegen werden übergriffig. Agathe wehrt sich. Gibt aber nicht klein bei. Denn ihr Protest ist prinzipiell – und gültig für alle nachfolgenden 100 Jahre. Nur: Auch sie wird dafür bestraft und gekündigt. Und reibt sich dann auf in dem vergeblichen Kampf um Wiedergutmachung. Sodass ihr Schicksal am Ende tragisch ist und Annette Hildebrandt Mühe hat, ihre letzten Spuren zu finden im „Euthanasie“-Programm der Nationalsozialisten.

Männerrollen, Frauenrollen

Der Stoff ist so, dass es eigentlich ein tragisches Buch werden müsste. Aber genau den Gefallen tut Annette Hildebrandt den Geschichtsdramatisierern nicht. Denn auch das Handeln von Politikern, Kirchenvorstehern, Schulinspektoren, Gauleitern und sonstigen Führern in Hosen ist – menschlich. Und damit fassbar in seiner Winzigkeit, Vergänglichkeit, Lächerlichkeit. Alles Dinge, denen dann auch Arthur begegnet, nachdem er sich den Wunsch erfüllt hat, Theologie zu studieren – und das auch noch bei den berühmtesten Lehrern seiner Zeit: Karl Barth und Rudolf Bultmann, zwei Antipoden, wenn ex um die Interpretation biblischer Texte ging. Was auch den angehenden Pfarrer Arthur Preuß in Zwiespalt versetzt.

Wobei die Autorin ihren Helden durchaus mit kritischer Brille sieht. Denn im Theoretischen ist er unvergleichlich, bezaubert mit Predigten das Publikum – nur im Umgang mit Menschen ist er eine gehörige Portion steifleinen. Auch ei Stück weit Patriarch. Was dann Käthe ausbaden muss, eigentlich ein blitzgescheites Mädchen aus einer katholischen Familie aus dem Elsaß, die eher eine Karriere als Mathematikerin vor sich hat. Aber beim Besuch bei ihrer Schwester Magda, die den Pfarrer und Freund Arthurs Friedrich Buttkus geheiratet hat, lernt sie auch Arthur kennen. Und trifft – wie es ausieht – eine verwandte Seele. Die beiden verstehen sich prächtig.

Doch Käthes Hochschulkarriere ist damit erledigt. Sie wird Pfarrersfrau in Adlig Kessel, mitten in den schönen Masuren gelegen. Ein bisschen weltabgeschieden. Aber die Leute mögen ihren Pfarrer und die Pfarrerin bald. Doch der Frieden bleibt nicht bewahrt. Als in der Hauptstadt Ostpreußens, in Königsberg, eine Pfarrstelle zu vergeben ist, bewirbt sich Arthur und bekommt sie auch. Sein Vorgänger wurde geschasst, weil er den Obrigkeiten, erst recht denen in der Evangelischen Kirche zu aufmüpfig wurde. Da steckt man schon mittendrin in der NS-Zeit und der Zeit der Deutschen Christen, die das Angstmachen, das die Nationalsozialisten über die Gesellschaft legten, auch in die Kirche trugen.

Du sollst nicht töten!

Und wieder steckt Arthur zwischen Baum und Borke, will eigentlich nicht anecken. Aber über das alte Bismarcksche Gebot, Pfarrer hätten sich in ihren Kanzelreden nicht in Dinge des Staates einzumischen, hat er schon lange nachgedacht. Und sieht es nicht ein. Aber wie bringt man die Worte Gottes und seine deutlichen Forderungen an den Christenmenschen in eine Predigt, wenn sich der Staat und seine dreisten Wagenführer immerfort an der Botschaft der Bibel versündigen? Zuletzt am wichtigsten aller christlichen Gebote: „Du sollst nicht töten!“?

Seine neue Gemeinde merkt sehr wohl, dass der neue Pfarrer durchaus im selben Geiste predigt wie der alte. Sie akzeptiert ihn. Und alles könnte gut sein, wäre der Staat nur mit ein bisschen Vernunft regiert. Aber den beherrscht ein Führer, der sich für auserwählt und genial hält. Erst recht als Kriegsherr, sodass er Deutschland in einen mörderischen Krieg gegen wirklich alle Nachbarn lenkt. Was einen durchaus darüber nachdenken lässt, ob die Historiker eigentlich falsch liegen, wenn sie behaupten, Kriege würden entstehen.

Denn augenscheinlich sind Kriege das Ergebnis von überkandidelten Männern, die andere schlecht beratene Männer dummerweise haben an die Hebel der Macht kommen lassen. Und dann findet sich keiner, der diese Typen in die Klappsmühle steckt. Sondern alles rollt – absehbar – auf ein ruinöses Ende zu.

Mit Logik und Verstand hat das nichts zu tun. Das denkt auch Arthur auf seine Weise, der dann doch noch einberufen wird, sich aber ganz christlich weigert, sein Gewehr zum Schießen auf Menschen zu benutzen. Schon im Pfarramt hat er riskiert, wegen Defätismus vor Gericht und im Gefängnis zu landen. Nun geht’s wieder beinahe schief. Aber nur beinahe. Denn die Kriegsfortsetzer im von Gauleiter Koch beherrschten Ostpreußen brauchen jeden Mann, um die Kulisse wehrhafter Verteidigung der Festung Königsberg aufrechtzuerhalten. Obwohl nichts mehr da ist, was der Übermacht der Roten Armee standhalten könnte.

Literarische Begegnungen

Am Ende landet Arthur in Gefangenschaft. Käthe und die drei Kinder Konstantin, Raphael und Michaela gelingt mit Hilfe eines gläubigen Wehrmachtsoffiziers noch im letzten Moment die Flucht auf einem Lastkahn, der das belagerte Königsberg noch verlassen kann. Später gehören sie wieder zu den Glücklichen, die mit der „Cap Arkona“ von Gotenhafen (Gdynia) über die Ostsee entkommen. Ein Schiff, dessen tragische Geschichte Hildebrandt auch erzählt. So wie sie immer wieder auch in die großen historischen Abläufe wechselt, um Leben und Treiben ihrer Heldinnen und Helden einzuordnen.

Denn normalerweise sieht man all die großen Entwicklungen, Entscheidungen und Kriegsverläufe ja nicht, wenn man mittendrin steckt und verzweifelt versucht – so wie es Käthe geht – irgendwie doch die richtigen Entscheidungen zu treffen: Bleiben oder Fliehen? Die Kinder retten oder auf Arthurs Worte hören, der meinte, ein Pfarrer, eine Pfarrerin müssten bei der Gemeinde bleiben?

Das Glück für Käthe, die Kinder und das Kantorenehepaar, mit dem sie unterwegs sind: Das erste Schiff in Gotenhafen haben sie nicht mehr erreicht. Die „Wilhelm Gustloff“, die mit fast 9.000 Menschen an Bord am 30. Januar 1945 durch ein sowjetisches U-Boot versenkt wurde. Noch so eine Geschichte, die einen weiteren literarischen Kosmos berührt – den von Günter Grass, der sich ja mit seiner „Danziger Trilogie“ geografisch mit dem westliche Nachbarraum Ostpreußens beschäftigte und 2002 in seiner Novelle „Im Krebsgang“ auch den Untergang der „Wilhelm Gustloff“ thematisierte.

Wie dramatisch sich die Lage dann in Königsberg entwickelt, als die Alliierten tatsächlich zuschlagen, muss Käthe nicht mehr erleben. Die Flucht über die Ostsee ist belastend genug, führt die kleine Familie am Ende ins pommersche Demmin. Wo freilich die Schrecknisse ihr Ende nicht finden, denn Demmin erlebte nach der Besetzung durch die sowjetischen Truppen eine der beklemmendsten Katastrophen in dieser Zeit, als der Krieg eigentlich zu Ende war, nur nicht in den Köpfen der Beteiligten.

Wie bleibt man ein anständiger Mensch?

Aber was Annette Hildebrandt so zeigen kann, ist das Romanhafte, das eigentlich in jedem Leben steckt. Einfach dadurch, dass Menschen in geschichtliche Brüche und Fährnisse verwickelt sind, meist unverschuldet und ausgeliefert. Auch dann, wenn sie wie Arthur versuchen, möglichst nicht in die Fänge der Richter zu geraten, also auch nicht der Bekennenden Kirche beizutreten oder gar zum Märtyrer zu werden wie Dietrich Bonhoeffer. Die Frage steht trotzdem: Hätten nicht viel mehr Pfarrer den Mut finden sollen, gegen das Unmenschliche und Bösartige anzupredigen? Und damit auch die Fahne des Menschlichen hochzuhalten?

Eine nach wie vor aktuelle Frage. Die auch eine ur-literarische Frage berührt: Wie kann sich der Mensch seine Aufrichtigkeit bewahren, wenn scheinbar die Außenumstände von ihm verlangen, sich zu krümmen und mit den Wölfen zu heulen? Fragen, die sich ja auch Grass immer wieder stellte.

Nur dass Hildebrandts Familie Preuß ein reales Vorbild hat, sie also ihren Helden kein nicht passiertes Heldentum zuschreiben kann, nur viel menschlichen Anstand, Zweifel und Gewissensbisse. Und den Willen, Mensch zu bleiben und das Schlimme zu überstehen. Das reicht vollauf, um aus einem Leben einen vollwertigen Roman zu machen. Jedenfalls, wenn man es mit etwas Abstand betrachtet, dem liebevollen Zwinkern eine Autorin, die weiß, dass sich menschliche Motivationen nie ganz ergründen lassen.

Man muss seinen Figuren meist einfach zugestehen, dass sie irren, Fehler machen, sich auch mal völlig daneben benehmen, so wie Arthur, der sich auch als Polterer betätigen kann, wenn er sich in seiner pastoralen Ruhe gestört fühlt.

Das gilt bis heute

Aber das Verfremden hilft, die liebevolle Ironisierung aller Figuren, das so spielerisch Hingetupfte, das deutlich macht, dass wir Menschen uns immer so gewaltig wichtig nehmen und zu schrecklich ernst. Erst recht, wenn der Ernst sich dann auch noch politisch aufspielt wie Graf Kotz. Da wird Geschichte dann zwar mörderisch und gibt sich einr fürchterliche Maske. Was ist da ein Menschenleben?

Aber gerade da geht es um das wirkliche Menschsein. Und die Frage nach Würde und ein bisschen Aufrichtigkeit. Schwer genug, wie Arthur und Käthe in vielen nächtlichen Gesprächen feststellen müssen. Gab es dieser Gespräche – dann auch in größerer Runde auch am Küchentisch – so? Vielleicht. Wahrscheinlich. Denn darum geht es ja in diesem Familienroman, der auch eine Liebeserklärung ist an die Landschaft, in der er handelt, bevor die Flucht aus Königsberg dann unausweichlich wird: um das Bewahren des Menschlichen gerade dann, wenn die Stiefelträger es mit den Füßen treten und lächerlich machen.

Auch das gilt heute noch genauso. Denn die Leute, die einfach nichts lernen aus der Geschichte, die sterben nicht aus. Die halten sich immer wieder für genial und auserwählt und allwissend, obwohl sie gründlich dumm sind. Gerade im Menschlichen.

Was bleibt? Manchmal Kinder, die dann alle Mühe darauf verwenden, die Familiengeschichte ganz zu erkunden. Auch bis in die verschwiegenen Ecken hinein. Und gerade deshalb mit liebevollem Unernst erzählen können, wie es ihren Großeltern und Eltern erging damals in diesen Zeiten, über die oft Jahrzehnte das große Schweigen gebreitet war. Oder das kleine, weil das große Grauen nur in kleinen Portionen erzählbar war. Oder geradezu tabu. Bis dann die Kinder und Enkel anfingen zu fragen. Weil auch diese Geschichten einmal erzählt sein müssen.

Annette Hildebrandt „An des Haffes anderm Strand“, Edition Chrismon, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2023, 22 Euro.

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