Karin wรคchst auf in den letzten Jahren der DDR. Sie liebt Paul, gemeinsam mit Pauls Freund Rรผhle gehen sie klettern im Elbsandsteingebirge. Bis rรผber zu den Tschechen will Paul schlieรlich fรผrs Wochenende. Auch Karin hat Lust auf ein Abenteuer, aber sie muss auf ihre kleine Schwester aufpassen, wรคhrend die Mutter in der Groรkรผche der Wismut steht.
Nicht lange und abends sitzt die DDR-Staatssicherheit (โStasiโ) am Tisch. Wo ist Paul? Sie sagen, dass er โrรผbergemachtโ hat. Hat Karin von seinem Fluchtversuch gewusst? Karin schweigt zunรคchst. รber das Geld, dass sie bei Paul gesehen hat, von dem sie aber dachte, dass er damit Kletterzeug in Tschechien kaufen wollte. รber Erinnerungen und Pauls Freund Rรผhle. Der Stasi-Mann Wickwalz lรคsst sie nicht in Ruhe. Sie soll Informationen liefern, dauerhaft, รผber Rรผhle, รผber Paul, รผber ihr Umfeld.
Karins Familie ist ihr keine Unterstรผtzung. Wรคhrend die Mutter kaum da ist, erzรคhlt die Groรmutter vom Krieg, wo sie als Blitzmรคdel in Minsk und Paris war und ihrem Mann, den sie fรผr die Feigheit, nicht zur Armee zu wollen, verachtete. โWenn du wo anpackst, istโs, wie wenn zwei loslassenโ, sagt sie รผber Karins Vater, einen Trinker. Regeln gibt es fรผr Karin, emotionale Unterstรผtzung nicht. In der Schule wird รผber das Ganze natรผrlich geschwiegen. Auch ihrer Freundin Marie erzรคhlt Karin erst nichts, obwohl sie auch von der weiร, dass ihr Vater im Westen ist.
Das Schweigen bringt Isolation mit sich. Wem kann man vertrauen? Wer sagt die Wahrheit? Schlieรlich findet Karin so etwas wie Halt bei Stasi-Mann Wickwalz. Er hรถrt sich ihren Liebeskummer an, er braucht ihre Informationen und gibt ihr Handlungsfรคhigkeit. Karin wird irgendwie erwachsener, als all die anderen um sie herum. Es ist, als hรคtte sie ein anderes Leben, abgekoppelt von der Realitรคt ihrer Mitschรผler*innen. Ist es wirklich so? Mรถglich ist auch, dass bloร niemand darรผber spricht. So wie es auch Maries Geheimnis ist, dass ihr Vater im Westen ist.
Die spรคte DDR-Generation erzรคhlt
Die Generation derer, die in den letzten Jahren der DDR oder nach ihrem Ende im Osten geboren wurden, beginnt zu erzรคhlen. Es ist eine nahe Vergangenheit, die doch oft ziemlich vage, verschlossen und zwischen Klischees eingezwรคngt bleibt. Auch hier fragt man sich, wem man vertrauen kann, so viele unterschiedliche Erzรคhlungen gibt es รผber die DDR.
Viel Unsicherheit, Unklarheit und Voreingenommenheit rankt sich um die Zeit vor 1990. Je nachdem, mit wem man spricht, ob โOssiโ oder โWessiโ, ob mehr oder weniger privilegiert im jeweiligen System, erzรคhlt jeder eine komplett andere Geschichte. Autor*innen aus dem Osten haben dabei nicht nur die schwierige Aufgabe, eine Geschichte zu erzรคhlen, die halbwegs frei von Vorurteilen ist und gefรผllt mit Menschlichkeit.
Hinzu kommt, dass sie ihre Bรผcher in eine immer noch gespaltene Gesellschaft hinein schreiben. Es ist fast unmรถglich, รผber Leben in der DDR zu schreiben, ohne dadurch eine politische Haltung klarmachen zu wollen. So mรผssen sich die Bรผcher und Geschichten nicht nur um ihrer selbst willen behaupten. Sondern auch immer gegen die Klischees und Vorurteile.
Spannend bis zum Ende
Karin will sich gegen gar nichts behaupten, sie will einfach nur ein gutes Leben, am besten mit Paul. Dem stehen die Teilung Deutschlands und der permanente Druck der Staatsorgane, unter dem Karin sich wiederfindet, im Weg. Charlotte Gneuร schafft es, den Personen ein eigenes und nachvollziehbares Innenleben zu geben im Kosmos der Kleinstadt Gittersee bei Dresden, wo die Wismut AG bis 1989 rund 4 Millionen Tonnen Erz aus der Erde holte, um daraus Uran zu gewinnen.
Es geht in diesem Buch um das Aufwachsen als Frau in einer schwierigen Familiensituation und in der unsicheren Sicherheit der DDR. Karin muss entscheiden, ob sie ihre Freund*innen verrรคt. Entscheidungen, die man niemandem in ihrem Alter oder jemals zumuten will. Sie wird nicht nur aufgefangen und ausgenutzt in einer komplizierten Situation von Wickwalz, sie hinterfragt auch ihr Vertrauen zu Paul, gewinnt und verliert jenes zu Rรผhle.
In Karins Ton findet man sich sofort hinein: โNach der Schule ging ich zu Wismut. Rรผhles Moped stand bei den anderen. Ich klemmte den Brief zwischen Sitz und Motor. Ein รคlterer Mann stand um die Ecke und rauchte. Er zwinkerte mir zu. Sie haben da was am Auge, rief ich ihm zu, so Zuckungen, wรผrde ich behandeln lassen.โ
Das Buch bleibt spannend bis zum Ende. Immer bleibt unklar, ob Paul Karin verraten hat, ob Karin Rรผhle verrรคt oder ob Karin zu uns Lesenden ehrlich ist. Mit Karin hat Charlotte Gneuร eine mutige Figur geschrieben, der man gern durch die Geschehnisse folgt.
โGitterseeโ ist fรผr den Deutschen Buchpreis nominiert.
Charlotte Gneuร โGitterseeโ, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023, 22 Euro.
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