„Eine Biographie, von wem auch immer, überfordert alle Biograph*innen.“ Das schreibt Ilko-Sascha Kowalczuk in einem 20 Seiten langen Vorspann zu dieser Ulbricht-Biographie, die derzeit die Medien landauf, landab in helle Aufregung versetzt. Denn wie kann man sich derart intensiv einem derart drögen Politiker widmen? Ist das überhaupt nötig? Wer die ersten 800 Seiten gelesen hat, weiß, dass es sogar überfällig war.

Denn dieser Band enthält erst einmal nur den ersten Teil von Walter Ulbrichts Karriere. Er endet mit der Entsendung der „Gruppe Ulbricht“ in das gerade von der Sowjetarmee befreite Mitteldeutschland, auf dessen Territorium die aus Moskau eingeflogenen Kommunisten jene Übergangsgesellschaft aufbauen würden, die als Deutsche Demokratische Republik als störrischer Klotz quer in der jüngeren deutschen Geschichte steht. Das ungeliebte hässliche Entlein, das man so gern losgeworden wäre mitsamt seinen scheinbar so grauen, seelenlosen Funktionären.

Aber wer sich so intensiv seit Jahren mit der Aufarbeitung der ostdeutschen Geschichte beschäftigt wie der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der weiß, wie lückenhaft diese Geschichte ist, wie wenig selbst die Ostdeutschen darüber wissen. Politiker wie Walter Ulbricht sind zu Schablonen geworden, meist überformt von der stereotypen westlichen Wahrnehmung dessen, was da östlich der innerdeutschen Grenze geschah.

Die Tücken der Biographie

Aber wer sich wie Ilko-Sascha Kowalczuk in Büchern wie „Endspiel“, „Die Übernahme“, „Stasi konkret“ oder „17. Juni 1953“ intensiver mit dieser halben deutschen Geschichte beschäftigt hat, der weiß auch, dass es letztlich auch hier um Menschen geht. Richtige Menschen. Auch dann, wenn man sie nicht mag, sie für erledigt hält, von der Geschichte überholt. Denn manchmal sitzen sie einem wie ein Alb im Nacken, wird man sie einfach nicht los.

„Ich habe an dieser Biographie viele, viele Jahre gearbeitet, fast mein ganzes Leben“, schreibt Kowalczuk, nachdem er ausführlich die Frage umkreist hat, warum man überhaupt Biographien schreibt. Und welche Tücken dieses Metier hat.

Und manchmal wird man den Druck nur los, wenn man alles tatsächlich herunter schreibt. Ganz akribisch. Jahr für Jahr, Kapitel um Kapitel. Von der Geburt des Sohnes des Schneiders Ernst Ulbricht 1893 in Leipzig bis – wie in diesem Band – zur Ankunft der „Gruppe Ulbricht“ im zerstörten Berlin. Den zweiten Band, der dann Ulbrichts Wirken bis 1973 beschreibt, ist für 2024 angekündigt. Wobei Beschreibung das falsche Wort ist. Analysieren passt besser auf die Methode, mit der Ilko-Sascha Kowalczuk alles auseinander nimmt, jedes Schriftstück, jedes Zeugnis, dass er zum Leben und Wirken dieses Mannes finden konnte.

Denn er wollte vor allem eine Frage lösen, die Historiker tatsächlich umtreibt: Wie ist dieser Mensch eigentlich so geworden, dass er am Ende der einflussreichste und mächtigste deutsche Kommunist wurde?

Und was unterscheidet ihn von anderen? War dieser Weg vorgezeichnet? Gab es denn nicht viele Wegscheiden, an denen alles hätte ganz anders kommen können? Ja, sagt der Historiker. Ein Ja, in dem auch ein Nein steckt. Auch wenn man als Leser in gewisser Weise verzweifelt an diesem Ulbricht. Denn schon für seine Jugend und die frühe Zeit seiner Politisierung gilt, dass er als Mensch eigentlich nicht greifbar ist. Was nicht nur daran liegt, dass nur wenige wirklich persönliche Dokumente aus seinem Leben überliefert sind. Und wenn ich jetzt nicht irgendetwas überlesen habe, kann man auch sagen: Er hatte keine wirklichen Freunde.

Politik als Lebenszweck

Im Gegensatz zu vielen charismatischen Anführern, die es auch in der KPD gab, war er ein geradezu introvertierter Parteiarbeiter, ein Aktenfresser, wie ihn mehrere Zeitgenossen beschrieben. Einer, der schon sehr früh gelernt haben muss, alle persönlichen Gefühle, Gedanken und Ansichten zu verbergen. In vielen Etappen, wo es tatsächlich ums blanke Überleben ging, ganz gewiss ein Vorteil.

Und man liest trotzdem mit Spannung, Erwartung und einer gewissen Enttäuschung, wie der junge Tischler schon früh Kontakt zur Arbeiterbewegung suchte, sein „politisches Erweckungserlebnis“ hatte – mit August Bebels Auftritt in der Alberthalle 1907 sogar ein sehr beeindruckendes. Und wie er dann dabei blieb und Politik immer mehr zu seinem Lebensinhalt machte. Außerdem trank er nicht, rauchte nicht, trieb sein Leben lang Sport. Und trotzdem wird es nie wirklich greifbar, wie aus diesem politisch engagierten jungen Mann am Ende quasi der Prototyp des nach außen hin völlig gefühllosen Funktionärs wurde.

Spuren gibt es natürlich genug. Und sie haben natürlich mit den Kalamitäten der deutschen Geschichte zu tun – dem Versagen der SPD, als wirklich Haltung gefragt war 1914 und ein deutliches „Nein“ der Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten eigentlich das Mindeste war, was die organisierten Arbeiter von ihrer Parteiführung erwarteten. Es war genau dieser Moment, der die deutsche Arbeiterbewegung spaltete und am Ende auch die Radikalisierung auslöste, deren Ergebnis 1918 die Gründung der KPD war. Aber nicht nur.

Denn mit Walter Ulbricht haben wir eben nicht nur einen Aktenfresser vor uns. Neben Bergen von schöngeistiger Literatur (seine Sicht auf die Klassiker prägte auch das Literaturverständnis der SED) arbeitete er sich auch durch die maßgeblichen Schriften der Autoren, die in der linken Arbeiterbewegung eine zentrale Rolle spielten. Und da genau scheint seine Radikalisierung zu beginnen, von der man durchaus reden kann.

Denn Radikalisierung beginnt im Kopf, hat mit Ideologien zu tun und den zum Gesetz gemachten Ansichten von Theoretikern über den Weg, den man gehen muss, um die Macht zu erlangen und dann – „ganz gesetzmäßig“ – die neue Gesellschaft zu errichten.

Die „Partei neuen Typs“ bzw. die Bolschewisierung der KPD

Und man ahnt nur, welche Wirkung die Schriften Lenins auf Leute wie Ulbricht gemacht haben müssen. Schriften, die wenig später schon zum geheiligten Kanon einer Weltanschauung wurden, die sich dann Marxismus-Leninismus nannte und von sich behauptete, wissenschaftlich zu sein. Und genau an der Stelle kann Kowalczuk immer wieder zeigen, wie das, was wir seitdem als „Kommunismus“ erlebt haben, tatsächlich funktioniert und am Ende zwangsläufig genau zu den Erscheinungen führt, die dieses gescheiterte Experiment letztlich so abstoßend machen.

Alles beginnt nämlich mit der Machtfrage. Und mit der von Lenin erfundenen „Partei neuen Typs“, eine Partei, die keine Fraktionen und Strömungen mehr duldete, sondern nur noch einen Willen, eine Stoßrichtung, ein Ziel. Was zwangsläufig dazu führte, dass in der KPD die Richtungskämpfe schon früh eskalierten. Denn wenn es nur noch eine einzige richtige Meinung und Haltung geben kann, ist jede Abweichung davon schon Verrat. Und deshalb gehört der heftige Kampf gegen Fraktionsbildung, Abweichung und „Verrat“ schon früh zum Erscheinungsbild der KPD, in welcher der junge Walter Ulbricht Karriere machte und schnell lernte, wie man in diesem Haifischbecken überlebt.

Was übrigens nicht nur für die KPD typisch war, sondern für alle kommunistischen Parteien, die damals entstanden. Denn Lenins Vorstellungen einer Partei neuen Typs haben Konsequenzen. Und Ilko-Sascha Kowalczuk deutet immer wieder an, dass Lenin sich dieser Konsequenzen wohl nur zu bewusst war, dass all die Verbrechen, die dann Stalin beging, schon in Lenins Vorarbeit ihre Wurzeln haben. Denn wenn so eine Partei neuen Typs die Macht übernimmt – so wie die Bolschewiki mit ihrem Putsch im Oktober 1917 – und dann die neue Gesellschaft formen will, ist sie auch dort gezwungen, das gesamte gesellschaftliche Leben zu homogenisieren, wie es Kowalczuk nennt.

„Den Parteivorderen galt der Homogenisierungsprozess machtpolitisch gesehen als die notwendige Voraussetzung für die Stabilität der kommunistischen Herrschaft“, schreibt er. „Um das System in einem Land behaupten zu können, mussten innere Agenten ausgeschaltet werden, um die äußeren Agenten zu schwächen, da beide in ihrer Logik eng miteinander verflochten waren. In einer vom Feind umzingelten Welt bedarf es aber einer inneren permanenten Mobilisierung, die Revolution durfte nicht zum Stehen kommen, weil sie dann, so die Befürchtung, unweigerlich zu Fall käme.“

Keine Welt für sensible Gemüter

Man sieht, wie auch Lenins – falsche – These vom Aufbau des Kommunismus in einem Land darin steckt. Eine Vorstellung, die der ökonomisch ja tatsächlich forschende Marx generell abgelehnt hatte. Aber Lenin gab mit seinen Vorstellungen von einer geradezu militärisch organisierten Avantgarde der Arbeiterklasse eben auch die Muster vor, wie eine kleine, zu radikalen Entschlüssen fähige Gruppe die Macht nicht nur erlangen, sondern auch festigen kann. Mit Konsequenzen, die nicht erst 1989 die Menschen erschütterten.

Denn schon in der Definition so einer Kampfgruppe ist all das angelegt, was Walter Ulbricht und Genossen dann in den Folgejahren immer wieder durchexerzierten – Denunziation, Anklage, Verdächtigung, Gericht und Ausschluss. Niemand war sicher. Jeder – auch jeder einzelne Funktionär im Polbüro der KPD – konnte zum Ziel eines Angriffs werden, sich mit der Anklage von Verrat konfrontiert sehen. Jede Parteisitzung konnte zum Tribunal werden. Und eins wird schon früh klar: Für sensible Gemüter gab es in dieser Welt keine Überlebenschance.

Die Repressionsspirale, die die Menschen in der Sowjetunion erlebten, nachdem sich die Macht der Kommunisten etabliert hatte, erlebte auch die KPD selbst. Es ging nie wirklich um ideologische Diskrepanzen. Das Ziel einte sie alle – die Überlebenden und die Ausgestoßenen. Es waren auch keine strategischen Diskrepanzen, stellt Kowalczuk fest, der sich tatsächlich angetan hat, all diese Berge von Sitzungsprotokollen zu lesen, die von den Führungskämpfen in der Spitze der KPD berichteten.

Es ging immer um „Hofkämpfe der Macht“, schreibt er, um Netzwerke und die Stabilisierung der eigenen Person. Was zwangsläufig wieder auf Bündnisse hinauslief, die sich heftig befehdeten und mit einem enormen Vernichtungswillen agierten.

Genossen Feinde

Walter Ulbricht findet man bis zum Ende der 1920er Jahre eher am Rand all dieser Kämpfe, manchmal scheinbar verbündet mit dem einen oder anderen KP-Funktionär, aber eher der Mann in Grau, der sich vor allem um Akten und Organisationskram kümmerte. Also ganz ähnlich wie Stalin. Was am Ende gar nicht überrascht. Denn wer in so einer Partei, in welcher der kleinste persönliche Vorwurf zur Abwahl und zum Ausschluss führen konnte, das meiste Wissen hatte über sämtliche Äußerungen und „Fehler“ der lieben Genossen, der hatte die größte Macht. Auch wenn sich Ulbricht erst spät wirklich in den innersten Zirkel vorarbeitete.

Was auch deshalb nur langsam vonstattenging, weil seine gefühllose, trockene und wohl auch meistens abweisende Art ihm auch Feinde machte – manchmal Feinde fürs Leben, womit nicht einmal Wolfgang Leonhardt und Herbert Wehner gemeint sind, die sich später gründlich von der KPD abwandten. Sondern auch innerparteiliche Feinde, die ihn lange Zeit überstrahlten – so wie Wilhelm Florin oder Franz Dahlem.

Und die erzwungene Emigration ab 1933 entschärfte diese Vorgänge keineswegs. Ausführlich kann Ilko-Sascha Kowalczuk schildern, wie sich die KPD-Führung in oft tagelangen Sitzungen regelrecht zerfleischte und rücksichtslos niedermachte. Doch die Entscheidungen, wen das dann am Ende Amt und Existenz kostete, die fällte da schon lange nicht mehr die Führung der KPD. Diese Entscheidung fiel in Moskau in der Komintern. Auch das arbeitet Ilko-Sascha Kowalczuk immer wieder heraus. Denn Ulbricht berichtete über interne Vorgänge in der Parteiführung in ausführlichen Briefen nach Moskau – immer wieder auch an seinen Genossen vorbei.

Immer wieder gerieten die Streitereien in der KP-Führung derart aus dem Ruder, dass Moskau um Hilfe angerufen werden musste und die ganze zerstrittene Bande zur Klärung in die Hauptstadt des Kommunismus beordert wurde.

Eingebaute Eskalation

„Muttermale der Geburt“, betitelt Kowalczuk eines dieser Kapitel – und setzt ein Fragezeichen dahinter. Denn alle späteren Entwicklungen zeigen, dass es keine Geburtswehen waren, die hier derart entgleisten, sondern dass dieses Hauen und Stechen, die permanente Suche nach Trotzkisten, Verrätern und Abweichlern der Partei neuen Typus immanent waren. Denn wenn sich eine solche Partei selbst als unfehlbar definiert („Die Partei hat immer recht“) und ihre Weltanschauung als wissenschaftlich, dann ist für konstruktive Diskussionen, ehrliche Fehleranalysen, Irrtümer und menschliche Schwächen kein Platz. Dann ist die Eskalation eingebaut.

Selbst dann, wenn diese Partei, wie die KPD in den 1920er Jahren, gar nicht die nötige Massenbasis hatte, um Generalstreiks auszulösen oder auch nur Aufstandsversuche, die irgendeine Aussicht auf Erfolg hatten. Symptomatisch steht dafür der – misslungene – Hamburger Aufstand von 1923, der den Aufstieg Ernst Thälmanns an die Spitze der KPD bedeutete, aber letztlich nur eine peinliche Niederlage war. Bedingt auch durch die falschen Einschätzungen Moskaus zur revolutionären Lage in Deutschlands und zur Kampfkraft der KPD.

Letztlich erzählt aber eben auch Ulbrichts Werdegang von der Tragik, die diese nach Moskauer Vorbild gemachte Partei für sich selbst, aber auch für Deutschland bedeutete. Denn selbst noch über das Jahr 1933 hinaus deklarierte die Partei als ihren Hauptfeind nicht die Nationalsozialisten, sondern die SPD. Gerade weil Kowalczuk alle diese Entwicklungen in den 1920 und 1930er Jahren akribisch nachzeichnet, wird deutlich, warum die spätere DDR genau so wurde, wie sie wurde.

Der tiefe Sinn des Terrors

In Ulbrichts Leben mag es viele Wendepunkte gegeben haben, an denen sein Leben möglicherweise eine andere Richtung hätte nehmen können. Aber der Eindruck bleibt, dass er sich möglicherweise mit einer Rückstufung abgefunden hätte, aber diese KPD nie im Leben verlassen hätte.

In einem Interview für den „Spiegel“ lässt sich Kowalczuk mit den Worten zitieren: „Walter Ulbricht hätte sich für seine Überzeugungen erschießen lassen.“ Aber so streng gläubig waren auch die Kommunisten um ihn herum, die mit der Emigration nach Moskau auch allesamt erlebten, wie der Stalinsche Terror funktionierte, dem auch ein Großteil der KPD-Spitzenfunktionäre zum Opfer fiel. Und mit dem Angriff auf Ulbrichts damalige Lebensgefährtin Lotte Kühn stand auch Ulbricht selbst auf einmal im Mittelpunkt so einer gefährlichen Situation, die für ihn auch mit der Erschießung hätte enden können.

Es war eigentlich sogar egal, welchen Inhalt so eine Anklage hatte. Die Urteile fielen wahllos. Und die Vernichtungsorgie selbst unter den führenden Bolschewiki hatte einen Sinn, den Kowalczuk sehr detailliert herausarbeitet.

Sinn im Sinne des Systems, das Lenin und Stalin da geschaffen hatten. „Die Kommunisten als radikalrevolutionäre Abspaltung waren wegen dieses Pluralismus aus der Sozialdemokratie ausgeschieden – nun konnten sie ihn nicht bei sich dulden.“

Und so gehörten Säuberungen von Anfang an zum Erscheinungsbild dieser Partei. Das disziplinierte nicht nur die eigene Partei, sondern auch die Gesellschaft. Denn wenn der Terror jeden treffen konnte und jeder – rein theoretisch – ein Verräter sein konnte, dann war niemand mehr sicher. Schon gar nicht vor den wuchernden Geheimdiensten, die sich die Kommunisten schufen, weil sie das Misstrauen, das sie gegen die eigenen Leute hegten, nun auch auf die gesamte Gesellschaft übertrugen.

Und das Beklemmende dabei ist – auch darauf weist Kowalczuk hin -, dass auch andere von dieser Art, die Macht mit einer kleinen, militärisch geführten Partei zu erringen, lernten. Der erste war Mussolini mit seinen Faschisten in Italien. Und von dem lernte dann Hitler, wie es geht. Kein Wunder, dass Kritiker in beiden radikalen Bewegungen denselben Geist am Werke sahen.

Wenn Schwäche ein Verbrechen ist

„Die Leninisten strebten einen Staat und eine Gesellschaft an, die nach gleichen Mechanismen funktionieren sollten wie ihre Kaderpartei“, bringt es Kowalczuk trocken auf den Punkt. Wobei man das Wort „funktionieren“ hervorheben darf, denn es beschreibt den mechanistischen Umgang mit einer Gesellschaft, die nach einem Willen zu funktionieren hat, am besten. Doch das ignoriert sämtliche menschlichen Freiheiten, Eigensinnigkeiten, Unzulänglichkeiten.

Oder einmal so formuliert: In so einer Gesellschaft ist Schwäche ein Verbrechen. Sie verlangt im Grunde nach demselben Typus Mensch, wie sich die Kader der Partei selber sahen. Und das ist vielleicht wirklich die Sichtweise, die Walter Ulbricht am greifbarsten macht in seiner ganzen asketischen Lebensweise, seiner Anspruchslosigkeit, was den persönlichen Lebensstandard betrifft, seinem enormen Arbeitspensum und seiner Besessenheit von „guter“ Organisation.

Das machte ihn nicht unangreifbar, rückte ihn aber immer weiter ins Zentrum der Partei, die im Exil erst recht völlig abhängig wurde von Moskau. Und die den Kontakt zu den Kommunisten in Deutschland fast komplett verloren hatte. Darüber konnten auch Ulbrichts enorme Mengen an Berichten, Artikeln und Radiobeiträgen nicht hinwegtäuschen. Nur: Er gab nie auf, suchte sich immer neue Aktionsfelder im Dienst der Partei, ging auch an die Front bei Stalingrad, um mit Lautsprechern in die deutschen Gräben hinüber zu agitieren. Er kannte keine Scheu vor den tatsächlichen politischen Gegnern.

Bestimmt gehört das zu den Punkten, die diese Figur für Kowalczuk am Ende sogar in gewisser Weise beachtenswert gemacht hat. In der Weimarer Republik scheute er sich nicht, mit seiner Garde aus Arbeitersportlern auch in die Wahlkampfveranstaltungen der Nationalsozialisten zu gehen, um dort zu reden.

Und während des Krieges in der Sowjetunion, ging er ohne Scheu in die Lager mit den deutschen Kriegsgefangenen und agitierte nicht nur, sondern suchte auch mögliche Kader für die Zeit nach dem Krieg. Denn dass es dann darum gehen würde, in Deutschland die Macht zu übernehmen, daran zweifelte dieser am Ende zur Nr. 2 in der KPD aufgestiegene Ulbricht nie. Die Nr. 1 war Wilhelm Pieck, nachdem die Nazis 1944 Ernst Thälmann umgebracht hatten.

Terror als politisches Mittel

Doch Ulbricht brachte eben auch das Staatsverständnis der russischen Bolschewiki mit. Ein Staatsverständnis, das Kowalczuk so auf den Punkt bringt: „Es gelang nicht, was angestrebt war, die Gesellschaft nach dem Ebenbild der Partei zu formen. Millionen Opfer eines gigantischen Experiments zeugen davon. Aber nicht nur sie. Dem Leninismus war genetisch eingeschrieben, zu zerstören, zu zersetzen. Terror bringt keine neue Gesellschaft hervor, aber er schüchtert ein. Und das erfolgreich. Bis heute.“

So gesehen ist Kowalczuks Ulbricht-Biographie regelrecht ein Einblick in die Funktionsweise dieser Partei und ihres Führungspersonals, das sich gegenseitig misstraute und bekämpfte. Und das genau jenen Funktionärstypus hervorbrachte, für den auch dieser Walter Ulbricht steht. Dessen durchaus menschliche Seiten Kowalczuk nur zu gern zitiert, wenn es dazu überhaupt einmal verfügbare Quellen gibt. Und gerade da wird ein Mann sichtbar, der sein ganzes Leben der Partei unterordnete.

Ganz sachte macht Kowalczuk hier ein Funktionsprinzip sichtbar, wenn er schreibt: „Nur wer alles aufgegeben hat im Namen ‚der Sache und des Führers‘ – Freunde, Familie, Bekannte, sich selbst -, ist in der Lage, mitzutun, die Hobel hinzunehmen, den Feind in sich selbst zu erkennen und zu entlarven. Diese Unbedingtheit machte kommunistische Funktionäre prinzipiell koalitionsunfähig. Die Gefühlskälte, die den Umgang der Funktionäre untereinander 1929, 1939, 1959 oder 1989 auszeichnete und die vielfach erinnert und beschrieben wurde, hatte hier ihre eigentliche Wurzel.“

Einer wie alle

Man merkt, dass Ilko-Sascha Kowalczuk mit diesem Walter Ulbricht auch herausfinden wollte, warum die DDR so unaushaltbar war, wie sie war. Was wir in diesem ersten Band zu Ulbrichts Biographie erfahren, sind die Wurzeln dessen, was nach 1945 Gestalt annahm. Wäre alles anders gekommen, wenn es nicht der Schneidersohn aus Leipzig gewesen wäre, der 1945 alle Fäden in der Hand hielt?

Die Frage bleibt. Auch wenn die Ahnung im Raum steht, dass es die anderen Spitzenfunktionäre der KPD auch nicht anders angepackt hätten. Sie trennten immer nur winzige Nuancen, egal wie heftig sie sich bekriegten. Und auch ihre Vorstellungen davon, wie ein Staat aufgezogen werden musste, in dem sie regierten, waren letztlich gleich. Der Mensch Ulbricht verschwindet immer wieder hinter dem Funktionär, der sich in Akten, Sitzungen und Organisationsfragen verbeißt.

Und dabei Unmengen von Papieren erzeugt, durch die sich Kowalczuk mit erstaunlicher Akribie hindurchgearbeitet hat. Eine Mammutaufgabe. Man spürt die Hoffnung des Autors, dass er seinen Ulbricht nun endlich einmal loswird, wenn er die beiden Bände zu dessen Biographie endlich veröffentlicht.

Für viele Leser wird dieser Band jedenfalls erstmals sehr deutlich machen, wie die KPD tatsächlich funktionierte und damit auch die DDR, die man nicht wirklich begreifen kann, wenn man nicht weiß, wer sie mit welchen Intentionen eigentlich gegründet hat.

Ilko-Sascha Kowalczuk „Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist“, C. H. Beck, München 2023, 58 Euro.

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Es gibt 2 Kommentare

Danke auch für diese umfangreiche Rezension, Herr Julke.
Das Thema interessiert mich sehr – wenn auch mehr der zweite Band, der folgen könnte. Interessant auch, dass die Biographie in aller Medien-Munde ist, was natürlich auch ein Sommerlochthema sein könnte. Hätte ich dennoch so nicht erwartet.
Es ist so ein Nischenthema, was aber gut gemacht deshalb sehr interessant sein kann. Ich hatte mich mit der gleichen Freude vor einiger Zeit auf das “Garagen-Manifest” gestürzt. Ich hab das Buch aber nach einigen Seiten nur noch durchgeblättert, statt es wirklich zu lesen. Durch das sinnfreie Gendern wird der Lesegenuss einfach zur Sau gemacht. Hier in der LZ geht es ja noch: Wenn ich da schon in der Überschrift oder dem Teaser was von “Minister*innen” oder dergleichen lese weiß ich, ich brauche nicht drauf klicken. Mancher benutzt auch entsprechende Plugins wie “Binnen-I-be-gone”, um die Texte zu normalisieren. Aber bei einem Buch geht das eben nicht.

Spätestens bei “Garagenerbauer*innen”, die damals in Eigenleistung Werte geschaffen hätten, hab ich das Buch dann weg gelegt und in eine der nächsten zu-verschenken-Boxen gebracht. Wer kennt sie nicht, die vielen Frauen, die Betonwände aufgestellt und verputzt haben, in sommerlicher Hitze Dachpappe auf auf Garagen gedeckt und die Elektrik verlegten?
Schade, wirklich schade, dass die Sternchen langsam Einzug in seriöse Bücher halten. In der SZ schrieb jemand, dass auch nicht durchgängig, sondern halbwegs wahllos gegendert würde im Ulbricht-Buch. Dieses “Gerechtigkeits-Konstrukt” bleibt einfach nicht Halbes und nichts Ganzes.

Herr Juhlke,
Sie schreiben immer wieder voller Gewissheit, aber auch voller Ressentiment. Etwas weniger ideologische Vorgefasstheit, dafür aber intellektuelle Gelassenheit zu Ihren Gegenständen würden Ihren Texten gut tun.
Einige Anregungen zur Relativierung des „gefestigten Klassenstandpunktes“
1. die Publikationen von Branko Milanović zum sozialistischen Entwicklungsweg als alternativen und nachholenden Weg der Kapitalisierung (ursprüngliche Akkumulation). Passt auch zur Regression Russlands, das trotz seiner Ressourcen alle Kriege seit dem Krimkrieg verlor, aber 1941 die geschaffene industrielle Basis nutze, verlagerte und ausbaute, um auch mit und trotz großer Menschenverluste gegen den deutschen faschistischen Aggressor siegreich zu bleiben. Über den Preis der sowjetischen Industrialisierung möchte ich jetzt nicht sprechen, erinnere mich aber, dass das historisch analoge Berlin Zilles auch kein Zuckerschlecken gewesen sein soll.
2. Ihre Gewissheiten eines Deutschländers vom Beginn des 21. Jahrhunderts sind nur entfernt anwendbar. Die Phase bürgerlicher Revolutionen, gefolgt von sozialistischen im Gefolge der Katastrophe des 1. WK und der von ihm und ihr verursachten Erosion gesellschaftlicher Verhältnisse zeugt von einer verbreiteten politischen Situation, die Ihr Schreibtischblick nicht erfasst. Ich verweise außerhalb Europas beispielhaft auf die Türkei, Iran, Indien, Mexiko. Auch der Beginn von Artjom Wesjolys „Russland in Blut gewaschen” könnte Sie inspirieren.
Diese Situation wiederholt sich im Rahmen der Entkolonialisierung nach dem 2. WK. Auch hier spare ich mir Ausführungen über die Dialektik der Bewegung der Blogfreien und der zeitgleichen Blogbildungen.
3. Die Klärung der Machtfrage. Mossadegh, Arbenz, Lumumba, Allende und ganz aktuell auch Imran Khan mögen beispielhaft illustrieren, dass die Frage der Machterringung und -erhaltung selbst für progressive bürgerliche Parteien und Politiker weder trivial noch unbedeutend ist. Die Anfeindungen, denen sich die kommunistischen Sowjetunion und der Kommunismus an sich ausgesetzt sahen, wie auch die blutig gescheiterte deutsche Revolution von 1919 sind Lehren, die sich allen historischen Akteuren tief eingebrannt haben. Und auch dies sollten wir als historischen Fakt und nicht moralisierend sehen. Wie selbst in einer Demokratie die Machtfrage und politische Alternativen neutralisiert wird, konnten Sie eindrücklich nach 1990 und auch ab 2022 erleben. In beiden Fällen entsprach der politische Verlauf nicht dem der Wahl zugrunde liegenden politischen Programm. Ein SPD-Politiker hat das „Anspruchsdenken“ der Wähler einmal schön in Worte gefasst.
Viertens Sie bauen, wie auch in Ihrem Artikel zu Arno Dahmer, gern einen Gegensatz zwischen kalter Theorie und heißer gelebter Praxis auf. Sie vergessen, dabei zu verdeutlichen, dass jede gesellschaftliche Entwicklung auf einem mehr oder weniger fundiertem theoretischen Programm aufbauen sollte – Agenda 2010, Aktienrente, ausbleibende Vermögenssteuer … Ist das nicht eher Intellektuellenfeindlichkeit, die sonst aus einem ganz anderen politischen Lager tönt?
Nebenbei, gerade in einem Artikel über Kowalczuk von der „Unaushaltbarkeit der DDR“ zu schreiben ist sehr vermessen. Er hat sich gerade jüngst mehrfach dazu geäußert, dass der Großteil der DDR-Bevölkerung seien Frieden mit dem Staat geschlossen hatte. Von mir auch wieder nur als Fakt und nicht moralisierend aufgeführt.

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