Vorgeschlagen, diese Texte in der Reihe Ornamente zu veröffentlichen, hat Wulf Kirsten noch selbst. Auch die Illustratorin hat er sich gewünscht. Am 14. Dezember 2022 ist der Dichter gestorben. Immerhin 88 Jahre alt. Da hat man was zu erzählen. Auch über eine nächtliche Fahrt auf der Autobahn, die für den Berlinausflügler beinah tragisch geendet hätte. Und das mit Stil.
Was zu betonen ist in einer Zeit, in der viele Leute viel schreiben, aber die Meisten gar kein Gefühl für die Sprache, ihre Stärken und Schönheiten haben. Aber Wulf Kirsten hat es gelernt. Nach vielen Umwegen, wie er selbst erzählt. Umlenkungen, wie das damals hieß, als höhere Instanzen darüber befanden, wo ein Mensch eingesetzt wurde, ob er eine Chance zu höherer Bildung bekam. Oder mit der Versetzung in die „sozialistische Produktion“ bestraft wurde. Wie das damals ebenfalls hieß.
Und Kirsten hatte Glück, denn er traf auf Lehrer und Förderer, die ihm Türen öffneten und ihn ermunterten, das Abitur nachzumachen und zu studieren. Und am Ende landete der Junge aus dem Meißner Land in Thüringen, justament in der alten Klassikerstadt Weimar, wo er dann zwei Jahrzehnte als Lektor tätig wurde. „Mit der Akribie des unbestechlichen Spracharbeiters gab er Bücher heraus, deren Autoren nicht zum Kanon des sozialistischen Realismus gehörten“, schreibt Verleger Jens-Fietje Dwars in seiner kleinen Würdigung für den „Landschafter Wulf Kirsten“.
Wer nicht fragt, erfährt auch nichts
Bekannt wurde Kirsten – zuerst natürlich im Osten – als Dichter. Er zählt zu den unverwechselbarsten Stimmen der Sächsischen Dichterschule.
Doch in diesem Band zeigt er sich als feinfühliger Prosaautor. Als Wanderer sowieso. Denn die Welt erschließt man sich mit den Füßen. Notgedrungen in Zeiten, da fahrbare Untersätze gar nicht (mehr) zur Verfügung standen, weil sie im Krieg fast alle zerschossen wurden. Und auch später bevorzugte der Junge aus Klipphausen bei Meißen, seine Wege zu Fuß abzulaufen. Auch bei höchst widrigem Wetter wie in der Erzählung „Exkursion nach Weitzschen“, in der er 2008 nach Spuren und Gesprächspartnern sucht, die ihm die Ereignisse vom Frühjahr 1945 erklären können, als hier ein versprengter Rest der Wehrmacht mit unzulänglichen Waffen gegen die vorrückenden Panzer der Roten Armee kämpfte.
Nicht alles steht in den Geschichtsbüchern. Und gerade Zeiten nach Kriegen sind unübersichtliche Zeiten, in denen Menschen einfach verschwinden, Ereignisse nicht dokumentiert werden und nur die Erinnerung der Dorfbewohner die Ereignisse noch lebendig erhält – mit Irrtümern und eigenwilligen Interpretationen durchsetzt.
Als Lektor und Autor kannte Wulf Kirsten das Phänomen. Menschen glauben so leicht an Geschichten, die sie sich zurechtgelegt haben. Und selten taucht einer auf wie dieser neugierige Kirsten, der es genauer wissen will. So forschte er in „Der Verschollene“ auch dem Schicksal eines Mitschülers nach, der von der Schulbank weggeholt wurde und dann einfach verschwand. Ohne Urteil, zuletzt ohne Nachricht für die Eltern. Wahrscheinlich einfach in sowjetischer Haft erschossen dafür, dass er noch in den letzten Kriegstagen zum „letzten Aufgebot“ befohlen wurde.
Erschossen wie so viele, mit denen „kurzer Prozess“ gemacht wurde, während wirklich schuldig gewordene Wehrmachtsgeneräle im Westen neue Karrieren begannen oder selbst vom Osten Angebote bekamen, hier eine neue Armee aufzubauen.
Die krummen Wege des Lebens
Da Kirsten sich aber vor allem für das Schicksal der ganz gewöhnlichen Menschen aus seiner Nachbarschaft interessiert, wird die wortlose Tragik dieser Ereignisse spürbar, die sinnlose Brutalität des Krieges und seiner Anstifter. Und auch die Gnadenlosigkeit der selbsternannten „Sieger der Geschichte“.
Und er selbst? Beinah hätte er die Gelegenheit genutzt, mit dem Fahrrad nach Westberlin abzuhauen. Doch der Polizist, den er dort nach dem Auffanglager fragte, forderte ihn einfach auf, wieder in den Osten zurückzukehren. Manchmal sind es nur solche Worte, fehlende Auskünfte, die Angst vorm Ertapptwerden, die dann Lebenswege bestimmen. In diesem Fall freilich auch ein Abenteuer, das für den jungen Radfahrer beinah tragisch ausging, auch wenn es noch eine Zeit war, in der man tatsächlich noch mit Fahrrad auf den Autobahnen fahren konnte. Nur endete so manche Strecke nicht grundlos an Sperren und Geländern.
Wer lenkt da also? Und was liegt in der Hand des Fahrers? Eine nicht ganz abwegige Frage für alle, die wie Wulf Kirsten in der DDR erwachsen wurden und ihren Platz suchten, an dem sie sich richtig fühlten. Oder suchen gar nicht alle diesen Platz? Und sind deshalb so unglücklich in ihrem Leben? Eine Frage für die Gegenwart. Die lassen wir hier einfach stehen.
Wenn falsches Denken auch Zeitenwenden überdauert
Die Nachkriegszeit war eine Zeit vieler solcher Suchen. In „Die Steinbrecherhütte“ und „Steinmetzgarten“ erzählt Kirsten die Geschichten zweier eigenwilliger Männer, die sich in dem so planvoll-planlos aufgebauten Land ihre eigene Enklave schufen, ihr eigenes Stück Unabhängigkeit. Geduldet, ignoriert, am Ende aber auch ein Störfaktor in den Plänen der Genossen, die die sozialistischen Wohnstädte aus den fruchtbaren Äckern stampften.
Die sogar von Agrarstädten träumten, um die eh schon riesigen Felder der LPGs noch riesiger, noch einfacher mit industriellen Methoden beackern zu können.
Eine Strategie, die zwar nicht mehr umgesetzt wurde. Aber dieses Denken in Kategorien größtmöglicher Verwertbarkeit ist mit den Genossen nicht verschwunden. Das blieb auch nach 1990 munter am Leben und sorgt genau für das, was heute die Politik in Sachsen derart orientierungslos macht. Denn mit den Bauern, die einst die Dörfer prägten, verschwand auch der Sinn für das Gemeinsame und den Wert der beackerten Flächen. Die Dörfer verödeten, die jungen Menschen zogen fort. Genau hier begann – nach der kurzen Euphorie der 1990er Jahre – der Zweifel daran, dass der Osten je auf die Beine kommt. Hier lebt der Unmut, lodert die Wut. Denn der Verlust ist allgegenwärtig.
Wahrscheinlich muss man wirklich erst mit den Augen eines erfahrenen Erzählers durch diese Landschaft laufen, um zu sehen, was eine unbelehrte Politik anrichten kann.
Zu Fuß erlebt man mehr
Und mit seinen 2016 erstmals veröffentlichten „Elbsandsteinexkursionen“ zeigt sich Kirsten endgültig als Wanderer, der die ganze Sächsische Schweiz kreuz und quer erlaufen und erklettert hat. Ist ja nicht weit von Thüringen aus, wo er als Lektor im Aufbau Verlag tätig war, wo er auch seine Stimme in die Waagschale warf, dass der „breitplatschige Erzähler“ Willibald Alexis mit seinem Roman „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ nicht wieder aufgelegt wurde.
1.200 Seiten, die auch für Kirsten eine Qual waren, der dann einen Satz schreibt, der deutlich macht, warum von den einst umjubelten Romanciers des Wilhelminische Kaiserreichs so gut wie keiner überdauerte: „Dennoch lehrte mich dieser Gang durch ein trübes Kapitel preußischer Geschichte zu begreifen, wie weit sich Theodor Fontane mit seiner geschmeidigen, federnden Prosa und seinem eloquenten Plauderton von seinen Vorgängern entfernt hatte – zur Lesefreude und zum Lesbaren hin auch für kommende Geschlechter.“
Die faule These, Fontane sei der literaturgeschichtliche Übergang von Alexis zu Thomas Mann, wirft er gleich als völlig untauglich in den Papierkorb. Und es geht ja nicht nur um die Eloquenz beim Schreiben. Sondern auch um das genaue Erzählen, das auch ein authentisches sein sollte. Das hat mit Schauen und Denken zu tun (einmal abgesehen davon, dass sich mit Kirsten und Fontane zwei große Wanderer begegnen). So wie Kirsten eben auch seine Gedichte schrieb, in denen er den unverstellten Blick auf „seine“ Landschaft pflegte. Genaues Hinschauen macht genaues Schreiben erst möglich.
Und das demonstriert er in diesem Band nun auch in Prosa. Lässt die Nachkriegszeit im Raum Dresden wieder greifbar werden, aber auch die lange Suche nach einer menschenwürdigen Behausung in Weimar. Ein Kabinettstück, in dem auch die Kargheit ostdeutscher Wohnbedingungen bis weit in die 1970er Jahre erlebbar wird. Und das Gesättigtsein mit Geschichten – so wie in „Das Uhrmacherhaus“. Eine Geschichte aus einer Zeit, als Menschen sich noch erzählten, was sie für erzählenswert hielten, weil das moderne Eremitendasein vorm Fernseher noch nicht existent war. Und es sogar noch Schneidermeister gab, weil man nur so zu halbneuen oder gut geschneiderten Bekleidungsstücken kam.
Eine erzählbare Landschaft
Wer so auf seine Mitwelt schaut, verklärt sie nicht. Der hat höchstens ein Zeitproblem, alles noch aufzuschreiben, was des Erinnerns wert ist. Sodass diese autobiografische Prosa aus dem Nachlass dann doch ein wenig wie unvollendet wirkt. Nicht wirklich abgeschlossen durch die Erlebnisse im Elbsandsteingebirge. Auch wenn Kirsten – „statt eines Nachworts“ – noch eine Hommage an die Landschaft seiner Kindheit bei Meißen beigesteuert hat: „Geflügelter Landstrich“.
In der er natürlich nicht unterlässt, ein paar alte Heimatchroniken bildlich in der Luft zu zerreißen, weil die Autoren lieber fantasievolles Zeug erfanden, als sich wirklich mit der Geschichte einer Region oder der Burg Scharfenberg zu beschäftigen. Auch das ein erwanderter Ort. Teil eines Beziehungsflechts, das auch den altgewordenen Dichter immer noch verband mit dieser erzählbaren Landschaft bei Meißen.
„Die Faszination des Kargen“ ist Kirstens Beitrag über die Künstlerin Susanne Theumer in einem 2011 erschienenen Künstlerbuch betitelt. Der Text steht doppelt richtig auch in diesem Buch. Denn der Titel trifft auf Kirstens Texte genauso zu wie auf die beigegebenen Illustrationen von Susanne Theumer, die auf das narrativ Sinnfällige völlig verzichten, von dem es in den üblichen touristischen Landschaftsaufnahmen ja nur so wimmelt. Aber gerade durch ihre Kargheit wirken diese Kaltnadelradierungen wie Eingangssätze in eine Geschichte, die noch zu erzählen wäre.
Es muss sich nur einer finden, der in das Bild hineingeht und sich die Geschichte erläuft. So wie Wulf Kirsten, den auch alle, die ihn als Prosaautoren noch nicht kennen, mit diesem Nachlass für sich entdecken können.
Und die Kenner wird es auch nicht überraschen, dass es in Klipphausen seit 2019 – erweitert 2023 – einen Wulf-Kirsten-Wanderweg gibt.
Wukf Kirsten „Nachtfahrt“, Edition Ornament im quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2023, 22 Euro.
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