Ein angenehmer Zeitgenosse ist dieser Markward Hain nicht. 45 Jahre alt, alleinlebend. Dr. Markward Hain. Auf Stil und Umgangsformen legt er Wert, auf Distanz erst recht. Seine Vorbilder sind die großen eremitischen Philosophen, Typen wie Wittgenstein, Kierkegaard, Stirner. Seit Jahren sitzt er über seiner Habilitationsschrift. Aber seine Brötchen verdient er sich als Lehrer in Kursen für Deutsch als Fremdsprache. Menschen mag er eigentlich nicht.

Da helfen gerade diese hochstirnigen Philosophen nicht, die sich über Sinn und Welt und Deutungen derart flauschige Gedanken gemacht haben, dass alle Welt staunt – aber nichts davon im wirklichen Leben irgendeine Rolle spielt. Kopfwelten, in denen dieser Dr. Hain sich wohl zu fühlen scheint. Selbst mit seiner Freundin Seraphina unterhält er sich, wenn er mal mit ihr in einem Café sitzt, über die großen blühenden Gedanken der Philosophen. Und sie geht darauf ein. So scheint es. Als würde es sie reizen, sich mit dem stets in dezentes Schwarz gekleideten Philosophen zu treffen, der sich in seine kleine Wohnung irgendwo in einer mittelgebirgigen Landschaft zurückgezogen hat.

Und man fragt sich die ganze Zeit: Was verbindet die beiden eigentlich miteinander? Was wollen sie voneinander?

Und dann stirbt seine Tante Hildegard, irgendwie die letzte Person, mit der er ein bisschen mehr als nur eine unpersönliche Beziehung hatte. Aber das löst die Geschichte nicht aus, die dann doch ins Rollen kommt. Denn nicht einmal dieser Tod geht ihm nahe. Er lässt das Haus der Tante, bei der er nach dem Unfall seiner Eltern aufwuchs, von einer Firma entrümpeln, kümmert sich nicht weiter. Ein Mann ohne Schatten. Ein Mann ohne Geschichte. Und so smart sind seine Umgangsformen auch nicht. Das bekommen nicht nur seine Schüler zu spüren, sondern auch seine Kollegen.

Provisorische Lebensläufe

Nur eine bringt dann tatsächlich alles durcheinander: die Installationskünstlerin Isabel, die in einem Waldlokal bedient und den Moment, in dem sich der mäklige Wanderer über den Kaffee beschwert, dazu nutzt, ihn zur Rede zu stellen. Denn anders als dieser Dr. Hain ist sie es gewohnt, die Dinge anzupacken, ernst zu nehmen und in Frage zu stellen. Auch wenn sie als Künstlerin nicht weiter kommt. Am Ende wird sie Lehrerin. Was natürlich auffällt – denn dieser Dr. Hain lebt auch in einer Welt der Provisorien, wie sie viele junge Leute erlebt haben, die wie der Autor Arno Dahmer um 1970 geboren wurden.

Es ist – in Ost wie West – die Generation, die all die schönen Arbeitsmarktexperimente am eigenen Leib erlebt hat, die ganze Berufsfelder entwerteten und Karrieren kaum noch planbar machten. Auch Seraphina lebt irgendwie zwischen Baum und Borke und verdient als freie Journalistin nur das Nötigste. Doch warum sie sich mit Markward Hain trifft, sagt sie ihm nicht ins Gesicht. Als hätte eine ganze Generation verlernt, von sich selbst zu sprechen und ihre Bedürfnisse anzumelden. Oder diese überhaupt erst zuzulassen.

Denn was treibt diesen Dr. Hain eigentlich um im Leben? Was will er eigentlich noch? – Was er über Seiten hin reflektiert, ist nichts als der ausgestellte Stolz auf sein Eremitentum, auf die Show, die er letztlich abzieht – für Andere, die er mit einem Lächeln und ziselierten Sprüchen beeindruckt. Und die er trotzdem verachtet – so wie den Hausbesitzer oder den gescheiterten einstigen Kollegen aus der Welt der Deutschkurse.

Das eigene Leben regelrecht zum Mythos stilisiert. Ein Mythos, der eigentlich komplett in die Brüche geht, als er bei einem Aufstieg auf den nächsten hohen Berg mit drei betrunkenen Bikern aneinander gerät. Sie regelrecht provoziert, weil er meint, genau da stehen zu müssen, wo sie sitzen.

Der (un)verwundbare Mann

Es sind solche Stellen, die einen stutzen lassen, ganz so, als würde sich in der gefühllosen Haltung dieses nur noch auf sich fixierten Dr. Hain etwas spiegeln, was unsere ganze Gesellschaft durchzieht. Eine Fixiertheit auf das eigene Wollen und Haben und Dürfen. Dieses Agieren, als stünde es einem zu, anderen zu zeigen, wo die Grenzen sind, der Hammer hängt, der eigene Anspruch, immerfort auch zu bekommen, was man will.

Was diesen Markward Hain völlig vergessen lässt, dass er tatsächlich verletzlich ist. Muskel besiegt Hirn. Eindeutig. Und folgenreich, auch wenn dieser Niedergeprügelte dann immer noch so tut, als müsse er Ruf und Gesicht wahren. Diese ganze so stolz über Jahrzehnte aufgebaute Maske, die der Welt Genialität und Unverwundbarkeit vorspiegeln soll.

Dass Arno Dahmer das in einem Stil erzählt, der einen an die Romane der Neuen Sachlichkeit erinnert (man denke an Erich Kästners “Fabian”), verstärkt den Moment der völligen Weltfremdheit, der geradezu zur Weltverachtung geronnenen Pose. Doch als dieser Dr. Hain dann mit zertrümmerter Nase und blauen Flecken am Körper darnieder liegt, bleibt auf einmal nur noch diese seltsame Kaffeehausbegegnung Isabel, die er anrufen kann. Auch wenn er sich bis fast zuletzt nicht eingesteht, warum ihm diese Frau nicht aus dem Kopf geht und was er eigentlich von ihr will.

Was er sich eigentlich gar nicht fragen wollte. Aber meist braucht es solche Frauen, damit Männer aus ihrer verkorksten Pose herausfinden und hinter der von Heiligenschein beleuchteten Maske der kleine Junge zum Vorschein kommt, der eigentlich alle die zurückliegenden Jahre nur dazu genutzt hat, sich vor sich selbst zu verstecken.

Wer lebt, macht sich verletzlich

Denn das ist das Problem, das alle diese Kierkegaards so gedankenvoll vermieden haben: Dass der Mensch gar nicht anders kann, als sich schuldig zu machen im Leben, sich preis zu geben und verletzlich zu machen. Es müssen nicht einmal prügelnde Rocker sein, die einem klarmachen, dass alles elitäre Gehabe nicht die Bohne nutzt, wenn es ums blanke Leben geht. Es können auch Frauen wie Isabel sein, die es nicht akzeptieren, dass einer sich so hinter seiner philosophischen Attitüde versteckt und immer dann ausweicht, wenn es persönlich wird. Wenn es genau um diesen Markward Hain geht, der es in langen inneren Monologen immer wieder weit von sich weist, dass er sich eigentlich davor fürchtet, sich auf andere Menschen einzulassen.

Der Hausbesitzer bekommt es mit heftigen persönlichen Angriffen zu spüren, in denen irgendwie ein ganzes Phänomen heutiger rabiater Unduldsamkeit durchzuschimmern scheint, in der jeder nur noch seine eigene Position als richtig und unangreifbar versteht. Fast logisch, dass dieser Dr. Hain keine Freunde hat, bestenfalls unverbindliche Bekanntschaften. Über seine Beziehungsangelegenheiten zu Isabel spricht er mit einem Kollegen, als ginge es nur um die Lösung einer Aufgabe nach dem männlichen Schema F.

Aber da ist er mit Isabel ganz eindeutig an die Falsche geraten. Denn Isabel steht für eine Unbedingheit, die so eine Berührmichnicht-Pose nicht aushält. Sie dringt auch in das Leben dieses Eigenbrötlers ein, weil sie diese Unverbindlichkeit nicht aushält. Was ihr in anderen Beziehungen genauso geht. Und damit steht sie natürlich für den Kern dessen, was Feminismus eigentlich ausmacht. Da geht es nicht um Gehalt, Gendern oder irgendetwas anderes rein Symbolisches. Es geht um Wahrgenommenwerden, um Ernstmeinen, um Ehrlichsein.

Wahrscheinlich sind es all diese Dinge, die einen Isabels (gar nicht mal offen geäußerte) Wut auf diesen Möchtegern-Philosophen nur zu gut verstehen lassen. Sie ist es, die die Dinge in Bewegung bringt und die diesen Markward dazu bringt, endlich auch mal über sich selbst zu sprechen. Sie ist es, die sich der männlichen Verfügbarkeit entzieht und nicht bereit ist, die Unberührte für diesen Mann zu sein, der sich selbst nicht preis geben will.

Die Maske vorm Spiegel

Da steckt also ein ganzes Stück stiller Kritik an heute nach wie vor noch weit verbreiteten Rollenspielen drin. Es sind zwar nicht viele Männer, die sich wie dieser Dr. Hain in philosophischen Scheingefechten einigeln. Aber der Rollen, in die sie sich verflüchtigen können, gibt es mehr als genug. Das muss nicht mal der sogar aufs Scheitern so stolze Deutschlehrer sein. Das kann auch der von seinen Finanzen berauschte Mansager sein, der tolle PS-Freak oder der Spezialist für bürokratische Ablagesysteme. Alles Passionen, für die man sich berauschen kann – die aber oft genug nur eine Ausrede dafür sind, dass Mann sich schön fein raushält aus den Malaisen des Lebens, dem Sprechen über Gefühle und auch dem Zeigen vom Schwäche.

Was ja letztlich das Grundmotiv ist, mit dem dieser Dr. Hain so lange wie möglich seine Maskerade aufrecht erhält. Bis er vorm Spiegel selbst feststellen muss, dass ihn das Leben und das Älterwerden trotzdem beuteln. Und dass die Vorstellung, drei Kinder mit einer Frau wie Seraphina zu haben, vielleicht doch nicht so abwegig ist. Auch wenn er es genial fertigbringt, Seraphina noch einmal so richtig auflaufen zu lassen.

Da werden Leserinnen ganz bestimmt deftigere Ausdrücke finden.

Am Ende ist dieser Dr. Hain dann doch auf dem Weg zu Isabel. Zumindest ahnend, dass jetzt eine Entscheidung fällig ist. Und er nicht weiß, was am Ende dabei herauskommt. „Nun war es also gewiss, dass seine bisherige Existenzform bis in die Grundfesten geschleift werden würde.“

Mit 47 Jahren ganz gewiss ein überraschender Moment. Aber manchmal braucht es eben gerade Frauen wie Isabel, die das Unaussprechliche aussprechen und das Undenkbare in Gang setzen. Aber sie wollen, dass es ernst gemeint ist. Auch das so ein sacht geäußerter Vorwurf an diesen philosophischen Abwehrspieler: Das Leben ist kein Spiel. Und wer alles immer nur als ein Rollenspiel betrachtet, verpasst da Eigentliche. Denn das beginnt, wenn man es mit anderen Menschen tatsächlich ernst meint. Und das ist nun einmal das Gegenteil von Unverbindlichkeit. Da hilft kein Kierkegaard und auch kein Wittgenstein. Da hilft nur festes Schuhwerk und der Mut, sich auf die Anderen einzulassen. Gar auf Frauen wie diese Isabel.

Arno Dahmer „Ein Mythos von mir“, Kul-Ja Publishing, Erfurt 2023, 22 Euro.

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