Er hat Friedrich Schorlemmer, Regine Hildebrandt und Gregor Gysi interviewt, hat Bücher zu Stephan Hermlin, Ursula Karusseit, Günter Gaus und Franz Mehring veröffentlicht. Von 1992 bis 2012 war er Feuilletonredakteur beim „Neuen Deutschland“. Da erschienen etliche der kleinen Vignetten, mit denen Hans-Dieter Schütt seine „Liebeserklärung an Komödianten“ formuliert hat. Solche vom Theater, und weltberühmte aus dem Film.

Nur ganz wenige in dieser Auswahl – genau drei Stück – stammen aus der Zeit vor 1989, als Schütt erst als Filmkritiker bei der „Jungen Welt“ tätig war und ganz zuletzt – 1984 bis 1989 – auch Chefredakteur dieser von der FDJ herausgegebenen Tageszeitung. Und damit auch verantwortlich für einige bitterböse Kommentare, mit denen er die Perestroika in der Sowjetunion genauso attackierte wie die Bürgerbewegung in der DDR. In seinem Buch „Glücklich beschädigt. Republikflucht nach dem Ende der DDR“ setzte er sich mit der eigenen Lebensgeschichte auseinander.

Immerhin. Das taten nicht wirklich viele derjenigen, die in die Macht- und Propagandastrukturen der SED eingebunden waren und funktionierten bis zum letzten Tag. Und dann da standen, mit ihrer Lebensgeschichte. Wer war dran schuld? Das System? Die Partei? Die Umstände?

Was macht das mit einem?

Und was hat man eigentlich mit sich selbst gemacht? Dass Schütt auch vorher lieber gern Film- und Theaterkritiker geblieben wäre, das zeigt dieses Büchlein mit weit über 100 kleinen Vignetten. Würdigungen für Schauspielerinnen und Schauspieler. Manche direkt als Resümee einer Theatervorstellung entstanden. Würdigungen für Mimen und Aktricen, auch für ein paar Komödianten. Doch eigentlich dominieren die Könner und Beherrscherinnen der Kunst des Schauspiels. All jene meist auch von vielen geliebten Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich einfach durch die Art ihres Spiels in die Herzen der Zuschauer gespielt haben.

Und nicht nur ostdeutsche, auch wenn man merkt, dass das Deutsche Schauspiel in Berlin so eine Art Heimatbühne für Schütt war. Oder ist. Denn er schreibt ja immer weiter, veröffentlicht seine kleinen Vignetten auch heute noch im „Neuen Deutschland“. Manchmal zu runden Geburtstagen der Berühmten, manchmal (und immer öfter) freilich auch, wenn wieder eine oder einer der ganz Großen gestorben ist. Darüber erschrickt man ja zuweilen, denn mit diesen Menschen ist man ja irgendwie aufgewachsen, hat sie in Dutzenden bewegender Rollen erlebt.

Auch wenn man nicht unbedingt im selben Zeitfenster in die Filmwelt eintauchte wie Schütt, für den Claudia Cardinale und Alain Delon zu Lebens-Fixpunkten wurden. Die Leinwandstars altern ja nicht. Auch in unserer Erinnerung bleiben sie jung.

Und dann fällt man aus allen Wolken, wenn sie trotzdem sterben. Max von Sydow („Der Dunkle“), Bruno Ganz („Ausruhsam“) oder Rolf Hoppe („Erotik des Bösen“). Trotzdem schreibt Schütt keine Nachrufe, auch keine Theaterkritiken. Ihn interessieren vor allem die Schauspieler, die ihn da vorn auf der Bühne oder im Film in den Bann gezogen haben. Und deren Wirkung er zu begreifen versucht. Kann man so etwas beschreiben?

Rollenspiel des Lebens

Er versucht es jedenfalls. Jedes Mal aufs Neue. Weil jede und jeder, der da vorne spielt, einzig ist. Manche haben ihre Marotten, manche beherrschen die hohe Kunst, mit ihrem Publikum zu spielen. Doch in der Essenz wird immer wieder deutlich, dass die wirklich Guten und Talentierten immer mehr sind als ihre Maske. Sie lassen sich von ihrer Rolle nicht schlucken, sondern spielen eigentlich sich selbst. Die Rolle muss sich fügen. Oder wird eben zur Vorlage, wenn eine Jutta Hoffmann oder ein Dieter Mann sie verkörpern, wie es so schön heißt. Obwohl sie sie erst bereichern, aufladen mit ihrer ganzen Kunst und Präsenz.

Bis man sich die Rolle ohne den konkreten Schauspieler gar nicht mehr vorstellen kann.

„Wir schauen ihnen zu und sind beglückt, berauscht und weggerissen aus jener Profanität, die wir unser Leben nennen“, schreibt Hans-Dieter Schütt im Text, der irgendwie als Einführung dient in seine Art, die Schauspielkunst zu betrachten: „Der Schein trägt“. Denn das gelingt ja tatsächlich den Hochbegabten da vorn: Sie brauchen gar nicht viel, und das, was sie uns zeigen, trägt. Bannt. Zieht uns hinein. Deswegen gehen manche Menschen noch heute gern ins Theater. Nicht wegen der meist höllisch verkorksten politischen Botschaften, mit denen Regisseure auch die großen Klassiker gern verwursten. Sondern wegen der Schauspieler, die einem zeigen, wie sehr man präsent und ganz Mensch sein kann. Auch wenn es nur gespielt ist.

Nicht ganz grundlos kommen Schütt in der Einführung die Politiker dazwischen, denen man oft genug vorwirft, eine Rolle zu spielen, eine (falsche) Maske aufzusetzen. Als wenn ihnen das Maskieren und Rollenspielen verboten wäre. Was stimmt: Die meisten sind schlechte Schauspieler, mit ganz miserablen Texten. Und die meisten beherrschen auch nicht die wichtigste Kunst, mit der Schauspieler nun einmal Wirkung entfalten: die ganze und eindrucksvolle Präsenz. Das Unverwechselbare und Eindeutige, das nicht nur Aufmerksamkeit schafft, sondern auch Vertrauen.

Mach dir ein Bild

Der Seitenhieb von Schütt ist berechtigt. Manchmal darf man auch aus der eigenen Lebensgeschichte lernen. Auch diese immer gültige Lektion: „Wer Schauspiel betreibt, übertritt ein religiöses Urgebot: Du sollst dir kein Bildnis machen! Vom Bildnis aber leben Kino und Theater.“

Und nicht nur die. Wer von sich kein Bildnis zeigen kann, das überzeugt, der überzeugt auch nicht. Das gilt sogar im Liebesleben. Nur vergessen es die meisten und werden behäbig, diffus und unerkennbar. Keine Rolle ist auch eine Rolle. Und meistens keine gute.

Aber die Bewunderung wird dann in jeder einzelnen Miniatur spürbar. Schütt ist in jedem kleinen Text der Mann im Publikum, der hinaufschaut zur Bühne und den Könnern beim Arbeiten zuschaut. Und das Staunen nicht verbirgt, auch wenn ihm die Worte fehlen, selbst wenn er die kleinen Texte mit Bildern auflädt. Er will wirklich vermitteln, was er gesehen hat. Und was er für das Besondere und Außergewöhnliche an den Schauspielerinnen und Schauspielern wahrnahm, die er würdigt.

Ob er getroffen hat oder die Porträtierten sich tatsächlich ertappt fühlten, können nur sie selbst sagen. Etwa ein Eberhard Esche, den Schütt beim Rezitieren von Goethe-Gedichten porträtiert hat: „Esche knirscht, singsangt, schnurrt. Da ist er, sein geübter Manierismus, mit dem er Satzmelodien dehnt …“

Was weiß der Beobachter tatsächlich über den Bestaunten? Ist das der Esche, den alle im Publikum gesehen haben? Oder sieht jeder einen anderen Schauspieler da oben agieren?

Ohne Maske auf der Bühne

Dass Manierismus nichts Ehrenrühriges ist, wenn einer die Kunst beherrscht, Goethes Texten das Menschliche, Wilde und Versteckte abzuluchsen, darf erwähnt werden. Esche war einer von denen, die auf der Bühne gezeigt haben, wie man Gedichte lustvoll zelebrieren kann. Anders, als es das schulische Rezitieren-Müssen den jungen Menschen beibringt.

Und natürlich erwähnt Schütt, dass zum Schauspielen etwas gehört, was die meisten Menschen sich ein Leben lang nicht trauen: Sich ganz zu entblößen. Und sich – mit nichts bewaffnet als der Fähigkeit zur vollgültigen Verwandlung – den Blicken eines Publikums auszusetzen. Und damit doch etwas auszustrahlen, das Schütt z. B. bei Jutta Hoffmann so beschreibt: „Das ist das Wesen dieser Schauspielerin: nicht unterdrückbar zu sein. Diese zarte Frau, in der eine lustvolle Schwerstarbeiterin steckt, ist just im Medium der Gaukler ein authentischer Mensch geblieben …“

Man merkt: Es wird auch persönlich. Da sitzt einer mit einer krummen Lebensgeschichte und bewundert die Geradlinige da vorn. Wie hätte das Experiment DDR eigentlich ausgesehen, wäre es von geradlinigen Menschen gemacht worden?

Aber so muss man sehen – als Publikum – lernen, und darin hat gutes Theater in der DDR (und am Deutschen Theater bekam man gutes Theater) auch immer geholfen: als Überlebenshilfe. Erst recht dann, wenn die Schauspieler in zwiespältige Rollen schlüpften wie den Wallenstein, des Woyzeck oder die des Dorfrichters Adam. Oder in die des Gretchens im Faust, in deren Rolle begnadete Aktricen die Gretchenfrage genau so stellen konnten, dass der Zuschauersaal wusste: Hier geht es nicht mehr um Kirche und Religion. Hier geht es um die eigene Lebenshaltung.

Und das ist mit dem Untergang der DDR nicht abgegolten. Das gilt immer. Die großen Mimen stellen, wenn sie spielen, immer wieder genau solche Fragen, stellen sie in den Raum und lassen sie da stehen. Fange jeder im Publikum damit an, was er kann. Oder sich zutraut.

Die Freiheit des Publikums

Auch wenn diese in Vignetten gepackte Bewunderung Schütts für die hier ausgewählten Schauspielerinnen und Schauspieler wie aus der Zeit gefallen wirken: Hat unser mediales Zeitalter überhaupt noch Platz für diese Intensität? Spielt Theater überhaupt noch diese intensive Rolle?

Was sich natürlich nicht beantworten lässt. Genauso wenig wie die Frage, ob sich die Leser dieser Miniaturen in ihrer Sicht auf die Porträtierten wiederfinden. Diese Freiheit ist ja die Freiheit des Publikums: mit eigenen Augen zu sehen. Weshalb Theater schon immer subversiv war. Gepflegte Subversion. Aber die geht nicht von den so gern bemühtem Provokationen der Regisseure aus, sondern von den Menschen da vorn auf der Bühne.

Dieser Umstand bringt Schütt eigentlich zu einem lebenswichtigen Gedanken: „Das Große an den Großen ist, dass sie nicht der Eitelkeit unterliegen, etwas zu spielen, womit sie nichts zu tun haben. So sollte Dasein überhaupt bleiben dürfen: nichts leben, womit man nichts zu tun hat.“

Das ist mal ein Lebensmotto. Aber manchmal findet man es eine ganze Ecke zu spät.

Hans-Dieter Schütt „Liebeserklärung an Komödianten“, Edition Ornament im quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2023, 20 Euro.

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