Was ist eigentlich in den 40 Jahren DDR in Leipzig gebaut worden? War das denn nicht eine katastrophale Zeit mit flächendeckend vernachlässigter Bausubstanz, jahrzehntelangen Kriegsbrachen und einem Wohnungsbauprogramm im Schlamm auf der Wiese? Wirklich systematisch untersucht hat das für Leipzig bislang noch niemand. Doch Thomas Hoscislawski holt das jetzt kenntnis- und bilderreich nach.
Er ist Stadtplaner und seit 1994 im Stadtplanungsamt der Stadt Leipzig tätig, sitzt also direkt an der Quelle. Und er war von Anfang an neugierig auf diesen so dissonanten Abschnitt der Leipziger Baugeschichte. Er wollte nicht nur wissen, was in den 45 Jahren von 1945 bis 1990 alles gebaut wurde, sondern auch warum. Wie fielen eigentlich die Entscheidungen über Abrisse und Neubau? Wer hatte das letzte Wort? Und welche Visionen steckten dahinter? Gab es überhaupt welche?
Hoscislawski teilt die Kapitel seines Buches mal in Fünf-, mal in Zehnjahresscheiben. Was weniger mit den Fünf-Jahr-Plänen der DDR zu tun hat, als mit den markanten Wechseln in den Prioritäten der Baupolitik. Was schon einmal einen der wichtigsten Effekte dieses Buches zeigt: dass es die eine, homogene DDR-Baupolitik nie gab. Manchmal war es ein politischer Wetterwechsel – wie 1953 nach dem Tod Stalins –, der einen Abschied von der damals so genannten „nationalen Bautradition“ möglich machte und den Weg eröffnete für ein tatsächlich modernes Bauen, das auch Anschluss suchte an die Entwicklungen der Moderne im Westen.
Was dann irgendwann auch eine fast kritiklose Übernahme der Charta von Athen mit sich brachte, deren verhängnisvolle Folgen für die Städte der Gegenwart die Teilnehmer des Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) im Jahr 1933 möglicherweise noch nicht ahnen konnten.
Das Erbe von Athen
Wikipedia bringt die verhängnisvolle Wirkung dieser Charta in einem Satz so auf den Punkt: „Die Resultate in der Umsetzung der Charta waren vor allem der veränderte Städtebau und die Auflösung des klassischen Urbanismus durch große Freiflächen und die funktionale Trennung von bebauten Quartieren nach Wohnungen (z. B. Großwohnsiedlungen in Trabantenstädten), Büros, Einkaufsmöglichkeiten, Gewerbe und Industrie, sowie die ‚autogerechte Stadt‘.“
Alles auch in Leipzig umgesetzt. Und zwar nicht nur bis 1990. Das ist die zweite frappierende Erkenntnis, wenn man sich durch das reich bebilderte Buch gelesen hat: Dass viele der Großprojekte, die auch nach 1990 für heftige Diskussionen in der Stadtbevölkerung sorgten, genau aus diesen Zeiten und Plänen stammen. So etwa das von Baubürgermeister Engelbert Lütke Daldrup 1996 wieder mit Tamtam neu inszenierte Ring-Tangenten-System, das die Stadtplaner schon 1970 in ihren Generalbebauungsplan gezeichnet hatten. Dazu gehört auch die massive Verbreiterung des Promenadenrings, die sogar noch früher begonnen wurde, als die Kriegszerstörungen die „einmalige“ Chance ergaben, den Ring radikal aufzuweiten.
Damit verbunden war ein genauso rigides Aufweitungsprogramm für die sternförmig auf den Ring zulaufenden Magistralen. Bis zuletzt wurden dafür noch an der Prager Straße ganze Häuserzeilen abgerissen.
Aber das größte Übel der Charta von Athen war immer, dass sie die Funktionen einer Stadt voneinander trennte – Wohnen hier (in „Wohnmaschinen“, wie es Le Corbusier 1925 schon genannt hatte), Arbeiten am Stadtrand, Einkaufen und Kultur an anderer Stelle konzentriert. Was die nächste Folge für Leipzigs Stadtplanung nach sich zog, die ebenfalls nach 1990 fröhliche Urständ feierte: die Planung in Zentren. Eine Planung, die heute noch immer in der Planung von Stadteil- bzw. Einkaufszentren lebendig ist und jahrzehntelang dazu führte, dass die Leipziger auch ihre Einkäufe mit dem Auto erledigten.
Die Stadt in den Köpfen
Natürlich steckt das heute in den Köpfen. Denn es ist ja gebaute Stadt. Und die heute Lebenden können sich kaum noch vorstellen, dass das in der wirklich kompakten Stadt Leipzig bis zu den Bomben des Zweiten Weltkrieges einmal anders war.
Dass andere Projekte der kompletten Neuplanung der Stadt nicht umgesetzt wurden, ist ein riesiges Glück. Das geht bei der geplanten Komplettverlegung der Universität mit all ihren Einrichtungen an die Straße des 18. Oktober los (und damit der Trennung der Uni von ihrem Platz im Herzen der Stadt) und hört mit der systematischen Devastierung ganzer Stadtteile, die man über Jahrzehnte vernachläsigt hatte, nicht auf. Die bekanntesten Beispiele sind Neustadt-Neuschönefeld/Volkmarsdorf, wo die Abrissbagger 1989 rund ums Rabet schon großflächig ihr Werk getan hatten.
Der Freizeitpark Rabet, wie man ihn heute an Stelle ganzer ehemaliger Häuserblöcke findet, findet sich auch schon in den Planzeichnungen der 1980er Jahre.
Man staunt immer wieder, wie viele Ideen, die nach 1990 aus dem Hut gezaubert wurden, tatsächlich schon aus dem Büro des Chefarchitekten der Stadt Leipzig stammten.
Auch in Connewitz waren ja die Abrissbagger schon am Werk. Für die DDR-Bauwirtschaft war es praktikabler, alte Wohnquartiere komplett abzureißen und dann mit industriell gefertigten Wohnblöcken neu zu bebauen. In Volkmarsdorf und Connewitz sieht man diese Wohnblöcke. In ganz und gar nicht trauter Nachbarschaft mit der 1990 auch durch den Widerstand der Hausbesetzer geretteten Altbausubstanz. In der Biedermannstraße kann man diese Widersprüche in einem sehr kurzen Spaziergang besichtigen.
War Leipzig noch zu retten?
Wobei Thomas Hoscislawski am Ende seiner Reise durch 45 Jahre Leipziger Baugeschichte auch auf die Volksbaukonferenz von 1990 eingeht und den im Herbst 1989 ausgestrahlten Film „Ist Leipzig noch zu retten?“. Der Widerstand gegen die oft rücksichtslosen Umbaupläne der SED-Funktionäre war immer da. Manchmal konnte er sich in Gästebüchern zu Ausstellungen der Stadtplaner äußern, manchmal wurde er in Protesten sichtbar wie 1968 zur Sprengung der Paulinerkirche. Aber 1989 war der marode Zustand der geliebten Altbaubestände auch einer der Gründe, warum die Leipziger protestierend auf die Straße gingen.
Denn bis zuletzt war der Umgang der Planer mit den wertvollen Baudenkmälern der Stadt und insbesondere in der City ein Stein des Anstoßes. Zuletzt war es der Abriss von Deutrichs Hof an der Reichsstraße, der die Gemüter erhitzte. Und der ein weiteres Mal deutlich machte, dass die sozialistischen Baumeister bei der Rettung wertvoller Altbausubstanz immer wieder versagten.
Womit auf den Titel zu kommen wäre, denn der trifft den Nagel auf den Kopf: „Leipzig im Aufbau“. Am Ende ist genau das die Bilanz: 1945 krempelten die Bürger der Stadt die Ärmel hoch und begannen, die Zerstörungen zu beseitigen, Ruinengrundstücke zu beräumen und die ersten wertvollen Gebäude – angefangen mit dem Alten Rathaus – wieder aufzubauen. Leipzig hatte es zwar ab 1943 heftig erwischt – trotzdem war die Stadt deutlich geringer zerstört als etwa Dresden, Nürnberg oder Hamburg.
Und dennoch schaffte es die DDR bis zuletzt nie, die Kriegsfolgen zu beseitigen. Auch die Problematik Wohnungsmangel, der sich ab 1945 wie ein roter Faden durch die Leipziger Geschichte zieht, konnte das Land nie wirklich lösen – auch nicht mit dem riesigen Neubauprogramm von immer neuen Großwohnkomplexen, denen man in Hoscislawskis Buch ab den 1970er Jahren immer dichter gedrängt begegnet.
Das Grundproblem zentralisierter Planung
Doch die Konzentration auf das industrielle Bauen – das zuletzt auch bis in die Innenstadt vordrang – hatte Folgen. Denn dadurch fehlten die Baukapazitäten, all jene Altbaubestände zu erhalten, die 1945 noch weitgehend unversehrt geblieben waren. Deren Vernachlässigung prägte dann 1989 das Stadtbild. Über 20.000 Wohnungen standen in den Büchern der Wohnungsvermittlung, konnten aber nicht vermietet werden, weil sie baupolizeilich gesperrt waren.
Und so waren die Leipziger Planer und Bauarbeiter im Grunde 45 Jahre lang damit beschäftigt, die Stadt wieder aufzubauen. Und das immer mit zu wenig verfügbaren Mitteln. Erst recht, als dann Leipziger Bautrupps auch noch nach (Ost-)Berlin beordert wurden und die Lücke noch weiter aufklaffte. Leipzigs letzter Chefarchitekt Dietmar Fischer nahm dann schon gar kein Blatt mehr vor den Mund. Wobei Thomas Hoscislawski eben mit Kenntnis der Akten auch erzählen kann, dass auch seine Vorgänger durchaus kritische Töne anbrachten in vielen Schreiben an vorgesetzte Planungs- und Genehmigungsinstanzen. Denn auch beim Bauen schlug die völlig sinnfreie Zentralisierung der DDR-Wirtschaft zu.
Wichtige Entscheidungen – gerade was Investitionen betraf – wurden alle in Berlin getroffen. Und bis zuletzt gab es ein Kompetenzwirrwarr zwischen den verschiedenen Leitungsebenen. Was auch zu echter Ressourcenverschwendung führte, wenn langjährige Planungen immer wieder neu aufgeschnürt werden mussten oder Baukapazitäten einfach im Kompetenzgerangel „verschwanden“.
Natürlich steht trotzdem die Frage: Was bleibt? Und es bleibt eine Menge, wenn man sich so durch die Jahrzehnte blättert. Oft auch an überraschender Stelle, weil gerade in den 1980er Jahren verstärkt auch in innerstädtischen Quartieren gebaut wurde – man denke an das Haus des Ministerrats und die Wohntürme im Musikviertel oder die Neubauten rund um die Kreuzstraße. Oder die Bauexperimente in der Westvorstadt.
Virulente Pläne
Und natürlich erzählt Thomas Hoscislawski auch die oft jahrzehntelangen Kämpfe um wichtige Neubauten – wie das neue Gewandhaus am Augustusplatz oder die – zum Glück – nie verwirklichten Pläne am Bayerischen Bahnhof, für die manche Architekten auch bereit waren, das Portal von Europas ältestem Kopfbahnhof zu opfern.
Ein Thema, das die auch in DDR-Zeiten immer virulenten Pläne zu einer Tunnelverbindung vom Hauptbahnhof zum Bayerischen Bahnhof berührt, die dann erst Ende 2013 tatsächlich in Betrieb ging. An manchen Stellen ist man regelrecht froh, dass den kühnen Planern schlichtweg die Mittel fehlten, um ihre Visionen tatsächlich in die Tat umzusetzen. Mit dem System der Hochhäuser rund um den City-Ring, das auf Ideen der 1920er Jahre zurückging, beschäftigten sich die Entwickler der jeweils überarbeiteten Generalbebauungspläne bis zuletzt.
Auch wenn mit dem Wintergartenhochhaus nur eines dieser markanten Höhenzeichen gebaut wurde. Bekanntlich tauchen die wilden Ideen zu weiteren Hochhäusern am Ring bis in die Gegenwart immer wieder auf.
Und so erweist sich die DDR-Zeit ganz und gar nicht als eine Ausnahme in der Leipziger Baugeschichte, sondern in vielen als eine Fortsetzung von Stadtvisionen aus den 1920er und 1930er Jahren – aber auch als eine Auseinandersetzung mit den Bauentwicklungen der Moderne, wobei man selbst schlechte Vorbilder aus westdeutschen Städten (Stichwort: Stadtautobahn) nur zu gern zu realisieren bereit war.
Und der Blick in die Jahre nach 1990 zeigt, dass vieles von dem, was in DDR-Zeiten auf den Reißbrettern der Stadtarchitekten entstand, weitergeführt wurde. Einen tatsächlichen Bruch in der großen Leipziger Stadtplanung gab es in dem Sinn nicht. Auch wenn sich viele Pläne aus DDR-Zeiten zum Glück erledigten. Die Altbausubstanz wurde erstaunlich schnell saniert und gerettet, die Leipziger zogen wieder zurück in die Kernstadt mit ihren echten Wohnqualitäten. Und eine enorme Erleichterung war, dass mit dem Jahr 1990 auch die Bedrohung des Stadtgebietes durch den exzessiven Braunkohleabbau rund um die Stadt endete.
So gesehen ist Hoscislawskis Buch die detailreiche Aufarbeitung eines kompletten Kapitels der Leipziger Baugeschichte. Und dadurch wird es jetzt das, was bislang durchaus vermisst werden durfte: Es ist das Standardwerk zur städtebaulichen Entwicklung in Leipzig von 1945 bis 1990.
Thomas Hoscislawski „Leipzig im Aufbau. Grundzüge der städtebauliche Entwicklung 1945 – 1990“, Pro Leipzig, Leipzig 2023, 38 Euro.
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