Auch Sachsen hat eine Heide, die sich durchaus messen kann mit der Lüneburger Heide. Auch hier lebt es sich – weitab von der Großstadt – sehr abgeschieden, mit Wald und Wiese und Lichtungen. Manchmal auch Sturmschäden. Aber dennoch ist die Dübener Heide ein Refugium, in dem nicht nur die hier Wohnenden Erholung suchen. Stille sowieso. Eher selten dürfte passieren, was der Apothekerin Marielle Rabner beim Spaziergang mit ihrem Hund im Wald geschieht.
Sie ist – auch wenn sie diese Rolle gar nicht wahrnehmen möchte – so etwas wie die Miss Marple in einem Nest, das die Autorin mal lieber Sabnitz genannt hat, auch wenn Sylke Tannhäuser unmissverständlich klarmacht, dass die Dübener Heide ihre Heimat ist.
Ihre bisherigen Kriminalromane hat sie bislang eher in der Stadt Leipzig spielen lasen, wo es ganz zwangsläufig mehr Leute gibt, die auch mit düsteren Absichten durch die Straßen schleichen.
Die Orte in der Dübener Heide sind eher beschaulich. Da und dort findet man sogar noch einen Bäcker, einen Fleischer, gar einen Gasthof, in den Ausflügler gern einkehren. Noch seltener sind Apotheken wie diejenige, die schon über 100 Jahre im Familienbesitz der Rabners ist.
Apotheker aber kennen irgendwann alle Bewohner im Ort, alle Wehwehchen und alle Familiengeschichten. Logisch, dass dann irgendwie auch von Mariella erwartet wird, dass sie den Tod der jungen Frau aufklärt, die sie beim Spaziergang in der Heide gefunden hat.
Harte Nuss für die Ermittler
Schlimm genug: Sie kennt die Tote. Und vieles deutet darauf hin, dass die Ursachen für diesen ganz und gar nicht natürlichen Tod in der näheren Umgebung zu suchen sind. Nur ist der Fall voller Rätsel, wollte doch die Tote vor Jahren als Au pair in die USA, hat sich auch von ihrer Mutter ziemlich radikal getrennt. Doch wie kam dann die Leiche in den Wald? Und wo liegt das Motiv?
Da tappen auch die aus Leipzig und Delitzsch angerückten Ermittler lange, sehr lange im Dunkeln. Auch der ambitionierte Ortspolizist Veit Hütter, der richtig froh ist, dass bei der Leipziger Kripo Personalmangel herrscht und er mitmachen darf in der Mordkommission unter dem bärbeißigen Kommissar Breitmann.
Der alle modernen Mittel der Aufklärung zur Verfügung stehen – von der DNA-Analyse bis zur Fachkenntnis der Insektenspezialistin, die aus Larven und Käfern nicht nur den Todeszeitpunkt herauslesen kann, sondern auch den Ort des Todes, der – kleine Überraschung – mit dem Fundort nicht übereinstimmt.
Und die Tote selbst hat es den Ermittlern erst recht nicht leicht gemacht, denn ihre Reisepläne hatten über ein Jahr dafür gesorgt, dass sie gar nicht vermisst wurde, auch ihre besorgte Mutter keine Vermisstenanzeige aufgab.
Dazu kommt ihre Eigenbrötelei mit Wohnung und Berufsausbildung. Wer sie kannte, erlebte sie als eher abweisend, nur auf sich bedacht. Keine guten Voraussetzungen, um bei einem plötzlichen Verschwinden gleich bei vielen Leuten die Alarmglocken läuten zu lassen.
Und so hat der Fall von Anfang an auch etwas Tragisches, ist mit Schuldgefühlen gespickt – auch bei ihrer Mutter, deren Versuche, Kontakt zur Tochter zu finden, immer wieder an Mauern des Schweigens endeten. Auch wenn sie dem Mörder dabei wohl ebenfalls nahegekommen sein muss, viel zu nahe.
Hinter den schönen Fassaden
Einem Mörder, dem man das Grausame nicht ansieht. Wie das meistens so ist. Gerade in unserer doch in weiten Teilen ziemlich egoistischen und einsamen Gesellschaft. Es gibt so einige Leute, die selbst in dieser scheinbar übersichtlichen Welt am Heiderand, in der jeder jeden kennt, Abgründiges zu verbergen haben.
Da staunt nicht nur Veit Hütter, der anfangs so seine Probleme hat mit den wirklich kargen Ergebnissen seiner Befragungen. Da staunt auch Marielle Rabner, die bei ihren dann doch ziemlich mutigen Ausflügen Dinge erfährt, die sie vorher nicht gedacht hatte.
Menschen geben sich gern einfach und moralisch einwandfrei. Aber wie kann dann im nahen Delitzsch ein Etablissement wie das „Kakadu“ funktionieren, wenn die Männer alle brav und treu und ehrlich sind?
„Das Idyll verbirgt ein Geheimnis“, verspricht der Klappentext. Das Idyll ist ein Trug, war schon immer einer. Menschen wollen sich gern einreden, dass es bei ihnen keine kriminellen Abgründe gibt und tatsächlich jeder jeden kennt.
Was auch mal zu viel werden kann. Denn warum wollte das nunmehr tote Mädchen eigentlich so radikal weg aus Sabnitz? Gar von einer Mutter, die so etwas wie die Bücherfrau des Dorfes ist – immer nett und freundlich, von allen irgendwie gemocht. Auch wenn sich später herausstellt, dass es dann doch an etwas Wichtigem fehlte: dem, was man tatsächlich richtige Freundschaften nennen kann.
Wer aufpasst, merkt es, dass Sylke Tannhäuser diese Selbstsicht eines kleinen Provinzortes ganz sorgsam demontiert. Auch und erst recht die Sicht der Bewohner selbst auf die schöne, friedliche Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt und alle sich sorgen.
Der schöne Schein
Doch am Ende merkt auch Mariella, dass der schöne Schein nicht nur beim Ex-Freund der Toten sehr brüchig ist, sondern auch bei den Honoratioren im Dorf. Hinter der Freundlichkeit lauert so manches, was dann am Ende doch wieder gepflegtes Misstrauen, Standesdenken und Abschottung ist. Alle kennen die Tote.
Aber dann ist es doch die Apothekerin, an die sich die Bitte richtet, zu helfen und den Tod aufzuklären. Am Ende sogar zwei Tode. Denn auch die Truppe um Breitmann tut sich lange schwer, den roten Faden zu finden, der zum Täter führt.
Man könnte ungeduldig werden, denn die ganze Aufregung hätte sich auch in ein paar rappelvolle Tage pressen lassen. Gerade wenn man die in der Regel falschen Forderungen aus diversen Medien kennt, die Polizei müsse schneller ermitteln und den Mörder quasi gleich in den nächsten Tagen fassen.
Aber die meisten Ermittlungen sind langwierig. Gerade dann, wenn sich ein Motiv nicht anbieten will und erst recht nicht klar ist, mit wem die Tote in diesem Fall zuletzt überhaupt zu tun hatte. Da kann die Mordkommission zwar längst ein deutliches Bild vom Tathergang und vom Profil des Mörders haben – wenn die wichtigen Indizien und Hinweise fehlen, wird so eine Ermittlung bald zu einer Suche im Heuhaufen.
In diesem Fall so, dass Mariella Rabner immer wieder dem zuweilen sehr eigenmächtig ermittelnden Veit Hütter über den Weg läuft. Was diesen verwirrt und ärgert – aber dann doch wieder neugierig macht auf diese Apothekerin, die scheinbar keine Scheu hat, auch in einem gefährlichen Mordfall auf eigene Gefahr hin loszuziehen.
Sodass die Dübener Heide nun auch ihren eigenen Krimi hat. Den man vielleicht nicht lesen sollte, wenn man dort einen Erholungsurlaub plant. Es könnte sonst ziemlich gruselig werden auf einsamen Wanderungen in der Heide, wenn einem die Szenen aus dem Buch nicht aus dem Kopf wollen und man überall …
Was knackt da im Unterholz? War da ein Schatten? Steht da wer unter den Bäumen? – Sie wissen schon, wie so etwas wirken kann. Auch wenn man weiß, dass es nur ein Kriminalroman war, an dessen Ende der Mörder natürlich geschnappt wird. Denn darum geht es ja: Das beruhigende Gefühl, dass die Gefahr gebannt wird und der unheimliche Täter vor dem Kadi landet.
Sylke Tannhäuser Heidetod Ruhrkrimi-Verlag, Mülheim an der Ruhr 2023, 14,50 Euro.
Keine Kommentare bisher