Die meisten Reiseführer orientieren auf die Höhepunkte, Sehenswürdigkeiten, Sensationen. Die Orte also, wo alle Leute hin wollen. Oder zumindest all jene, die sich auch noch die Freizeit mit Jubel und Trubel vollpacken. Immerfort geschäftig, immer im Lärm. Aber einer findet das gar nicht erstrebenswert und sucht jenseits des Lärms systematisch die Stille: der Frankfurter Theologe und Schriftsteller Georg Magirius.
In seinen handlichen Ausflugsbegleitern „Stilles Franken“ und „Stilles Frankfurt“ hat er schon geworben für diese bewusste Suche nach den stillen Orten jenseits der lärmenden Gegenwart. Stille ist eigentlich auch das Motiv für diesen neuen Ausflugsratgeber. Auch er führt wieder nach Franken, eine Region, die sich durchaus lohnt, von Sachsen aus zu entdecken. Manches wirkt vertraut. Gerade dann, wenn man gern in Mittelgebirgslandschaften unterwegs ist, an Bächen und Flüssen.
Und die 33 Routen, die Magirius ausgesucht hat, streifen einige der bekanntesten deutschen Mittelgebirge – eigentlich Märchenlandschaften: Spessart, Odenwald, Rhön und Steigerwald.
Räubern begegnet man keinen. Und Ritter sind auch keine mehr unterwegs. Ihre Burgen stehen noch da – etliche als Ruine. Viele kleine Kirchlein mit barocken Hauben. Und mit Tilman Riemenschneider und Veit Stoß begegnet man zwei der berühmtesten Künstler aus der Reformationszeit. Wobei es Georg Magirius gar nicht so sehr um Kirchen, Klöster und Kapellen geht, auch wenn er an einer Stelle empfiehlt, in die Kirche zu flüchten, wenn’s draußen zu laut ist.
Auf Rückerts Spuren
Denn die Begegnung mit der Stille ist auch in Franken nicht ganz so einfach. Man muss sie suchen. Manchmal fahren Züge, manchmal Busse hin. Man muss nur rechtzeitig aussteigen und den Schildern auf den Wanderweg folgen. Den berühmtesten streift Magirius im Kapitel 24, wo es in den Ottenhausener Grund geht. Untertitel: „Ruhe ohne Ende“.
Man ahnt, wie ihn der Lärm der Großstadt nervt, wie er innerlich aufatmet, wenn er herauskommt aus dem Trubel und in so ein rechts und links von Wald bestandenes Tal gelangt, durch das sich ein Bach schlängelt und wo die Wiese am Waldrand zu enden scheint. Was trügt, denn dahinter tut sich die nächste Wiese auf und die nächste.
Da geht man von ganz allein langsamer, beginnt auf die Blumen zu achten und die Stille in sich einzusaugen. Und nach 5 Kilometern trifft man auf den Friedrich-Rückert-Weg. Der ist 143 Kilometer lang und verbindet die Lebensstationen des Dichters, Übersetzers und Begründers der deutschen Orientalistik Friedrich Rückert miteinander.
Von Schweinfurth, wo Friedrich Rückert 1788 geboren wurde, führt er bis Neuses bei Coburg, wo Rückert 1866 starb. Und der Weg ist nicht einfach nur so entstanden, weil Rückert ein berühmter Dichter war, sondern weil er – genauso wie der Leipziger Syrakus-Wanderer Seume – seine Wege am liebsten zu Fuß zurücklegte. Und auch gern aus der mit 4 km/h hinzockelnden Postkutsche ausstieg, weil die ihm zu langsam war. Ein Seelenverwandter also auch für den wandernden Georg Magirius. Obgleich er in diesem Fall nur ein kleines Teilstück des Friedrich-Rückert-Weges entlang läuft.
Drunten und droben
Sowieso sind seine Wanderungen alle recht überschaubar und an einem Tag locker zu schaffen. Genau das, was man leicht dazwischenschalten kann, wenn einem die lärmende Großstadt auf den Keks geht und man sich einfach mal in den nächsten Zug setzt, um hinauszukommen. Was selbst von Frankfurt aus gut möglich ist. Die Namen der Zielstationen verraten schon, dass es dort beschaulich wird: Neustadt am Main, Rothenfels, Sinngrund …
Dieses Tal heißt freilich nicht so, weil man da besonders gut sinnen kann, sondern weil das Flüsschen so heißt, das da fließt. Wobei sich das fast wie von selbst ergibt, wenn man durch Täler wandert: eine Quelle und ein Flüsschen finden sich da immer. Und ein Weg, der auf die nächste Anhöhe führt, auch.
Denn das sind die beiden Pole, die gerade Magirius immer wieder anstrebt: das Murmeln des Wassers im Talgrund und die faszinierende Aussicht von oben – meist auf eine ganze Landschaft sich bis in die Ferne fortpflanzender Berge. Einmal findet er da oben auch ein Staubecken für ein Pumpspeicherwerk der Deutschen Bahn. Ein durchaus exklusives Erlebnis: ein riesiger See oben auf dem Berg – und die weite Aussicht über die Landschaft darunter.
Dass Wasser und Aussicht für ihn auch die offenherzige Begegnung mit dem Dasein selbst sind, wird schon beim Start seiner Touren klar, wenn er im Spessart über artenreiche Wiesen zur Kahlquelle wandert und das Kapitel betitelt mit: „Der Weg zum Ursprung“. Und dabei beschreibt er die jeweilige Tour nicht nur und sagt, wie man an den Startpunkt kommt. Er stimmt mit be-sinnlichen Gedanken auf das jeweilige Zu-Fuß-Erlebnis ein. Und manchmal auch auf die Atmosphäre des Tages, an dem er unterwegs war.
Mitten in der Welt
Denn im Frühling zeigen sich die kleinen Orte in den Tälern natürlich ganz anders als etwa im Herbst, wenn die Bäume schon ihre Blätter verloren haben. So schaut er auf das scheinbar über dem Fluss schwebende Schloss Homburg, auf alte Mühlen oder die Wasserkaskaden in der Klingelbachschlucht bei Triefenstein. Da fühlt er sich fast wie im Märchen. Und empfindet ein wenig nach, wie sich die Menschen gefühlt haben dürften, als sie noch nicht in Automobilen durch die Welt eilten, als wäre Zeit nicht nur Geld, sondern immer auch verlorenes Geld.
Denn etwas anderes treibt ja die Neuzeitbewohner nicht zu dieser lärmenden Hatz als die tief sitzende Angst, nicht genug Silberlinge gesammelt zu haben.
Dass das Leben dabei vorbeirauscht und man nicht mehr zur Besinnung kommt – das kümmert nur die, die gemerkt haben, wie ruhelos, krank und nervös diese Jagd nach dem goldenen Glanz macht. Und dass man da eigentlich nicht mehr zu sich selbst kommt, zu eigenen Gedanken, Emotionen, Freuden. Und so, wie Magirius die jeweilige Wanderung schildert, ist jede eine Art eines Ankommens ein Hinlaufen zu dem Moment, an dem man wieder staunend auf die Welt schaut. Und merkt: Man ist selbst da. Hier und jetzt. Ganz wie in dem meist gar nicht verstandenen Vers von Goethe: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“
Denn das kannte auch Goethe schon, dieses von täglichen Geschäften Getriebensein, die permanente Beanspruchung durch Leute, die einem den Tag rauben. Und am Tagesende bleibt dann nur Leere und der wattige Gedanke: Was hast du heute eigentlich erlebt?
Grenzen überschreiten
Es bleibt nichts haften in dieser täglichen Hatz, weil nichts tief geht. Und weil man so nicht einen Moment staunend in der Welt stand, wie es Magirius in „Wein und Wald“ bei Ebersberg ging oder beim Aufstieg zu Maria Limbach im Steigerwald: „Marterfreie Erhöhung“. Oder beim fröhlichen Überschreiten von Ländergrenzen im Dreiländereck im Odenwald, die nicht ganz zufällig hier sind, denn hier verläuft auch der Limes, von dem man einzelne Relikte auf dem Limesweg entdecken kann.
Jeder Weg ist ein Beginn und führt zu anderen Wegen. Das ist eigentlich das Beruhigende an diesen 33 Tipps, die eben anders als die üblichen Reiseführer nicht das Ziel für das Erstrebenswerte erklären, sondern das Unterwegssein. Denn wer im Spaziergängertempo unterwegs ist, kommt wieder zu sich selbst. Es ist auch das Tempo, in dem sich am besten denken lässt. Und bei dem keine Bremsen quietschen und kein Stau entsteht, wenn man einfach mal stehen bleibt und eine Wiese mit Schachblumen bestaunt. Oder sich auf die Rundbank unter der 250-jährigen Eiche setzt und genießt, dass man so völlig zwecklos in die weite Landschaft schauen kann.
Noch einmal Faust zitieren muss man ja nicht. Der hat zwar etwas begriffen auf dem Osterspaziergang, kam aber bekanntlich weder zur Ruhe noch zur Besinnung. Und als er dazu endlich am Ende der Tragödie kam, war es zu spät.
Auch das ist so eine Botschaft, die in diesen kleinen Wandertouren in Franken steckt: Geh lieber los, bevor es zu spät ist.
Georg Magirius „FrankenFreude. 33 überraschend schöne Orte“, Echter Verlag, Würzburg 2023, 14 Euro.
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