Es ist eine verflixte Geschichte. So wie eigentlich alle Erzählungen von Herman Melville – von seinen Südseeromanen „Typee“ und „Omoo“ bis zum großen Waljäger-Epos „Moby Dick, der weiße Wal“. So verflixt, dass sich die Leser nach und nach abwandten von Melville, dessen frühe Romane noch als Abenteuerromane gelesen werden konnten. Und dann – gleich nach „Moby Dick“ – dann der noch viel verflixtere „Bartleby“.
1853 zum ersten Mal veröffentlicht – also lange vor den Texten eines Franz Kafka. Nur dass Herman Melville (1819–1891) die Sache aus der entgegengesetzten Perspektive erzählt – der des Anwalts, der seine Schreiber noch gern so „väterlich“ behandelt, wie man es in diesem Metier immer gewohnt war. Durchaus auch mit einem gewissen Verständnis für ihre Marotten. Und anfangs scheint es ja nur eine Marotte zu sein, als Bartleby, der bis dahin diszipliniert die ihm zur Abschrift gegebenen Dokumente kopiert hat, nun auf einmal auf ein Ansinnen seines Chefs mit dem bis heute verwirrenden „Ich möchte lieber nicht“ antwortet.
Und dann tatsächlich fortan nicht nur jede weitere Bitte um bestimmte Aufgaben auf diese Weise ablehnt, sondern sogar bald darauf auch seine Abschreibearbeit einstellt und ganz und gar zum untätigen Bestandteil der Kanzlei wird. Was nicht nur seine Kollegen aufregt, sondern auch den Erzähler immer wieder an die Grenze seiner Geduld bringt. Auf den ersten Blick ist „Bartleby, der Schreiber“ also eine Geschichte über einen Angestellten, der seinen Boss mit einer friedlichen und geradezu verwirrenden Strategie der Arbeitsverweigerung auf die Palme bringt.
Verloren in der Welt
Im Lauf der Erzählung findet der Erzähler immer mehr heraus über seinen seltsamen Angestellten, entdeckt, dass er das Büro quasi zu seiner Wohnung gemacht hat und selbst mit Bestechung nicht daraus zu vertreiben ist. Sogar ein kompletter Auszug der ganzen Kanzlei nützt nichts. Das Problem Bartleby bleibt ihm erhalten, denn sein Nachmieter und der Hausbesitzer kommen noch viel weniger mit diesem Burschen klar, der einfach beschlossen hat, in diesen Räumen zu bleiben. Ohne zu erklären, warum, was er damit bezweckt, ob er für andere Angebote offen wäre. Jeder Vorschlag endet mit diesem entwaffnenden Satz: „Ich möchte lieber nicht.“
Und Generationen von Literaturkritikern haben versucht, in diese Geschichte alle möglichen Deutungen hineinzulegen. Sie gar symbolisch aufzuladen und die Entfremdung der modernen Arbeitswelt darin zu sehen und die Verlorenheit des Subjekts darin.
Aber wer mit heutigen Augen die Übersetzung von Karl Lerbs aus dem Jahr 1946 liest, der sieht natürlich auch, dass Bartleby tatsächlich auch psychisch leidet. Dass hinter seinem „Ich möchte lieber nicht“ auch ein Verlust von Lebenswille steckt. Stunden-, eigentlich tagelang starrt er nur aus dem Fenster, das keine andere Aussicht zeigt als die Brandmauer des dicht davor stehenden Nachbarhauses. Ganz offensichtlich hat er keine Angehörigen, keine Familie, kein anderes Leben.
Und er ernährt sich schlecht. Oder gar nicht. Denn als er am Ende ins nächste Gefängnis abgeführt wird, wird er bald vom Erzähler selbst tot aufgefunden. Als hätte Bartleby mit seinem „Ich möchte lieber nicht“ nicht nur die Arbeit gemeint oder das Verlassen des schäbigen Bürohauses, sondern sein eigenes Leben.
Ein unmögliches Nein
Doch da er darüber nicht spricht, bleibt sein Chef ratlos zurück, würde gern helfen, weiß aber nicht wie. Womit er natürlich auch die Ratlosigkeit einer Gesellschaft erzählt, die mit Menschen, die psychisch krank sind, nicht umgehen kann. Auch, weil sie das Ethos des fleißigen Arbeitens und der permanenten Verfügbarkeit verinnerlicht haben. Und dieser Bartleby gibt dem einfach eine freundliche, aber eindeutige Absage.
Und nimmt dabei etwas für sich in Anspruch, das in einer von Wettbewerb, Leistungsdruck und verinnerlichter Arbeitsmoral scheinbar keine gültige Währung mehr ist: Sich als Individuum zu behaupten und all das, was er nicht möchte und nicht (mehr) will, einfach abzublocken. Der Spruch wirkt sogar ansteckend. Das merken auch seine Kollegen. Denn da steckt etwas drin, was scheinbar keinen Platz hat in der modernen Leistungsgesellschaft, die sich damals längst ausgeformt hatte, auch wenn sie noch nicht so smart und werbewirksam daher kam.
Und da beharrt dieser Bartleby darauf, dass er nicht mehr mitmachen möchte. Auch wenn er ganz offensichtlich nicht weiß, was er eigentlich möchte, außer ungestört in seiner Ecke zu stehen und aus dem Fenster auf die Wand des Nachbarhauses zu starren.
Der Schatten Gogols
Eine frappierend heutige Geschichte, die der Verlag hier für den nächsten Band der „Edition de Bagatelle“ herausgesucht hat, die dadurch ihre Besonderheit erlangt, weil Kunststudierende aus Leipzig und Hamburg diese Erzählungen illustrieren. In diesem Fall die in Hamburg studierende Buchillustratorin Andrea Wandinger, welche die Figuren aus Melvilles Erzählung fast wie Gestalten aus Gogols 1842 erschienenem Roman „Die Toten Seelen“ gezeichnet hat.
Und es gibt noch eine Verbindung. Denn auch Nikolai Gogol hatte so einen „Ich möchte lieber nicht“-Moment. Kurz zusammengefasst auf Wikipedia: „Über Gogols Tod gibt es mehrere Gerüchte. Nach der allgemein akzeptierten Version ging Gogol am 18. Februar 1852 zu Bett und hörte auf zu essen.“
Das war fast zu der Zeit, als Melville im fernen Amerika seine „Bartleby“-Geschichte niederschrieb. Seine Zeitgenossen standen genauso ratlos vor diesem Rätsel, wie es der Erzähler in Melvilles Geschichte gegenüber diesem seltsamen Bartleby ist. Am Ende scheint Bartlebys frühere Beschäftigung in der Abteilung für unzustellbare Briefe bei der Post eine mögliche Lösung für das Rätsel seines Verhaltens anzubieten. Hat Bartleby da seine Lebenslust verloren? So recht zufrieden scheint auch der Erzähler mit dieser Deutung nicht, auch wenn er mit dem Seufzer endet: „Oh, Bartleby! Oh, Menschentum!“
Oder ist das gar ein Versuch Melvilles, sein eigenes Schreiberdasein in eine Parabel zu fassen, wie die englische Wikipedia als Deutung anbietet? – „Bartleby ist ein Schriftsteller, der verkümmert und stirbt, weil er sich weigert, andere Schriftsteller zu kopieren.
Genauer gesagt wurde er als ein Kopist beschrieben, ‚der sich hartnäckig weigert, weiterhin die Art von Schreiben zu liefern, die von ihm verlangt wurde.‘ Im Frühjahr 1851 fühlte sich Melville ganz ähnlich bei seiner Arbeit an ‚Moby-Dick‘. Bartleby könnte also Melvilles Frustration über seine eigene Situation als Schriftsteller repäsentieren, und die Geschichte handele also ‚von einem Schriftsteller, der konventionelle Methoden aufgibt, weil er sich unwiderstehlich mit den verwirrendsten philosophischen Fragen beschäftigt‘“, vermutet der Wikipedia-Beitrag mit Hinweis auf Leo Marx’ „Melville’s Parable of the Walls“.
Ach statt Oh!
Das passiert also, wenn begnadete Autoren neue Welten des Erzählens betreten und dabei an den verwirrenden Kern des Menschseins geraten, der ja nicht nur Autoren zuweilen ratlos macht. Übersetzer übrigens auch.
Denn im Englischen gibt es am Ende kein Staunen des zutiefst verwirrten Erzählers. Melville endet mit den Worten: „Ah Bartleby! Ah humanity!“
Da ist kein Menschentum herauszulesen. Da war Karl Lerbs, der übrigens noch im Jahr seiner Übersetzung starb, zu sehr vom Sprachgetümel des gerade überlebten NS-Reiches angefixt. Selbst Google translate übersetzt das treffender und mächtiger als tiefen Seufzer: „Ach Bartleby! Ach Menschlichkeit!“
Da wird das ganze Mitleid mit diesem seltsamen Menschen spürbar, der sich am Ende allem verweigert und dabei nie ausfällig wird, sondern stets bei sich bleibt und seinen ganz eigenen Wunsch deutlich macht, wenn er sagt: „Ich möchte lieber nicht.“
Und zwar so beharrlich, dass man sich mit Recht fragt: Sollte man das selbst nicht viel häufiger sagen, wenn einem Dinge zugemutet werden, die man tatsächlich nicht will und nicht gut findet? Also auch die Berge von Zumutungen einer Gesellschaft, die im Zeichen des Profits auch die simpelsten und einfachsten menschlichen Wünsche nach einem In-Ruhe-gelassen-Werden ignoriert? Noch so ein Faden aus der Geschichte, über den man nachdenken kann, nachdem Bartleby friedlich im Gras des Gefängnishofes der Welt entschlafen ist.
Herman Melville „Bartleby, der Schreiber“, Faber & Faber, Leipzig 2023, 20 Euro.
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